Tagesanbruch Die Kriegsgefahr wächst
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
seit anderthalb Jahren drehen sich die deutsche und die europäische Außenpolitik fast ausschließlich um den Krieg in der Ukraine. Mit vereinten Kräften ist es den EU-Staaten gelungen, Putins Staatsterrorismus zu kontern, Kiews Verteidigung aufzurüsten und die eigenen Armeen zu verstärken, Millionen Flüchtlinge aufzunehmen, die russischen Gaslieferungen zu kompensieren, die Energiepreise und die Inflation zu drosseln. Eine beeindruckende Leistung, die in der täglichen Meckerei über die Unzulänglichkeiten der Regierenden zu wenig gewürdigt wird. Gelungen ist der Kraftakt auch deshalb, weil sich die politischen Entscheider, aber auch die Bevölkerungen auf den Krieg und dessen Folgen fokussiert haben.
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Der kollektive Tunnelblick hat geholfen – doch zugleich führt er dazu, dass andere Krisen aus dem Blickfeld geraten. Diese blinden Flecken der europäischen Außenpolitik machen sich nun machthungrige Potentaten zunutze. Während Scholz, Meloni und Co. heute bei der UN in New York das Aufeinandertreffen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj mit dem russischen Außenminister Lawrow beäugen, eskalieren andernorts gefährliche Konflikte.
Gestern hat der aserbaidschanische Machthaber Ilham Alijew den Angriff auf die Region Bergkarabach befohlen. Seit Monaten blockieren seine Soldaten die Zufahrtsstraßen und hungern die armenische Bevölkerung aus; der Überfall ist akribisch vorbereitet worden. Beobachter schickten Warnungen in die europäischen Hauptstädte – doch weder die UN noch die EU noch deutsche Außenpolitiker zeigten gesteigertes Interesse an dem Konflikt. Schließlich hatte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen erst vor einem Jahr einen lukrativen Gas-Deal mit Aserbaidschan geschlossen, um die Unionsländer unabhängig von russischen Lieferungen zu machen. Das war offenkundig wichtiger als das Schicksal von 120.000 bedrängten Armeniern.
Diese Menschen beschimpft Alijew nun als "Hunde, die aus Bergkarabach verjagt werden müssen". Es droht eine humanitäre Katastrophe: "Das Ziel ist eine ethnische Säuberung", sagt der Politikwissenschaftler Narek Sukiasyan im Interview mit meinem Kollegen David Schafbuch. "Die Duldung der völkermörderischen Politik durch Russland, die EU und die USA hat zu der jetzigen Situation geführt."
Auch in Westafrika wächst die Kriegsgefahr. Nach den Militärputschen in Gabun und Niger muss man demokratische Kräfte in der Region nun mit der Lupe suchen. Die nigrische Junta hat sich mit den Machthabern in Mali und in Burkina Faso verbündet und rasselt mit dem Säbel: Ihre Drohungen richten sich nicht nur gegen die Afrikanische Union und die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten, die sich für Rechtsstaat, Stabilität und Handel einsetzen. Im Fadenkreuz stehen auch europäische Soldaten, Entwicklungshelfer und Diplomaten. Noch immer sind in Mali und Niger Bundeswehrsoldaten stationiert. Im Falle einer Eskalation könnten sie wohl kaum mehr tun, als sich selbst Hals über Kopf in Sicherheit zu bringen.
Das größte Kriegsrisiko schwelt jedoch auf der anderen Seite des Globus: Chinas Drohungen gegen den demokratischen Inselstaat Taiwan werden immer aggressiver. Auch in Japan, Südkorea, Vietnam und auf den Philippinen ist man alarmiert und sucht die Nähe zu den USA, hält gemeinsame Militärmanöver mit den Amerikanern ab und rüstet sich für den Tag X. "Eine militärische Eskalation zwischen China und den USA ist keine theoretische Vorstellung, sondern eine durchaus realistische Möglichkeit", warnt die China-Expertin Janka Oertel im Gespräch mit unserer Redaktion. "Die Unsicherheitsfaktoren nehmen massiv zu. Wir sollten uns dringend dafür wappnen."
Dafür genügt es allerdings nicht, Chinas Diktator Xi Jinping öffentlich einen Diktator zu nennen, wie jüngst Außenminister Baerbock. Vielmehr muss man sich konkret für den Fall eines chinesischen Angriffs auf Taiwan vorbereiten und dabei heikle Fragen beantworten: Will man im Kriegsfall auch dorthin Waffen schicken? Würde man den Handel mit China einfrieren und den größten deutschen Wirtschaftseinbruch seit dem Zweiten Weltkrieg in Kauf nehmen? Oder opfert man Taiwan den Pekinger Aggressoren und ermuntert damit Autokraten rund um den Globus zu ähnlichen Angriffen? Oder gibt es einen Mittelweg?
Antworten auf diese Fragen haben bisher weder Deutschland noch die EU. Der Ukraine-Krieg absorbiert die außenpolitischen Kräfte. Angesichts der brutalen Schlachten und der täglichen russischen Luftangriffe ist das verständlich. Der Schock des größten Angriffskriegs auf europäischem Boden seit acht Jahrzehnten sitzt immer noch tief. Dass es Putin nicht gelungen ist, die europäischen Demokratien einzuschüchtern, und die Nato-Staaten stattdessen zu neuer Stärke zusammengefunden haben, ist eine historische Leistung. Sie wird durch große Anstrengungen errungen, kostet täglich Kraft, Geld und Aufmerksamkeit und wird noch viel mehr kosten.
Trotzdem sollten deutsche Außenpolitiker nicht den Fehler machen, andere Krisen links liegenzulassen. Diplomatischer Druck und Verhandlungen sind mühsam – aber jede Mühe lohnt sich, um die gefährlichsten Brandherde auf der Welt zu löschen. Sonst wachen wir eines Morgens auf und sind mittendrin im nächsten Krieg.
Faeser im Kreuzverhör
Für Nancy Faeser läuft es derzeit gar nicht rund. In Hessen, wo die Innenministerin bei der Landtagswahl in zweieinhalb Wochen als SPD-Spitzenkandidatin gegen CDU-Ministerpräsident Boris Rhein antritt, ist bisher keine Wechselstimmung auszumachen, stattdessen legt auch dort die AfD zu. Außerdem wächst die Kritik, dass unter Faeser die Aufarbeitung der NSU-Verbrechen nicht vorankommt. Und dann ist da noch der Ärger um die undurchsichtige Abberufung ihres früheren Cybersicherheitschefs Arne Schönbohm.
Schon zwei Mal ist Faeser Sitzungen zur Aufklärung des Falls ferngeblieben, was ihr den Vorwurf der Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament eintrug. Heute will die Ministerin endlich vor dem Innenausschuss des Bundestages Stellung beziehen. Es geht um die Fragen, ob sie sich bei ihrer Personalentscheidung von Jan Böhmermanns ZDF-Klamauksendung treiben ließ und ob sie womöglich gar den Verfassungsschutz beauftragte, Informationen über den Behördenleiter zu sammeln. Der hat inzwischen sowohl den Sender als auch die Bundesregierung verklagt.
Woche der Wiederbelebung
Zu Hause, im Büro oder auf der Straße: Jahr für Jahr erleiden rund 50.000 Menschen außerhalb eines Krankenhauses einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Dann geht es um Leben und Tod: Bis der Notarzt kommt, zählt jede Minute – und jeder Umstehende kann zum Lebensretter werden. Aber was genau soll man eigentlich tun? Das habe ich Jan-Thorsten Gräsner gefragt, er ist Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel:
Herr Gräsner, es gibt doch Notärzte und Sanitäter, warum soll ich einen Wiederbelebungskurs absolvieren?
Jan-Thorsten Gräsner: Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand kommt es auf jede Sekunde an. Der Patient benötigt direkte Hilfe. Hier brauchen wir die Unterstützung der Bevölkerung. Fast die Hälfte aller Herz-Kreislauf-Stillstände werden von Umstehenden beobachtet, in 65 Prozent der Fälle erleiden die Patienten ihn in häuslicher Umgebung.
Ich habe aber wenig Zeit, wie lange dauert denn so ein Kurs?
Investieren Sie zwei Stunden für einen reinen Wiederbelebungskurs. Danach ist man gut vorbereitet.
Was soll ich tun, wenn ich sehe, wie ein Mensch zusammenbricht?
Wir empfehlen den Dreiklang "prüfen, rufen, drücken": Prüfen Sie zuerst, ob der Zusammengebrochene noch auf Ansprache reagiert und seine Atmung noch normal ist. Ist das nicht der Fall, rufen Sie den Rettungsdienst unter der Rufnummer 112. Dann drücken Sie auf den Brustkorb des Patienten: mindestens 100 Mal pro Minute, 5-6 Zentimeter tief. Wenn Sie in einem Erste-Hilfe-Kurs auch das Beatmen gelernt haben, kombinieren Sie die Herzdruckmassage mit der Beatmung: 30 Mal drücken, 2 Mal beatmen. Das alles im Wechsel und so lange, bis die Profis eintreffen.
Viele Menschen zögern einzugreifen, weil sie fürchten, etwas falsch zu machen. Was sagen Sie denen?
Das Einzige, was Sie falsch machen können, ist nichts zu tun.
Wie viele Menschenleben könnten gerettet werden, wenn jeder Bürger Basiskenntnisse von Wiederbelebungsmaßnahmen hätte?
Wir gehen davon aus, dass wir bis zu 10.000 zusätzliche Menschenleben pro Jahr in Deutschland retten können, wenn die Rettungskette funktioniert. Der Ersthelfer ist das erste Glied dieser Rettungskette und damit sehr wichtig für den Gesamterfolg.
Okay, Sie haben mich überzeugt. Wo kann ich den Kurs machen?
Das Deutsche Rote Kreuz, die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, die Johanniter-Unfall-Hilfe, die Malteser und der Arbeiter-Samariter-Bund bieten überall in Deutschland Erste-Hilfe-Kurse an. Einfach anmelden und loslegen!
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Ohrenschmaus
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Zum Schluss
Ob das was wird mit Nagelsmann?
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Morgen schreibt Camilla Kohrs den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Freitag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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