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Lärm unserer Zivilisation: Endlich Ruhe


Tagesanbruch
Endlich Ruhe

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.04.2022Lesedauer: 6 Min.
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Eine Besucherin genießt die Ruhe auf dem Gelände der Landesgartenschau im brandenburgischen Beelitz.Vergrößern des Bildes
Eine Besucherin genießt die Ruhe auf dem Gelände der Landesgartenschau im brandenburgischen Beelitz. (Quelle: Paul Zinken/dpa-bilder)

Ein ganz sanftes, ganz leises guten Morgen, liebe Leserin und lieber Leser.

Hoffentlich haben Sie behaglich geruht und beginnen den Tag nun – pssst! – harmonisch und ausgeglichen. Nein, ich bin nicht zu den Shangra-Jüngern übergelaufen, und ich habe auch keinen Yoga-, Pilates- oder Flötenkurs absolviert (obgleich mir das vielleicht mal guttäte). Ich möchte den heutigen Morgen einfach in Ruhe beginnen und wünsche Ihnen dasselbe. Denn das ist in diesen Zeiten gar nicht so leicht, und das liegt nicht nur an düsteren Nachrichten, schlechten Träumen oder dem Schrecken beim Blick in die leere Kaffeedose. Es liegt am Lärm. Während ich diese Zeilen in meinen Laptop tippe, höre ich zum Beispiel Folgendes:

  • Das Martinshorn eines Polizeiautos.
  • Das Bremm-BREMMMMM! eines Autobusses.
  • Die Kreissäge eines übereifrigen Handwerkers.
  • Ein heulendes Kind.
  • Noch einen Autobus, diesmal wild hupend.
  • Einen schimpfenden Radfahrer.
  • Ein Flugzeug im Landeanflug.
  • Ein knatterndes Motorrad.
  • Da! Ja, wirklich: Irgendwo dort hinten höre ich auch ein Vogelzwitschern. Schön! Prompt donnert wieder ein Lastwagen vorbei. Ruhe? Pustekuchen.

Wie viele andere Menschen lebe auch ich gern in der Stadt, genau genommen sind es sogar zwei. Kurze Wege, viele Kontakte, Kultur und Gastronomie vor der Haustür, immer was los. Toll. Doch manchmal wünsche ich mich auf eine Alpenwiese, eine Waldlichtung oder in einen Garten auf dem Land. Wo man nichts hört außer dem Wind und den Vögeln. Es gibt glückliche Zeitgenossen, die dergleichen täglich hören, aber es gibt noch mehr Menschen, die jeden Tag dem Lärm unserer Zivilisation ausgesetzt sind. Dieser Lärm nimmt zu, weil der Verkehr zunimmt, weil immer mehr Menschen in die Städte drängen und weil immer mehr Geräte nervtötende Geräusche von sich geben, von den Laubbläsern im Herbst bis zum Smartphone-Gedudel in der S-Bahn.

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Ein Viertel aller Deutschen fühlt sich in seinem Wohnumfeld durch Lärm belästigt – sei es durch Verkehr, Geschäfte, Fabriken oder Nachbarn. In Großstädten ist es sogar ein Drittel. Aber auch die meisten anderen Bürger sind regelmäßig mehreren Lärmquellen ausgesetzt – bei fast der Hälfte der Bevölkerung sind es der Straßen-, der Schienen- und der Luftverkehr. Dabei nehmen wir viele Geräusche gar nicht mehr als störend wahr. Wir haben uns an den Dauerkrach gewöhnt. Wie still die Welt sein kann und wie wundervoll die Natur eigentlich klingt, hören wir nur noch in Ausnahmesituationen. In dieser Hinsicht war der Corona-Lockdown eine Wohltat. Doch die Zwangspause ist vorbei, nun wird wieder gehetzt, gewerkelt und gedröhnt, als gäbe es kein Morgen.

Ich bezweifle, dass das gesund ist. Ich glaube, es täte vielen Leuten gut, öfter nur wenig oder am besten gar nichts zu hören. Weil man dann unweigerlich beginnt, in sich selbst hineinzuhorchen, und weil es durchaus überraschend ist, was man dort finden kann. So erging es auch mir. Am Osterwochenende verbrachte ich einen Tag im Garten einer alten Mühle im Wendland. Ich saß unter einem blühenden Obstbaum, der vom geschäftigen Treiben der Bienen brummte. Ich hatte gar nicht mehr gewusst, wie das klingt. Es ist nämlich wirklich eher ein Brummen als ein Summen.

Als ich da so saß, den Bienen lauschte und mir die Sonne ins Gesicht scheinen ließ, kam mir plötzlich der Gedanke: Eigentlich wäre es gar nicht schlecht, die Dinge gelegentlich neu zu gewichten. Natürlich sind die vielen Termine, denen man tagtäglich hinterherjagt, wichtig, und die Nachrichten aus Berlin, Kiew und Moskau sind es auch. Man will ja viel schaffen, und man will ja alles wissen. Doch was im Leben wirklich von Bedeutung ist, das entdeckt man oft erst in Momenten der Ruhe – sei es ein Wunsch, eine Idee, ein anderer Mensch oder was auch immer.

So, genug gepredigt. Bevor Ihnen nun die Füße einschlafen, verrate ich Ihnen noch rasch, dass morgen weltweit der "Tag gegen Lärm" begangen wird. Der Aktionstag ist dazu da, möglichst viele Menschen über die negativen Folgen von Schall und Krach aufzuklären und Wege aufzuzeigen, wie sich die permanente Lärmbelästigung in unserem Alltag dämpfen lässt. Ich habe den Eindruck: Das war noch nie so nötig wie jetzt. Mehr Ruhe und mehr Bienenbrummen täten uns allen gut.


Denken statt draufhauen

Viel Getöse machen auch Toni Hofreiter und Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Weil CDU und CSU immer noch nicht so recht herausgefunden haben, wie Opposition geht, haben der Grüne und die Liberale aus den Koalitionsparteien den Job kurzerhand selbst übernommen. Nun triezen sie den Kanzler mit immer schärferen Attacken in Talkshows, Interviews und Pressekonferenzen: Herr Scholz solle endlich führen und schwere Waffen aus Deutschland in die Ukraine expedieren – wobei das in den Augen der beiden Bundestagsabgeordneten ein und dasselbe zu sein scheint. Rückenwind bekommen sie von vielen Leitartiklern in den Redaktionen von Hamburg bis München. Überall wissen die Kommentatoren haargenau, was der Kanzler jetzt unbedingt tun sollte: vor allem jede Menge Panzer, Kanonen, Drohnen und anderes Ballerzeug nach Kiew liefern, und zwar zackig. Nur durch maximale Härte werde Putin von weiteren Aggressionen abgehalten.

Ist das so? Ich habe Zweifel, und je lauter der Chor der Waffenbeschwörer anschwillt, desto größer werden sie. Keine Frage: Die Ukraine braucht Unterstützung, auch militärische. Aber ich kenne keinen Konflikt in den vergangenen Jahrzehnten, der ausschließlich durch immer gröbere Gewalt befriedet worden wäre. Es braucht doch beides: Härte und Entgegenkommen, Drohen und Verhandeln und möglichst immer das richtige Maß. Wer mit heruntergeklapptem Visier in den Krieg zieht, läuft Gefahr, früher oder später selbst im Staub zu enden. In einem Konflikt, in dem auch Atomraketen im Spiel sind, kann das niemand ernsthaft wollen.

Mit dieser Meinung bin ich nicht allein. "An Olaf Scholz lässt sich viel herumkritteln", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl in seinem jüngsten Text. "Doch eines kann man ihm nicht absprechen: seine Ernsthaftigkeit, die der Weltlage überaus angemessen ist. Ich finde es sehr merkwürdig, dass so viele Kommentatoren vergessen zu haben scheinen, dass Putin mehrmals mit dem Einsatz seiner Nuklearwaffen gedroht hat. Denn falls seiner Armee auch die Eroberung der Ost- und Südukraine misslingen sollte, wäre ihm durchaus zuzutrauen, dass er seine Drohung wahr macht. Zu oft hat der Westen in der Vergangenheit nicht richtig hingehört, was Putin sagte. Was aber, wenn er tatsächlich eine taktische Atomrakete abschießt? Ich finde, dass der eine oder andere Politiker, der sich im Schnellstudium zum Ukraine-Fachmann und Panzerkenner hinaufkatapultiert hat und jetzt schnellstens schweres Bundeswehrgerät liefern möchte, kurz mal innehalten und die Folgen bedenken sollte."

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Das leuchtet mir ein. Mehr jedenfalls als die waffenklirrenden Talkshow-Sätze und Leitartikel, die man nun überall hört und liest. Das bedeutet nicht, dass man die Ukraine dem Terroristen im Kreml überlässt. Aber dass man bei jedem Schritt die Folgen bedenkt und im Zweifel eher vorsichtig als vorschnell handelt. In seinem Amtseid hat der Kanzler geschworen, seine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen und Schaden von diesem abzuwenden. Das ist seine wichtigste Aufgabe. Es wäre nicht schlecht, würde auch der Koalitionsausschuss von SPD, Grünen und FDP diese Maxime heute Abend bedenken.


Weitere Termine

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin trifft nach seiner Rückkehr aus Kiew auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein in der Pfalz Militärs aus 40 Staaten. Gemeinsam wollen sie die weitere Aufrüstung der ukrainischen Armee organisieren.

UN-Generalsekretär António Guterres schaltet sich endlich stärker in die Krisendiplomatie ein. Nach langem Bitten wird er heute von Putin in Moskau empfangen.

Das Bundesverfassungsgericht verkündet sein Urteil zu den Befugnissen des bayerischen Verfassungsschutzes. Die CSU hatte sie eingeschränkt.

Im vorsichtigen Hamburg gelten immer noch Maskenpflicht und Abstandsregeln. Heute entscheidet der Senat, wann die Corona-Einschränkungen auch in der Hansestadt wegfallen.

Erfurt gedenkt der Opfer des Schulmassakers am Gutenberg-Gymnasium heute vor 20 Jahren. Ein ehemaliger Schüler erschoss damals zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin und einen Polizisten und anschließend sich selbst.

Im englischen Newton-le-Willows wird eine unveröffentlichte Aufnahme eines Songs von Paul McCartney versteigert. Bis zu 12.000 Euro soll sie einbringen. Da bin ich ausnahmsweise mal nicht für Stille.


Was lesen?

Warum lassen sich auch hierzulande so viele Menschen für Putins Propaganda einspannen? Unser Kolumnist Wladimir Kaminer erklärt es Ihnen.


Wie umgehen mit Gerhard Schröder? Die SPD beteuert, sich vom Altkanzler distanzieren zu wollen – bisher ohne Erfolg. Dabei stünden der Partei durchaus noch Möglichkeiten offen, berichten unsere Reporter Johannes Bebermeier, Miriam Hollstein und Fabian Reinbold.


Die russische Staatspropaganda ist perfide. Welche Lügen und Drohungen Fernsehmoderatoren verbreiten, zeigen Ihnen meine Kollegen Nora Schiemann und Arno Wölk.


Die Inflation trifft immer mehr Bürger hart. Im Interview mit meinen Kolleginnen Nele Behrens und Frederike Holewik erklärt Bauernpräsident Joachim Rukwied, für welche Lebensmittel die Preise weiter steigen werden.


Was amüsiert mich?

Nur die Ruhe!

Ich wünsche Ihnen einen gelassenen Tag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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