Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Ein Tiefschlaf mit gravierenden Folgen

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Bundeskanzler Friedrich Merz und Verteidigungsminister Boris Pistorius machen morgen eine Reise, die hoffentlich flotter vonstattengeht als das Vorhaben, das sie besuchen: Die beiden schauen in Litauen bei der deutschen Brigade vorbei, die den baltischen Staat gegen die Bedrohung durch Putin schützen soll. Seit einer gefühlten Ewigkeit arbeiten Verteidigungsministerium und Bundeswehr sich daran ab, eine Truppe von 4.800 Soldaten dauerhaft dorthin zu verpflanzen, wo sie im Ernstfall am dringendsten gebraucht würde. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine hagelt es in Berlin Absichtserklärungen, Appelle, Reformvorhaben und sogar die eine oder andere Zeitenwende. Die Zusage an Litauen ist mittlerweile fast zwei Jahre alt, die volle Einsatzbereitschaft seitdem aber immer weiter in die Zukunft marschiert. Zurzeit wird 2027 angepeilt. Gut Ding will Weile haben.
Embed
Das gilt auch dann, wenn Putin ein bedrohliches Großmanöver plant: Im September werden Tausende russische Soldaten in Belarus den Kampf gegen Nato-Truppen üben. Bleibt es bei der Übung?
Wie dringlich die Bundeswehr reanimiert und für die Zukunft fit gemacht werden muss, das haben in Berlin die meisten Politiker verstanden. Zeitenwende und Verfassungsänderung haben dafür finanziell den Weg frei gemacht. Aber Geld verteidigt nicht. Allen Anstrengungen zum Trotz geht es nicht nur in Litauen, sondern auch im heimischen Gelände oft nur schleichend voran.
Möglichkeiten zur Beschleunigung gäbe es: Zum Beispiel haben Reservisten, die im Ernstfall von entscheidender Bedeutung wären, derzeit bloß eine vorschriftsmäßig gefaltete Uniform im Schrank. Alles Weitere müssen sie sich zum Üben von der aktiven Truppe ausleihen, sofern diese es gerade entbehren kann – nur im tiefsten Frieden natürlich. Im Krisenfall an die Front kämen die deutschen Reservisten nach aktuellem Stand mit ihrem Privatauto. Zum Üben greift die Truppe manchmal auf Plastikgewehre zurück. Das soll ein Ende haben: Die einsatztaugliche Ausstattung der Reservisten ist geplant für … Moment … das Jahr 2035. Geht das schneller? Allerdings.
Doch leider hat das Problem der Beschleunigung meist keine so handliche Größe. Gegenwärtig raufen sich die Leute im Koblenzer Beschaffungsamt die Haare, weil die Bundeswehr einen neuen Kampfjet braucht und der auch schon bestellt ist: Die amerikanische F-35 mit ihren Tarnkappenfähigkeiten soll die Luftwaffe mit einiger Verspätung ins 21. Jahrhundert befördern. Eine jahrzehntelange Abhängigkeit von den USA wird dabei gleich mitgekauft.
Ersatzteile für den Hi-Tech-Flieger zum Beispiel: Werden die auch dann noch zuverlässig geliefert, wenn Donald Trump oder ein ähnlich unzuverlässiger Nachfolger mit den Verbündeten aneinandergerät – etwa über die Frage, ob Grönland oder Kanada zu den USA gehören? Oder ob man Estland gegen Putin verteidigen sollte? Die F-35 lässt sich zwar nicht per Knopfdruck aus dem Weißen Haus abschalten, aber man braucht amerikanische Unterstützung, damit sie zu irgendetwas zu gebrauchen ist. Denn wirklich unsichtbar wird ein solcher Kampfjet nicht durch aufgepinselte Wunderfarbe, sondern erst mithilfe digitaler Tricks, die zum Beispiel die aktuelle Position feindlicher Hochleistungsradare berücksichtigen. Wer liefert diese sensiblen Daten? Genau: Die kommen vom amerikanischen Wackelkandidaten.
Eine Alternative aus heimischer Produktion wäre also willkommen. Das Bundesverteidigungsministerium würde das Pendant zur F-35 bei Europas Waffenschmieden beherzt bestellen – wenn … tja, wenn man mit der Planung ein Jahrzehnt früher begonnen hätte. Denn aktuell hat die deutsche Industrie leider nichts im Regal. Ein Kampfflugzeug der fünften Generation, ein fliegender Computer mit Tarnkappe, wurde in Europa nie entwickelt und wird nun kurzerhand übersprungen. Ein britisch-italienisch-japanisches Konsortium bastelt an der sechsten Generation und hofft, 2035 erste Exemplare liefern zu können. Die deutsch-französisch-spanische Konkurrenz wird es nicht vor 2040 schaffen. Bis dahin muss man auf altmodische Konzepte setzen oder jenseits des Atlantiks shoppen gehen. Die Bundeswehr kauft zeitgemäß – also bei Trump.
Lange Entwicklungszeiten sind typisch für die komplexe Technik, die in modernen Waffensystemen steckt. Nicht nur, was bei der Luftwaffe fliegt, sondern auch, was für die Marine schwimmt oder untertaucht, beim Heer über die Äcker walzt oder im Weltraum mit Argusaugen auf einer Umlaufbahn schwebt, ist bis zum Anschlag mit Elektronik und Sensoren vollgestopft, vernetzt, kompliziert zu entwerfen, langwierig zu testen und langsam zu beschaffen.
Mitnehmen dürfen wir also eine Erkenntnis: Zeitenwenden lassen sich zwar zackig verkünden – aber ihre Umsetzung dauert. Frühzeitiges Handeln kann man nicht dadurch ersetzen, dass man später die aufgelaufenen Defizite umso entschlossener anzupacken verspricht. Ohne Weitblick geht es nicht. Der nachträglichen Beschleunigung sind Grenzen gesetzt. Also rechtzeitig Augen auf!
Das sagt sich leicht. Aber verlangt man von Kanzlern, Ministern und Verteidigungsbürokraten Unmögliches? Niemand hätte vor zehn Jahren zu Zeiten Angela Merkels und Barak Obamas klar vorhersagen können, dass die USA vom standfesten Nato-Partner zu einem fragwürdigen Verbündeten absteigen. Es wäre politisch unmöglich und aus damaliger Sicht auch nicht klug gewesen, für die bloße Eventualität eines amerikanischen Rückzugs aus der Nato Milliarden locker zu machen, die anderswo dringend gebraucht wurden. Der Hellsicht sind Grenzen gesetzt.
Aber nur weil man beim ersten Anzeichen der Dämmerung verständlicherweise weiterschläft, darf man nicht auch noch den Wecker ignorieren. Spätestens bei Donald Trumps erstem Wahlsieg im Herbst 2016 hätten die Alarmglocken hörbar bimmeln müssen. Von da an gab es reichlich Gelegenheit, die zunehmende Lautstärke zu bemerken. Doch die Normalität kehrte in Gestalt von Joe Biden zurück – gefolgt von der fatalen Schlussfolgerung hierzulande: Bitte alle wieder hinlegen! Deutschland und Europa haben damals den Startschuss zur Wiederherstellung der eigenen Verteidigungsfähigkeit endgültig verschlafen – und hetzen deshalb jetzt der Entwicklung atemlos hinterher.
Die Moral von der Geschicht: Man darf sich die Welt nicht schönreden. Denn das rächt sich.

Kommt uns dieses Muster bekannt vor? Gibt es noch andere Bereiche, in denen der Tiefschlaf gravierende Folgen hat, ohne dass man zum Ausgleich Tempo machen kann, wenn man endlich aufwacht? An dieser Stelle dieses schon wieder recht langen Tagesanbruch-Textes scheint sich das Wörtchen "Klima" fast von selbst in die Tasten zu tippen. Denn beim Klimaschutz umzusteuern ist noch sehr viel schwieriger als bei der Verteidigungsplanung. Die Aktivitäten zur Reduzierung des CO₂-Ausstoßes, die wir heute anschieben (sollten), werden zum Beispiel erst in Jahrzehnten Wirkung zeigen.
In der existenziellen Klimafrage werden also noch mehr Weitblick und noch frühzeitigeres Handeln verlangt als bei Sicherheit und Verteidigung. Die mühsame Modernisierung der Bundeswehr ist dafür allenfalls eine Übung. Kann man diese Einsicht bei der Bundesregierung erkennen? Wem das gelingt, der hat eine bessere Brille als ich: eine rosarote.
Minister im Kreuzfeuer
Wenn sich Alexander Dobrindt heute Mittag im Bundestag den Fragen der Abgeordneten stellt, herrscht an brisanten Themen kein Mangel. Allein, dass er gestern bei der Präsentation der Kriminalstatistik 2024 einen Anstieg politisch motivierter Straftaten um 40 Prozent auf einen neuen Rekordwert verkünden musste, zeigt schon, welch herausforderndes Amt der neue CSU-Innenminister angetreten hat. Mehr als die Hälfte aller Fälle haben einen rechtsextremistischen Hintergrund, beim Antisemitismus betrug der Zuwachs 20 Prozent.
Und das sind nicht Dobrindts einzige Baustellen. Da ist ja auch noch die Frage, wie lange seine verschärften Grenzkontrollen und Zurückweisungen von Asylbewerbern durchzuhalten sind. Zum einen stößt die harte Grenzpolitik in den europäischen Nachbarländern auf Kritik. Zum anderen warnt die Gewerkschaft der Polizei, dass die Beamten an ihre Belastungsgrenze kommen. Nicht zuletzt dürfte Dobrindts Einschätzung aufs Tapet kommen, dass das jüngste AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes nicht für ein Verbotsverfahren ausreiche. Die ist schließlich selbst in der Union umstritten. Es wird also interessant im Parlament.
Auf geht's!
Wann geht's voran? Vor einem Monat hatte der damalige Wirtschaftsminister Robert Habeck die Prognose der Bundesregierung für das Bruttoinlandsprodukt von Miniwachstum auf Stagnation heruntergeschraubt, gestern schloss sich die EU-Kommission dieser Vorhersage an. Heute sind die Wirtschaftsweisen mit ihrem Frühjahrsgutachten dran – und auch der fünfköpfige Sachverständigenrat dürfte seine Wachstumserwartungen für das laufende Jahr senken. Wird Zeit, dass Friedrich Merz seine angekündigte Wachstumslokomotive auf die Schiene bringt.
Ohrenschmaus
Ich liebe Jazz und ich liebe Swing. Als der Jazz zum Swing wurde, entstanden einige der schönsten Songs. Zum Beispiel dieses fast hundert Jahre alte Meisterwerk von Tiny Parham.
Lesetipps
Brandanschläge, Angriffe auf Züge: In München sind drei Russlanddeutsche wegen Sabotageakten angeklagt. Jetzt fiel der Name des Drahtziehers, berichtet unser Rechercheur Lars Wienand.
Zwei neue Ministerinnen liefern sich einen Machtkampf über eine für alle Bürger wichtige Frage. Unser Kolumnist Uwe Vorkötter spielt den Schiedsrichter.
Warum buckelt Donald Trump vor Putin? Die Kollegen des ZDF beleuchten eine beunruhigende Entwicklung.
Amerikanische Firmen revolutionieren die Welt durch Künstliche Intelligenz. "Europa muss jetzt handeln – oder es zerbricht", sagt der KI-Experte Fabian Westerheide im Interview mit meinem Kollegen Marcel Horzenek.
Zum Schluss
Die Sonne scheint, die Temperaturen steigen, da würde man sich am liebsten im Wasser aalen wie ein Fisch. Oder wie dieser Zeitgenosse.
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Gefällt Ihnen der Tagesanbruch? Dann leiten Sie diesen Newsletter an Ihre Freunde weiter.
Haben Sie diesen Newsletter von einem Freund erhalten? Hier können Sie ihn kostenlos abonnieren.
Alle bisherigen Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten von t-online lesen Sie hier.
Mit Material von dpa.