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Wladimir Putin hat sich verkalkuliert – ist aber verrückt nach mehr


Tagesanbruch
Verrückt nach mehr

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 10.03.2022Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Was geht in seinem Kopf vor?: Wladimir Putin bei einem Termin im Kreml.Vergrößern des Bildes
Was geht in seinem Kopf vor? Wladimir Putin bei einem Termin im Kreml. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

vor zwei Wochen überfiel die russische Armee die Ukraine. Am 15. Tag des Krieges stellt sich mehr denn je die Frage: Wofür all das Blutvergießen, all das Leid, all die Zerstörung? Nach unseren Maßstäben gibt es darauf keine plausible Antwort.

Es spricht zwar einiges dafür, dass Russland diesen Krieg militärisch irgendwie gewinnt. Aber es deutet inzwischen eben auch vieles darauf hin, dass Wladimir Putin politisch nicht triumphieren kann. Sein Ziel lautete, Russland durch einen schnellen Sieg zu alter Stärke zurückzuführen – und den Westen einzuschüchtern. Inzwischen kann der Autokrat froh sein, wenn die schlecht geplante Invasion nicht dazu führt, dass am Ende seine Macht implodiert. Denn die basiert vor allem auf Angst – vor ihm und dem Militär.

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Putin verachtet Michail Gorbatschow, weil mit dessen Ära die Sowjetunion endete. Doch nun riskiert er sogar den Zerfall Russlands. Die Folgen der westlichen Sanktionen sind schon jetzt so schlimm, dass das Riesenreich ökonomisch um Jahrzehnte zurückgeworfen werden könnte. Und in vielen Teilen der Welt hat sich ein derart tiefes Misstrauen eingenistet, dass es noch 2050 die Haltung gegenüber Moskau prägen dürfte.

Beträchtliche Fehlkalkulationen, verheerende Folgen: Putins Ukraine-Invasion könnte sich dereinst als einer der größten Irrtümer der Weltgeschichte erweisen. Häme darüber verbietet sich. Dafür ist das menschliche Leid zu groß. Und der Krieg zu sinnlos. Trotzdem suchen wir natürlich nach Erklärungsmustern für Putins Handeln. Manch einer glaubt, der Herrscher im Kreml sei einfach verrückt, nicht mehr zurechnungsfähig.

Ob das stimmt, kann außerhalb des innersten Zirkels kaum jemand wirklich beurteilen. Dass viele dennoch der "Mad Man in Moscow"-Theorie anhängen, ist nachvollziehbar. Putin aus der vernunftgeleiteten Gedankenwelt auszuschließen, macht diesen Krieg zumindest ein klein wenig erklärbarer. Aber es kann eben auch sein, dass CIA-Direktor William Burns recht hat. Er sagte am Dienstag, der russische Präsident sei zunehmend isoliert und in seinen Ansichten verhärtet. Das mache ihn jedoch nicht zu einem Verrückten.

Gut möglich also, dass Putin nicht im Sinne einer psychischen Krankheit verrückt ist, aber eben verrückt nach mehr: mehr Einfluss in Osteuropa, mehr Macht in Russland, mehr Respekt des Westens. Er hätte sich in diesem Fall zwar mit dem Ukraine-Krieg noch immer grob verkalkuliert. Aber nicht wegen seines vermeintlichen Irrsinns, sondern aufgrund von gedanklichen Fehlern, die durchaus verbreitet sind.

Dazu gehört, dass Menschen gern aus der Vergangenheit oder Gegenwart auf die Zukunft schließen. Vereinfacht gesagt gehen sie häufig davon aus, dass es schon immer so weitergehen wird, wie es ist und war.

Wer einen anderen provoziert, ohne dass es eine echte Gegenwehr gibt, neigt eher dazu, seine Attacken zu verschärfen. An einem gewissen Punkt kommt es aber zu einer abrupten Gegenreaktion. Denn irgendwann reicht es jedem. Bei Putin und dem Westen dürfte es ähnlich gewesen sein. Aus dem Kaukasuskrieg 2008 hielten sich die Europäer und Amerikaner heraus, aus dem Syrien-Konflikt ebenfalls. Auch die Sanktionen nach der Annexion der Krim 2014 waren überschaubar. Der Bau von Nord Stream 2 startete sogar erst danach.

Warum also nicht die Lage weiter eskalieren? Dass die Reaktion auf eine Invasion der Ukraine heftiger ausfallen würde, wird Putin klar gewesen sein. Was ihn allerdings überrascht haben dürfte, ist das Ausmaß der Gegenmaßnahmen. Binnen weniger Tage wurde Russland zum am meisten sanktionierten Staat der Welt.

Hinderlich für eine realistische Einschätzung der Lage war sicherlich auch, dass Putin derzeit der prominenteste Verschwörungstheoretiker ist. Das Gedankengebilde, auf das er sich versteift hat, lässt sich grob so beschreiben: Der Nationalstaat Ukraine hat kein Existenzrecht, weil es ihn eigentlich gar nicht gibt. Zum Leidwesen der Bevölkerung wird der Pseudostaat auch noch von Drogenabhängigen und Nazis regiert. Entsprechend sind die Ukrainer höchst erfreut, wenn das russische Brudervolk sie von diesem Schrecken erlöst.

Menschen, die sich, ihr Land und ihre Freiheit verteidigen, kommen in dieser Welt natürlich nicht vor. Und es gab vermutlich auch in Putins Umgebung niemanden, der nachhakte. Wahrscheinlich weil seine Entourage die Erfahrung gemacht hat, dass sie am besten durch den Tag kommt, wenn sie brav nickt. Fragen mit einem Bezug zur Realität gibt es dann natürlich nicht. Etwa: "Chef, bist Du sicher, dass der jüdische Präsident der Ukraine ein Nazi ist?"

Dass offenbar niemand widersprach, hat sicherlich mit zum Krieg beigetragen. Und wohl auch, dass Putin nicht der einzige Mensch auf dieser Welt ist, dem es schwerfällt, eine zentrale Lebensweisheit zu befolgen: Was auch immer du tust, handle klug und bedenke das Ende!

Mach dir stets die Konsequenzen deines eigenen Handelns klar – den meisten dürfte bewusst sein, dass das eine schlaue Arbeitsanweisung ist, um halbwegs unbeschädigt durchs Leben zu kommen. Aber es ist eben leichter, anderen diese Handlungsmaxime mit auf den Weg zu geben, als sie selbst zu befolgen.

Beispiele dafür kennt wohl jeder zuhauf. Interessant ist, dass es sie auch bei Menschen gibt, die eigentlich alles durchdenken. So wie Angela Merkel. Als sie im Oktober von der "Süddeutschen Zeitung" gefragt wurde, ob der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble nicht einen besseren Abschied aus der Politik verdient hätte als ein Leben als Hinterbänkler, antwortete Merkel: "Ich glaube, dass Wolfgang Schäuble auf ein sehr erfülltes politisches Leben zurückblickt. Ich habe von ihm einiges gelernt, unter anderem den Spruch 'respice finem' – bedenke das Ende." Das war ein Seitenhieb darauf, dass sie im Gegensatz zu Schäuble ihren Rückzug rechtzeitig geregelt hatte.

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Bedenke das Ende – zu diesem Ratschlag gäbe es angesichts von Putins Krieg allerdings auch viele Fragen an Merkel. Es waren ihre Regierungen, die einen Nato- und EU-Beitritt der Ukraine blockierten. Es waren ihre Regierungen, die dachten, der russische Präsident lasse sich mit diplomatischer Rederei schon einfangen. Und es waren ihre Regierungen, die Deutschlands Abhängigkeit von russischer Energie eher noch steigerten als reduzierten. (Zu den Versäumnissen der Ära Merkel sollten Sie auch das Interview meines Kollegen Marc von Lüpke mit dem Militärhistoriker Sönke Neitzel lesen.)

All das ist natürlich nicht in böser Absicht passiert. Aber es gab so offensichtliche Berliner Fehlkalkulationen, dass diese den Autokraten in Moskau mit dazu veranlasst haben dürften, seine eigene Lage völlig falsch einzuschätzen. Das ist die triste, bittere Ironie dieser Geschichte.

Gibt es doch eine Chance auf Frieden?

Heute treffen sich die Außenminister Russlands und der Ukraine in der Türkei. Am Mittwoch gab es zarte Signale der Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. Die Ukraine will nicht länger auf einer Nato-Mitgliedschaft beharren. Und Russland behauptete, es plane gar keinen Umsturz der Regierung in Kiew.

Ob daraus für Sergej Lawrow und Dmytro Kuleba tatsächlich so etwas wie eine Gesprächsbasis erwächst, muss sich allerdings erst zeigen.

Wie reagieren EU und EZB?

Beim informellen EU-Gipfel, der am späten Nachmittag beginnt, wollen die Staats- und Regierungschefs darüber beraten, wie die EU unabhängiger werden kann – vor allem in den Bereichen Energie und Verteidigung.

Am frühen Nachmittag tagt der Rat der Europäischen Zentralbank. Die Notenbanker stehen vor einer schwierigen Entscheidung: Angesichts der hohen Inflation wäre eine baldige Zinserhöhung angebracht. Gleichzeitig verdüstern sich durch den Ukraine-Krieg die Konjunkturaussichten.

Wie stark die deutsche Wirtschaft von der Krise betroffen ist, zeigt eine Umfrage des Außenhandelsverbands BGA, die am Vormittag veröffentlicht wird.


War es das mit der Impfpflicht?

Österreich hat die Impfpflicht am Mittwoch ausgesetzt. Zwar soll die Entscheidung in drei Monaten überprüft werden, doch sie hat einen nicht zu unterschätzenden Symbolwert: Das Land war das erste in der EU, das eine entsprechende Regelung beschlossen hatte. Wie sich die Debatte in Deutschland entwickelt? Olaf Scholz zumindest will an der Impfpflicht festhalten.

Eins ist inzwischen immerhin klar: Die Corona-Regeln sollen noch in diesem Monat weitgehend entfallen.


Was lesen?

Zum Ukraine-Krieg haben wir weiterhin ein umfangreiches Programm für Sie:

Camilla Kohrs hat zusammengetragen, welche Kriegsverbrechen Russland in dem Konflikt bereits begangen hat.

Patrick Diekmann ist in einem Interview der Frage nachgegangen, ob die russischen Streitkräfte überhaupt noch genug Kraft für den Sturm auf Kiew besitzen. Carl Exner und Axel Krüger erklären, welche weitreichenden Folgen die Einnahme der Hauptstadt hätte.

Mauritius Kloft kommentiert, dass Forderungen von Politikern nach einem "Frieren für den Frieden" seiner Meinung nach von Arroganz zeugen.

Und Jannik Läkamp berichtet, wie Männer in Berlin die Not junger Ukrainerinnen ausnutzen.


Berliner Kodderschnauze, immer ruppig, ständig laut: Das ist der Fernsehmoderator Kurt Krömer. Doch der Comedian litt jahrelang unter Depressionen und hat eine Alkoholsucht überwunden. Im Interview mit meinem Kollegen Steven Sowa hat er über seine Krankheit gesprochen – und beschrieben, wie diese "schwarze Wolke" seine Karriere beeinflusst hat.


Historisches Bild des Tages

Oft beginnen die Dinge im Kleinen, selbst Nationaldenkmäler. Was dieser Herr mit Mount Rushmore zu tun hatte, lesen Sie hier.

Was mich amüsiert

Vielleicht tun die Deutschen ja bereits mehr fürs Energiesparen, als die meisten denken.

Schlafen Sie heute Nacht möglichst gut! Morgen schreibt an dieser Stelle Camilla Kohrs für Sie.

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell

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Mit Material von dpa.

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