Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Kanzler mit Fußfessel

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
"Es ist im Leben die größte Herausforderung, mit Niederlagen richtig umzugehen", hat Jürgen Klopp gesagt. Der Mann muss es wissen, er hat als Trainer gleich zwei Fußballvereine aus der Krise zur Meisterschaft geführt. Einer dieser Klubs war Borussia Dortmund, in dessen Beirat Friedrich Merz bis vor einigen Jahren saß. Der Vorteil des Sports ist: Niederlagen sind zwar bitter, aber auch schnell vergessen, wenn es danach wieder halbwegs rund läuft.
Das ist in der Politik anders. Dort können Niederlagen auch langfristig gravierende Folgen haben. So eine Niederlage musste Merz gestern einstecken. Zwar wurde er am Ende doch noch zum zehnten Bundeskanzler gewählt – doch vorher muteten ihm die Abgeordneten seiner eigenen Koalition eine schwere Schmach zu: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik hat ein Kanzler zwei Wahlgänge gebraucht, um ins Amt zu gelangen.
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Die versteinerten Gesichter von Merz, SPD-Chef Lars Klingbeil und ihren wichtigsten Mitstreitern sprachen Bände. Sie müssen geahnt haben, was die Ablehnung im ersten Wahlgang bedeutet: Sie ist ein schwerer Makel, weil sie zeigt, dass in den Fraktionen der gerupften Mitte-Parteien CDU, CSU und SPD Parlamentarier sitzen, die dem neuen Regierungschef misstrauen. Und die ihm möglicherweise auch bei künftigen Abstimmungen über kontroverse Fragen ein Bein stellen können.
"Sieh dich vor!": Das ist die Botschaft der anonymen Heckenschützen in den eigenen Reihen an Merz. Der neue Kanzler wird nicht nur in einer krisengeschüttelten Welt durch Minenfelder manövrieren müssen, sondern auch zu Hause bei der politischen Mehrheit, die ihn trägt. Das ist eine schwere Hypothek. Durchregieren kann Merz nun nicht mehr. Bei jedem wichtigen Gesetz wird er bangen müssen: Hält meine Mehrheit? Er ist ein Kanzler, der mit gefesselten Füßen startet und deshalb eher Schrittchen statt Siebenmeilenschritte machen muss. Diese Schwäche kann seine Autorität zermürben.
Zugleich sollte man das Drama dieses denkwürdigen Dienstags nicht zu hoch hängen. Das Grundgesetz liefert auch für heikle Situationen wie diese einen rechtsstaatlichen Leitfaden, von einem "Chaos" zu schwadronieren, wie es manche AfD-Leute tun, ist hanebüchen. Die Parteien der demokratischen Mitte sind nicht mehr so stark, dass sie ihren Kurs institutionell durchziehen können; sie müssen sensibler vorgehen, auf Kritiker eingehen, sich stärker um Mehrheiten bemühen. Aber die Demokratie ist deshalb nicht in Gefahr. Die Geiferer auf der rechten Seite des Parlaments entblößen mit ihrem Geschrei nur ihre Untauglichkeit für gesittete politische Prozesse.
Die größte Herausforderung stellt sich nun an die Persönlichkeit des neuen Kanzlers: Merz gilt als selbstbezogen, aufbrausend, manchmal auch hitzköpfig. Im Wahlkampf beschimpfte er politische Gegner als "linke Spinner" und ging nonchalant über Kritik an seinem laxen Umgang mit der AfD hinweg. Diese Hemdsärmeligkeit kann er sich als Regierungschef mit wackeliger Parlamentsmehrheit nicht mehr erlauben. Er muss dringend reifen – politisch, kommunikativ, charakterlich. Für einen 69-Jährigen ist das keine leichte Aufgabe.
Hoffentlich nimmt er sie nicht auf die leichte Schulter und fängt sogleich damit an: Weitblick, Verbindlichkeit und Demut braucht Merz schon heute auf seinen ersten Auslandsreisen zu den wichtigsten Nachbarn in Paris und Warschau. Unser Chefreporter Johannes Bebermeier ist dabei und wird auf t-online berichten.
Das Konklave beginnt
Der Tag beginnt liturgisch im Petersdom in Rom: "Pro eligendo Romano Pontifice", für die Wahl des römischen Papstes, lautet der Titel der Messe, die von Kardinaldekan Giovanni Battista Re geleitet wird. Erst am Nachmittag begeben sich die stimmberechtigten Kardinäle – 133 von 135 sind anwesend – in einer feierlichen Prozession in die Sixtinische Kapelle. Und sobald Zeremonienmeister Diego Ravelli mit dem Ausruf "Extra omnes!" (alle raus!) die Türen hinter ihnen geschlossen und die Schweizergarde davor Stellung bezogen hat, ist es so weit: Dann treten die Kirchenmänner zum ersten Wahlgang an, um den Nachfolger des gestorbenen Franziskus zu ermitteln. Und die Welt schaut gebannt auf den Schornstein der Sixtina, aus dem nach der nötigen Zweidrittelmehrheit weißer Rauch aufsteigt.
Zu prognostizieren, auf welchen Kandidaten sich das Kollegium einigen wird, ist nahezu unmöglich. Zwar fallen immer wieder bestimmte Namen, etwa der des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Pierbattista Pizzaballa. Auch die bisherige Nummer zwei im Vatikan, Pietro Parolin, gilt als aussichtsreicher Anwärter. Sicher aber ist nur, dass der europäische Einfluss im Kreis der Kardinäle zugunsten anderer Kontinente zurückgegangen ist, wie meine Kollegin Ellen Ivits berichtet. 2005 und 2013 dauerten die Konklaven jeweils zwei Tage. Ein Zeitlimit gibt es aber nicht.
Eskalation um Kaschmir
Zwei Atommächte steuern in eine gefährliche Eskalation: Gestern Abend deutscher Zeit hat die indische Armee neun Angriffe auf Ziele in Pakistan bestätigt. Auch die pakistanische Armee sprach von Attacken, unter anderem in der Stadt Muzaffarabad. Die Spannungen zwischen beiden Ländern haben zugenommen, nachdem am 22. April dieses Jahres bei einem Terroranschlag im indisch kontrollierten Teil von Kaschmir 26 Urlauber ermordet wurden.
Diktatoren unter sich
Die große Militärparade zum Sieg über Nazi-Deutschland findet erst am Freitag statt, schon heute aber kommt der wichtigste Staatsgast in Moskau an: Chinas Präsident Xi Jinping hat sich auf den weiten Weg gemacht. Mit Kremlherrscher Wladimir Putin will er über die "Weiterentwicklung der Beziehungen und der umfassenden Partnerschaft" beider Länder sprechen, konkret soll es um den Bau einer zweiten Gaspipeline nach China gehen.
Zum Weltkriegsgedenken am 9. Mai werden dann noch weitere illustre Besucher in der russischen Hauptstadt erwartet: etwa der Präsident von Brasilien, Luiz Inácio Lula da Silva. Anlässlich der Feierlichkeiten hat der russische Machthaber im Krieg gegen die Ukraine eine dreitägige Feuerpause vom 8. bis zum 10. Mai angekündigt – was die Ukrainer allerdings für ein Täuschungsmanöver halten.
Weichenstellung beim Leitzins
Für US-Notenbankchef Jerome Powell hat Donald Trump nur Verachtung übrig: Wahlweise als "Loser" oder "Mr. Too late" beschimpft der US-Präsident den Währungshüter, weil dieser für seinen Geschmack zu zögerlich den Leitzins senkt. Wenn die Federal Reserve heute Abend unserer Zeit ihren weiteren Kurs in der Geldpolitik bekannt gibt, erwarten Analysten dennoch, dass Powell hart bleibt und den Leitzins vorerst in der Spanne von 4,25 bis 4,5 Prozent belässt. Zu hoch sind die Inflationsrisiken nach Trumps Zoll-Rundumschlag.
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"2029 wird die AfD stärkste Fraktion ": Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder prophezeit im Gespräch mit meinem Kollegen Philipp Michaelis eine düstere Folge des deutschen Politikdramas.
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Ohrenschmaus
Nette Leserinnen bitten mich, ich solle doch wieder Songs empfehlen. Also los!
Zum Schluss
Neustart in Berlin.
Ich wünsche Ihnen einen dynamischen Mittwoch. Morgen ist in Berlin Feiertag, aber mein Kollege Mauritius Kloft schickt Ihnen trotzdem einen Tagesanbruch.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.