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Tagesanbruch: Die Impfpflicht-Pläne klingen unklug


Tagesanbruch
Neue Impfpflicht-Pläne: Das klingt nicht klug

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 24.01.2022Lesedauer: 6 Min.
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Ein Intensivpfleger auf einer Covid-19-Station in Dresden (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Ein Intensivpfleger auf einer Covid-19-Station in Dresden (Archivbild). (Quelle: Robert Michael/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, lautet ein geflügelter Satz. Manchmal bekommt aber auch Probleme, wer zu früh dran ist. In welche Bredouille Politiker geraten, die sich vorschnell aus dem Fenster gelehnt haben, zeigt sich in diesen Tagen am Beispiel der Debatte um die Impfpflicht. Unter dem Druck der vierten Infektionswelle und der stockenden Impfzahlen sprachen sich Vertreter der Bundesregierung im November für die allgemeine Impfpflicht aus, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD. Justizminister Marco Buschmann wiederum, dessen FDP in Teilen von Anfang an skeptisch war, kündigte Gruppenanträge ohne Fraktionszwang im Bundestag noch für Januar an, damit das Gesetz im März in Kraft treten könne.

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Nun haben wir Ende Januar und mit den Vorbereitungen tun sich die Parlamentarier so schwer, dass der Chor der Kritiker immer lauter tönt. Es gibt einen ablehnenden Antrag von Abgeordneten um den FDP-Querkopf Wolfgang Kubicki und seit Kurzem einen zweiten Antrag von Koalitionspolitikern um den stellvertretenden SPD-Fraktionschef Dirk Wiese. Letzterer sieht eine auf ein oder zwei Jahre befristete Impfpflicht mit maximal drei Dosen für alle Erwachsenen vor, die im Sommer in Kraft treten soll. Dass dieser Plan genügt, um die Impfquote hierzulande deutlich zu heben, bezweifeln jedoch selbst Mediziner.

Das hat vor allem einen Grund: Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass Deutschland leider kein Impfregister besitzt, dass der ausufernde Datenschutz ein solches auch kaum zuließe und dass ein Gesetz, das sich folglich gar nicht konsequent durchsetzen lässt, bei so einem kontroversen Thema wie dem Impfen schnell zum Rohrkrepierer werden könnte. So würde die Glaubwürdigkeit der Politik beschädigt, was in der aufgeheizten Corona-Lage misslich wäre. Innenministerin Nancy Faeser von der SPD antwortete kürzlich in einem Interview auf die Frage, wie die Impfpflicht durchgesetzt werden solle: "Es wird irgendeine Form von Sanktion geben müssen, vielleicht Bußgelder." Irgendeine. Vielleicht. Na dann.

Schauen wir auf die Fakten: Um wie viele Menschen geht es überhaupt? Als gefährdet gelten vor allem Leute im Alter von über 60 Jahren, weil sie ein besonders hohes Risiko für schwere Verläufe oder gar den Tod durch Covid-19 haben. Rund drei Millionen Menschen aus dieser Altersgruppe sind immer noch ungeimpft. Um die geht es. Sie landen überproportional häufig auf den Intensivstationen, was dort für Engpässe sorgt. Vor allem ihretwegen diskutiert das ganze Land über die allgemeine Impfpflicht. Drei Millionen von 83 Millionen Einwohnern: Sind das viele oder wenige?

Die Weltgesundheitsorganisation rechnet damit, dass sich in den kommenden sechs Wochen mehr als die Hälfte aller Menschen in Europa mit Omikron infizieren wird – und die allermeisten werden allenfalls leichte Krankheitssymptome verspüren. In seiner milderen Variante wird das Virus endemisch. Es wird zu unserem ständigen Begleiter, so wie auch viele andere Viren, wie meine Kollegen Hanna Klein und Adrian Röger zeigen.

Corona bleibt bedrohlich, keine Frage. Doch die Bedrohung ist im Vergleich zur Situation vor sechs oder zwölf Monaten erheblich gesunken – trotz der hohen Inzidenzzahlen, die nun in jeder Nachrichtensendung hoch und runter berichtet werden. Wer in dieser Lage immer noch die Impfung verweigert, mag zwar in den Augen der Mehrheit unlogisch oder sogar egoistisch handeln. Aber nicht jeder ist zwangsläufig ein "Spinner" oder gar ein "Extremist". "Schuldzuweisung und Ausgrenzung mögen uns psychologisch entlasten. Die Corona-Krise, die inzwischen eher eine gesellschaftliche als eine gesundheitliche ist, werden wir damit nicht lösen", schreibt der Soziologe Alexander Zinn in der "Berliner Zeitung".

Wie könnte also ein vernünftiger Mittelweg aussehen? Beschäftigte in Kliniken, Praxen und Pflegeheimen müssen selbstverständlich geimpft sein, weil sie andernfalls Menschen mit angeschlagener Gesundheit gefährden. Die berufsbezogene Impfpflicht ist bereits beschlossen und soll eigentlich ab Mitte März gelten. Umso seltsamer mutet es an, dass mehrere Ministerpräsidenten nun auf ihre Verschiebung drängen. Sie wollen die Einführung des neuen Totimpfstoffs vom Hersteller Novavax Ende Februar abwarten. Denn dann könnten sich viele Pflegekräfte, die partout kein mRNA-Vakzin von Biontech oder Moderna im Blut haben wollen und mit Kündigung drohen, womöglich doch noch impfen lassen – was bei zwei Dosen allerdings wochenlang dauern würde. Endgültigen Schutz in Krankenhäusern und Pflegeheimen gäbe es dann womöglich erst im Frühsommer. Klingt nicht klug.

Die Lage ist heikel, und einen einheitlichen Kurs aus der Krise gibt es zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie immer noch nicht. Es liegen also brisante Fragen auf dem Tisch, wenn sich der Kanzler heute mit den Ministerpräsidenten zur Bund-Länder-Runde zusammenschaltet. Dabei ist der Weg zur Vernunft womöglich gar nicht so schwer zu finden. So könnte er aussehen: Neben Beschäftigten in Kliniken und Heimen werden auch alle Bürger über 60 der Impfpflicht unterworfen. Die Meldeämter weisen sie in Briefen darauf hin. Wer sich dann immer noch weigert, muss mit dem Bewusstsein leben, ein Gesetzesbrecher zu sein. Das mag nicht jeden Ungeimpften bekehren. Aber wenigstens wissen dann alle anderen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Auch das kann eine gesellschaftliche Wirkung haben. Und sie käme wohl gerade noch rechtzeitig.


Nachhilfe in Geschichte

Auch heute sind in vielen Städten Demonstrationen gegen Corona-Regeln und die Impfpflicht angekündigt. Vermutlich werden dabei auch wieder Aufnäher mit gelbem Judenstern und dem Wort "Ungeimpft" zu sehen sein, als sei die Corona-Politik mit der Judenverfolgung durch das NS-Regime vergleichbar. Für alle, die solchen Provokationen von "Querdenkern" und "Spaziergängern" bislang achselzuckend gegenüberstanden, bieten sich heute gleich zwei Gelegenheiten zur Geschichtsnachhilfe: Der herausragende Film "Die Wannseekonferenz" rekonstruiert auf erschütternd sachliche Weise, wie SS-Männer und Beamte vor 80 Jahren den Massenmord an den europäischen Juden organisierten. Er läuft um 20.15 Uhr im ZDF und steht auch in der Mediathek. Die ARD-Dokumentation "Folterkeller im Wohnquartier", über die mein Kollege Marc von Lüpke berichtet, offenbart Verliese, in denen die Nazis ihre Gegner quälten. Wer die Impfpflicht mit den Gräueln der Nazis gleichsetzt, hat nicht alle Tassen im Schrank.


Präsidentenwahl in Italien

Immerhin: Silvio Berlusconis Comeback bleibt den Italienern erspart. Doch wer Nachfolger des scheidenden Staatspräsidenten Sergio Mattarella werden soll, ist nun vollkommen unklar. Offizielle Kandidaten gibt es für diese Wahl traditionell nicht, und bislang zeichnet sich nicht ab, auf wen sich eine Mehrheit verständigen kann – auch wenn einige Medien Ministerpräsident Mario Draghi als Favoriten handeln. Wenn heute in Rom die zwei Parlamentskammern mit Vertretern der Regionen zusammenkommen, um das neue Staatsoberhaupt zu küren, ist in den ersten drei Auszählungen eine Zweidrittelmehrheit nötig; danach reicht die absolute Mehrheit. Weil jedoch pro Tag nur ein Wahlgang vorgesehen ist, dürfte der neue Präsident frühestens am Donnerstag feststehen.

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Was lesen?

Haben Sie auch die vielen Stellengesuche gesehen? Um die Impfpflicht im Gesundheitswesen zu stoppen, versuchen ungeimpfte Pflegekräfte den Eindruck eines Massenexodus zu erwecken. Dabei geht es nicht mit rechten Dingen zu, berichtet unser Rechercheur Lars Wienand.


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Der Mann rechts im Bild stand zwar nicht im Rampenlicht, war aber für die Beatles mindestens ebenso wichtig wie die vier Musiker. Warum, lesen Sie auf unserem Historischen Bild.


Was amüsiert mich?

Am Ende zählen gute Argumente.

Ich wünsche Ihnen einen produktiven Wochenbeginn.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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