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"Verwirrspiele" der Ukraine? Experten entlarven geheime Kriegstaktik


Mit Amphibienfahrzeugen
Spekulationen um ukrainische Geheimoperation


Aktualisiert am 27.04.2023Lesedauer: 4 Min.
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Landungsmanöver: So versuchen die Spezialeinheiten die Gebietsbefreiung zu starten. (Quelle: t-online)

Erstmals seit März 2022 ist der Ukraine offenbar ein Vorstoß über den Dnipro gelungen. Ein Vorbote der ukrainischen Gegenoffensive? Laut Experten verfolgt Kiew ein anderes Ziel.

Ist es ein militärischer Vorstoß oder bloß ein Täuschungsmanöver? Ukrainische Truppen haben das östliche Ufer des Flusses Dnipro bei der Stadt Cherson erreicht. Das berichtete das Institute for the Study of War (ISW) in seinem täglichen Briefing am Sonntag. Die US-Denkfabrik beruft sich auf russische Militärblogger und Luftaufnahmen, die den ukrainischen Vorstoß mit mehreren Militärbooten belegen sollen.

Aus Sicht der ISW-Analysten ist es die erste gelungene Operation der Ukraine, den Dnipro im Gebiet Cherson zu überqueren, seit die Russen im Februar 2022 dort einmarschiert sind. Die gleichnamige Stadt hatte die ukrainische Armee bereits vergangenen November zurückerobert. Der Dnipro trennt seither den ukrainisch kontrollierten Teil der Region Cherson – einschließlich der Stadt – vom russisch besetzten Teil im Süden.

Doch was genau steckt hinter dem ukrainischen Angriff? Wie ist die Operation militärisch einzuordnen? Und ist sie ein Vorbote der lange angekündigten ukrainischen Gegenoffensive? Der Überblick.

Ukrainische Geheimniskrämerei

Dass die Operation stattgefunden hat, ist von mehreren Quellen dokumentiert worden. Das ISW beruft sich auf mehrere russische Militärblogger, die über den Angriff berichtet haben. Die Denkfabrik hat neben weiteren Datenanalysten den Angriff anhand von Aufnahmen geolokalisiert.

Zudem kursiert ein Video in den sozialen Medien, das die amphibische Operation zeigen soll: Darauf zu sehen sind ukrainische Militärboote, die ein halbes Dutzend Soldaten auf das andere Dnipro-Ufer bringen. Weitere Aufnahmen zeigen die Gruppe durch ein Dorf (offenbar der direkt am Ufer gelegene Ort Datschi) marschieren und kurz darauf eine Explosion, die auf einen Beschuss durch russische Artillerie hindeutet.

Die ukrainische Seite hat die Berichte bislang nicht bestätigt. Eine Militärsprecherin sagte dem ukrainischen Fernsehen lediglich, dass Russland aufgrund der Gerüchte das gegenüberliegende Dnipro-Ufer verstärkt beschossen habe. Sie bat um Geduld und "informationelles Schweigen", um die operative Sicherheit nicht zu gefährden.

Ein klares Dementi ist das nicht. Auch der ukrainische Militärgeheimdienst (HUR) nährt Spekulationen. Angesprochen auf die Dnipro-Operation sagt der HUR-Vertreter Andrij Tschernjak, die Ukraine führe "seit März 2022 Angriffsoperationen auf russisch besetzten Gebieten durch".

Offensive Operationen folgten dabei nachrichtendienstlichen Lagebildern, die Schwachpunkte in den russischen Verteidigungslinien identifizieren. "Wir führen rund um die Uhr Geheimdienstoperationen durch. Anhand der so gewonnenen Erkenntnisse entscheiden wir, wo wir als Nächstes zuschlagen", so Tschernjak. Ob das auch für die Dnipro-Operation gilt, lässt der Geheimdienstler offen.

"Verwirrspiele"

Die kommunikative Doppeldeutigkeit scheint gewollt: In der Vergangenheit haben ukrainische Offizielle immer wieder Andeutungen über Operationen gemacht oder gezielt Gerüchte gestreut, als Teil psychologischer Kriegsführung. Ende 2022 etwa suggerierte der ukrainische Präsidentenberater Andrij Jermak auf Twitter, dass ukrainische Truppen die Kinburn-Halbinsel auf der anderen Seite des Dnipro erobert haben könnten – was sich später als (gescheiterte) kleinere Aufklärungsoperation herausstellte.

"Das sind Verwirrspiele", sagt Ralph Thiele von der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V. (pmg). Das Ziel solcher Täuschungsmanöver sei es, Panik bei der russischen Armee auszulösen, nach dem Motto: Die Ukraine kann überall zuschlagen. Auch gehe es darum, die Russen dazu zu zwingen, Kräfte zu verlegen, um ihre Verteidigung an anderen Frontabschnitten auszudünnen. Der Rest sei "Angeberei", so Thiele. Die ukrainische Armee wolle zeigen, wozu sie in der Lage sei.

Vorbote der ukrainischen Gegenoffensive?

Auch der Militärexperte Gustav Gressel hält die Flussüberquerung für militärisch weniger bedeutsam. "Es sind Probeangriffe, um auszutesten, wie stabil die russischen Verteidigungslinien sind." Das Sumpfgebiet am anderen Dnipro-Ufer sei schwer zu überwachen für die Russen und daher ein "perfektes Spielfeld" für ukrainische Spezialkräfte und Sabotageakte, so Gressel. Geprüft werde auch die Reaktionszeit der Russen für eine vielleicht künftige ukrainische Flussüberquerung.

Die Dnipro-Operation hat auch so viel Wirbel ausgelöst, weil manche darin einen Startschuss für die ukrainische Gegenoffensive sehen. Der Gegenangriff, der die von Russland besetzten Gebiete befreien soll, war ursprünglich für das Frühjahr angekündigt. Aufgrund von Lieferverzögerungen bei Waffen und Munition rechnen Experten jedoch erst in ein paar Wochen damit.

Doch könnte die ukrainische Armee, die bereits für einige Überraschungen in dem Krieg gesorgt hat, ihre Offensivoperationen nun doch schon beginnen – an einem Ort, an dem es kaum jemand, und damit auch nicht die Russen, erwartet?

Schlammperiode hält an

Militärexperte Gressel hält das für unwahrscheinlich. Zum einen werde die Hauptstoßrichtung der ukrainischen Offensive voraussichtlich nicht im Gebiet Cherson liegen, so Gressel. Operationen über einen so breiten Fluss wie dem Dnipro seien "komplex", die amphibischen Fähigkeiten der Ukraine zudem begrenzt. Man brauche Anlegemöglichkeiten für Panzer und Artillerie, einen gesicherten Brückenkopf sowie stabile Versorgungslinien über den Fluss. Eine Flussüberquerung mit schwerem Gerät böte aber ein leichtes Ziel für die russische Artillerie.

Ein weiterer Faktor spricht gegen eine jetzt startende Gegenoffensive: das Wetter. Nach dem Frost des Winters kommt nun die ukrainische Schlammperiode. In den Schützengräben staut sich das Wasser, auf den vielen nicht asphaltierten Straßen an der ukrainischen Front bleiben Panzer im Matsch stecken. Gressel rechnet daher erst ab Ende Mai oder Juni mit einem ukrainischen Angriff. "Der Sommer wird für eine Offensive genutzt."

Auch Militärexperte Thiele hält einen großen ukrainischen Vorstoß im Gebiet Cherson für unwahrscheinlich. "Es gibt eigentlich nur zwei Szenarien für die ukrainische Gegenoffensive: der Versuch, die Landbrücke zur Krim zu kappen oder ein Angriff im Donbass." Für synchrone Angriffe an mehreren Frontabschnitten fehlten Kiew schlicht die Kräfte und Ausrüstung.

Thiele rechnet mit einer "sehr blutigen" ersten Phase der ukrainischen Offensive: Erst wenn die Ukrainer unter voraussichtlich hohen Verlusten die befestigten Stellungen der Russen durchbrochen haben, könnten sie das Charkiw-Szenario vom vergangenen Herbst wiederholen: Damals konnten die ukrainischen Streitkräfte im Gebiet Charkiw schnell hinter die russischen Linien vorrücken, was bei den Kreml-Truppen Panik ausgelöst hat, woraufhin viele ihre Stellungen verließen.

Doch der Oberst a.D. ist skeptisch: "Ja, die Russen haben viele dumme Fehler gemacht. Aber sie sind nicht nur dumm und kennen das Gelände inzwischen gut. Für die Ukraine wird es schwer."

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Ralph Thiele
  • Gespräch mit Gustav Gressel
  • Gespräch mit Andrij Tschernjak
  • understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, April 22 2023 (englisch)
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