"Silver Worker" Warum Menschen noch im hohen Alter arbeiten gehen
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Rente schon hinter sich, aber trotzdem noch weiterarbeiten? Sogenannte Silver Worker, also ältere Mitarbeiter, gibt es immer öfter. Aber woran liegt das? t-online geht dem Phänomen auf die Spur.
Werner Pohl ist eigentlich schon seit Jahren in Rente. Doch der 72-jährige Chemiker, der bei Thyssenkrupp angestellt ist, hat keine Lust aufzuhören. Also arbeitet er einfach weiter. "Das Wort Ruhestand mag ich nicht", sagt er. Doch das allein ist nicht der einzige Grund für sein Engagement.
Bei Thyssenkrupp berät er Kunden, die Chemieanlagen gekauft haben. "Wenn nicht alles so funktioniert, wie es sollte, helfe ich mit, die Fehler zu beheben." Dafür reise er in normalen Zeiten quer um den Globus, auch jetzt nach seinem Renteneintritt. "Die Arbeit erfüllt mich, sie verschafft mir Abwechslung und bereichert mein Leben."
Das war nicht immer so. "Als ich Mitte 30 war, wollte ich nicht länger als 50 arbeiten. Doch im Leben kommt es nun mal anders." Er habe spät geheiratet und zwei Söhne bekommen. "Die studieren jetzt, außerdem haben wir noch einmal angebaut", sagt Pohl. "Da können wir meinen Verdienst gut gebrauchen."
Das sind die Gründe der Silver Worker
So wie Pohl geht es immer mehr Seniorinnen und Senioren in Deutschland. Gingen 2010 lediglich 9 Prozent der 65- bis 69-Jährigen noch arbeiten, waren es laut dem Statistischen Bundesamt nur zehn Jahre später bereits 17 Prozent. Das sind mehr als 830.000 Menschen in Deutschland.
- Renteneintrittsalter: Wann Sie in Rente gehen können
Einer, der sich mit dem Phänomen auskennt, ist Jürgen Deller. Deller ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit Jahren forscht er zu sogenannten Silver Workern, Menschen also, die auch nach dem Überschreiten des regulären Rentenalters weiterhin arbeiten.
"Die Motivation von Silver Workern ist sehr vielfältig", sagt er t-online. Deller hat über die Jahre eine ganze Reihe von Gründen herausgefunden, die Ältere antreibe weiterzuarbeiten. Einige von ihnen können auch zusammenfallen:
- Sozialkontakte: Gerade Menschen, die keinen Ehepartner oder keine Enkelkinder haben, können sich schnell alleine fühlen. Sie suchten sich eher noch einen Job, um mit anderen in Kontakt zu kommen, so Deller.
- Rhythmus für den Alltag: "Rentner wissen oftmals nicht, wie sie den Tag strukturieren, wenn der Taktgeber 'Arbeit' wegfällt", erklärt der Experte. Daher könnte ein Job neben der Rente helfen.
- Wertschätzung: Wer sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, falle schnell in ein Loch, wenn er in Rente gehe, sagt Deller. "Mit einem Job können sich Menschen nützlich machen. Das gibt ihnen das Gefühl, weiterhin Teil der Gesellschaft zu sein."
- Freude am Lernen: Einigen Menschen bereite es auch große Freude, stets etwas Neues zu lernen, erläutert der Wirtschaftspsychologe. Hier könne die Arbeit im Rentenalter ebenfalls helfen.
Unternehmen können von älteren Arbeitnehmern profitieren
Doch auch für Unternehmen bieten ältere Arbeitnehmer echte Vorteile. Denn in manchen Branchen wird es ob des Fachkräftemangels immer schwieriger, freie Stellen zu besetzen, etwa im medizinischen Bereich. Daher kann es für Firmen praktisch sein, Menschen im Ruhestand zu reaktivieren – oder sie einzustellen.
Damit einher geht der Pluspunkt, dass ältere Mitarbeiter nicht neu eingearbeitet werden müssen. Außerdem, so Experte Deller: "Silver Worker sind erfahren. Sie haben über ihr gesamtes Berufsleben ein breites Wissen angehäuft, das sie an die jüngere Generation weitergeben können." Viele Firmen stellen sich trotzdem noch quer, Rentnerinnen und Rentner einzustellen oder weiterzubeschäftigen. Besonders gilt das für Mittelständler.
Firmen schrecken noch zurück
Bei Werner Pohl und Thyssenkrupp hingegen hat es gut geklappt. Das lag auch daran, dass es bei dem Industriekonzern extra eine firmeninterne Agentur gab, die die älteren Arbeitnehmer vermittelt. "Ich bin froh, dass ich noch arbeiten gehen kann", so Pohl, der 2015 in Rente ging, aber trotzdem noch weiterarbeitet, mit einem Jahr Unterbrechung in der Corona-Krise.
"Wegen der Unsicherheiten hat mir das Unternehmen den Vertrag nicht verlängert", sagt er. "Das Jahr Zwangsrente war ganz schön, aber hat mir auch gezeigt: Ich will noch weitermachen."
Vorurteile gegenüber älteren Mitarbeitern
Anderswo sei das nicht immer ganz so einfach, weiß Christine Epler. Sie ist Vorständin im Demographie-Netzwerk, einer Initiative, die unter anderem Firmen beim Umgang mit Silver Workern unterstützen will.
"Die Vorurteile gegenüber arbeitenden Senioren sind oftmals noch sehr groß", sagt Epler t-online. Sie ist hauptberuflich bei der Deutschen Bahn für Diversity-Themen zuständig – also auch für Silver Worker. "Personaler glauben, dass Senioren öfter krank sind als jüngere Arbeitnehmer. Das stimmt so aber nicht."
Den Krankheitsmythos kennt auch Wissenschaftler Deller. "Senioren fallen seltener aus als ihre jungen Kollegen", widerspricht er. "Nur wenn, dann länger." Dem könnte ein Unternehmen entgegenwirken, beispielsweise über befristete Verträge wie bei Werner Pohl. Zudem müssten Konzerne investieren, etwa in Gesundheitschecks, Betriebssport und komfortable Arbeitsplätze.
"Dürfen ältere Menschen nicht aus dem Auge verlieren"
Allerdings müssten sich die Firmen von dem Gedanken lösen, dass nur hoch ausgebildete Menschen im Alter Vollzeit arbeiten gehen, sagt Deller. Die Mehrheit seien stets noch 450-Euro-Jobber, die beispielsweise für eine Reise mit den Enkeln etwas dazuverdienen möchten.
Und vielen Menschen ist es schlichtweg nicht möglich, im Ruhestand weiterzuarbeiten, besonders in körperlich fordernden Berufen wie dem Handwerk oder der Pflege. Dem will das Demographie-Netzwerk ebenfalls begegnen. So hat es ein Projekt aufgelegt, bei dem Menschen aus körperlich anspruchsvollen Berufen umgeschult und weitergebildet werden.
Doch manche Menschen wollen schlicht auch ihren Ruhestand genießen, sagt sie. Klar sei in jedem Fall: "Wir dürfen ältere Menschen nicht aus dem Auge verlieren", fordert Epler. "Das ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft."
Ampel will Corona-Regel dauerhaft festschreiben
Dennoch ist hier noch jede Menge Handlungsbedarf, das wissen alle Beteiligten – auch die entsprechenden Fachpolitiker der Ampelparteien. Sie haben sich unter anderem in den Koalitionsvertrag geschrieben, die sogenannte Flexirente bekannter zu machen. Dadurch soll es mehr Menschen ermöglicht werden, länger zu arbeiten.
Angesichts des demografischen Wandels und der steigenden Lebenserwartung sei es dringend geboten, dass noch mehr Menschen im Alter arbeiten gehen, so Deller. "Senioren sollten nicht aufs Abstellgleis geraten."
Zunächst will die Ampel die Hinzuverdienstgrenze für Frührentner, die wegen der Corona-Krise auf 46.060 Euro ausgeweitet wurde, aber dauerhaft festschreiben. Deller findet den Plan gut. "Alles andere wäre auch unfair", so Deller.
"Trotzdem sollten diejenigen, die länger arbeiten können, Menschen, die das nicht können, finanziell unterstützen. Menschen, die weiterarbeiten gehen, sollten weiter in die Rentenkasse einzahlen müssen. Das ist gelebte Solidarität:"
Aktuell müssen nur Frührentner noch einzahlen. Senioren, die die Regelaltersgrenze erreicht haben, können freiwillig einzahlen, sind aber nicht dazu verpflichtet. Fraglich ist allerdings, ob das tatsächlich Realität wird. Im Koalitionsvertrag findet sich ein solcher Plan nicht.
"Senioren sollten einen wichtigen Part spielen"
Fest steht hingegen, dass das Phänomen Silver Worker künftig noch zunehmen wird. "Ich gehe davon aus, dass in wenigen Jahren ein größerer Anteil der Rentner arbeiten oder ehrenamtlich aktiv sein wird", prognostiziert Deller.
Auch Epler vom Demographie-Netzwerk spricht von einem "tiefgreifenden Wandel". Aktuell verändere sich die Arbeitswelt sehr stark. "Und Senioren sollten hier einen wichtigen Part spielen", sagt sie. "Davon haben dann am Ende alle etwas."
- Eigene Recherche
- Telefonat mit Werner Pohl
- Videointerview mit Christine Epler
- Videointerview mit Jürgen Deller
- Demographie-Netzwerk
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa