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Türkei: "Sehr viel falsch gemacht" – Lira-Krise bringt Erdogan in Not


Lira-Krise erschüttert Erdogans Machtbasis

Von Patrick Diekmann, Istanbul

Aktualisiert am 28.06.2019Lesedauer: 5 Min.
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Recep Tayyip Erdogan mit seiner Frau Emine: Der türkische Präsident hat im eigenen Land mit einer Währungskrise zu kämpfen.Vergrößern des Bildes
Recep Tayyip Erdogan mit seiner Frau Emine: Der türkische Präsident hat im eigenen Land mit einer Währungskrise zu kämpfen. (Quelle: Reuters-bilder)

Erdogans Machtbasis in der Türkei bekommt Risse. Die Wahlniederlage seiner AKP in Istanbul hat auch mit der Wirtschaftskrise im Land zu tun. Der Verfall der Lira trifft viele Menschen in ihrem Alltag.

Es herrscht geschäftiges Treiben in Istanbul. Auf der Istiklal, der großen zentralen Einkaufsstraße der Stadt, sind am Abend tausende Menschen unterwegs. Jugendliche tragen große Einkaufstaschen hinter sich her, unweit davon kauft sich eine junge vierköpfige Familie Maraş, das traditionell türkische Eis. Auf den ersten Blick deutet in der Millionenmetropole wenig darauf hin, dass sich die Türkei in einer schweren wirtschaftlichen Krise befindet. Nur viele kleine Details fallen auf, auch in der Innenstadt. Etwa bei den zahlreichen kleinen Märkten, die Zeitschriften und Zeitungen auf der Straße präsentieren. Manche Magazine haben ihr Format verkleinert, in den letzten Jahren gleich mehrfach. Weil das Papier zu teuer geworden ist.

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Der Verfall der türkischen Währung, der Lira, hat in den vergangenen Jahren das Leben vieler Türken verändert. Alltägliche Waren wurden teurer, der Gang zum Supermarkt wird für Teile der Bevölkerung zur Existenzfrage. Der Ärger in der Bevölkerung wächst. Sollte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan diese Probleme nicht in den Griff bekommen, könnte seine Machtbasis zerbrechen.

"Stecken in der Zwickmühle"

In der großen Istanbuler Einkaufsstraße sitzen drei Mitarbeiter im Eingangsbereich eines Handyladens. Kunden sind keine da. Der Währungsverfall zeigt sich dort besonders deutlich, wo die Produkte teuer sind. Gerade Elektronikgeschäfte sind betroffen. Handys, Kameras, Computer – solche Produkte importiert die Türkei. Wegen der Abwertung der Lira haben sich die Preise deutlich erhöht.

"Wir stecken in einer Zwickmühle", erklärt Elyas* (36), der Inhaber eines anderen Technikgeschäfts ist. "Wir müssen unsere Produkte teurer einkaufen, aber die Menschen können sich die Preise nicht leisten. Also verkaufen wir sie billiger, manchmal sogar mit Verlusten", erzählt er: "Ich habe die Wahl, zu wenig Geld oder gar kein Geld zu verdienen." Kollegen würden teilweise ihre Läden schließen oder bestimmte Ware gar nicht mehr anbieten. Elyas heißt eigentlich nicht Elyas. Aber seinen richtigen Namen will er nicht in Medien lesen. Die Wirtschaftskrise zu beschreiben oder gar der Regierung die Verantwortung dafür zu geben, ist politisch heikel.

Die Kameras, Laptops und Drucker, die Elyas in seinem Laden anbietet, werden importiert, ihr Preis ist in Euro ausgewiesen. Schlecht für türkische Kunden: Noch im Jahr 2016 bekam man einen Euro für 3,24 Lira, heute muss man 6,50 zahlen. Der Wert der türkischen Währung hat sich im Vergleich zum Euro halbiert.

Preise steigen rasant

Das verteuert nicht nur Elektronik. Die Türkei weist ein massives Außenhandelsdefizit auf, importiert also viel mehr, als sie exportiert. Auch Waren wie Papier für Zeitungen, oder Lebensmittel sind betroffen.

Was das heißt, zeigt sich im Supermarkt: "Ich habe gerade gerade für 210 Lira eingekauft. Früher habe ich dafür nur 140 Lira gezahlt", sagt Dana (35), die gerade in einem kleinen Markt an der Kasse steht. "Alles ist teurer geworden. Das Leben in der Türkei wird immer schwerer." Sie arbeitet in der Marketing-Abteilung eines großen TV-Senders, oft mehr als 45 Stunden in der Woche. Trotzdem muss sie aufpassen: "Bestimmte Dinge in den Märkten kaufen wir einfach nicht mehr. Besonders Gemüse und Zigaretten sind viel zu teuer geworden."

Die durchschnittlichen Verbraucherpreise stiegen laut dem türkischen Statistikamt im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat um 18,7 Prozent. Allein Lebensmittel wurden in dem Zeitraum durchschnittlich um knapp 27 Prozent teurer, Haushaltsgeräte um 28 Prozent. Zuletzt stiegen auch die Preise für Tabak, Alkohol und die öffentlichen Verkehrsmittel.

Mehrere Kreditkarten

Dazu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit von aktuell 14,1 Prozent. Und die Löhne derjenigen, die einen Job haben, sind weitgehend gleich geblieben oder nur marginal an die Inflation angepasst worden. Dadurch stehen viele Türken vor der grundsätzlichen Frage, wie sie ihre Familien versorgen sollen. Auch die Mittelschicht ist betroffen. Es wird beispielsweise teurer, Kinder zur Schule zu schicken.

Trotzdem versuchen die Menschen, ihren Lebensstandard zu halten. Viele Familien haben gleich mehrere Kreditkarten, kaum irgendwo sonst auf der Welt sind Privathaushalte so hoch verschuldet. "Wir versuchen unser normales Leben weiterzuführen und geben unsere Ersparnisse aus, bis hoffentlich wieder bessere Zeiten kommen", sagt Gülsen* (45), die mit ihrer Familien in einem Restaurant in einer Seitenstraßen der Istiklal sitzt. Auch sie heißt eigentlich anders.


Die Niedergang der Lira ist überwiegend hausgemacht. Die Türkei finanzierte ihren rasanten wirtschaftlichen Aufschwung oft auf Pump. Für Kredite gab es auf Bestreben Erdogans immer niedrige Zinsen, dadurch stieg die Inflation. Die türkische Notenbank erhöhte die Zinsen erst im Frühjahr 2018 deutlich, trotz Kritik von Erdogan. Durch den Versuch, sich in die Angelegenheiten der unabhängigen Notenbank einzumischen, verlor die türkische Regierung an Vertrauen bei ausländischen Investoren. Erdogan sorgte auch durch andere Maßnahmen für den Vertrauensverlust, durch politische Streitigkeiten etwa mit Deutschland und den USA und durch seinen autoritären Politikstil. Zuletzt mit der Annullierung der Bürgermeisterwahl in Istanbul.

Niederlage in Istanbul

"Die Märkte suchen Stabilität. Und wenn bestimmte gesellschaftliche Regeln, wie zum Beispiel die Akzeptanz eines Wahlergebnisses, nicht mehr gelten, schadet dies auch maßgeblich dem Vertrauen in die Währung", sagt Kristian Brakel, Leiter des Istanbuler Büros der Heinrich-Böll-Stiftung: "Die aktuelle Wirtschaftskrise hat deshalb natürlich direkten und indirekten Einfluss auf die aktuelle politische Lage in der Türkei und erklärt auch einen Stück weit das Wahlergebnis in Istanbul." Bei der Wahl in Istanbul hatte der vorher unbekannte CHP-Politiker Ekrem Imamoglu den AKP-Kandidaten Binali Yildirim deutlich geschlagen.

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Bislang bekam die türkische Regierung die Krise nicht in den Griff. Erdogan gibt Währungsspekulanten und dem Ausland die Schuld für den Zustand der eigenen Währung. Er spricht von einem Wirtschaftskrieg, ruft zur Verteidigung der Türkei auf. Die türkische Regierung begann eine Jagd auf ausländische Devisen: Erdogan forderte die türkische Bevölkerung auf, ihre Ersparnisse in Fremdwährungen in Lira umzutauschen. Viele seiner Anhänger taten dies.

Ein bekanntes Reisebusunternehmen aus Istanbul bot pro 500 Dollar, die in Lira umgetauscht werden, eine Freifahrt zu einem beliebigen Ziel an. "Wir haben es mit einem Wirtschaftsputsch zu tun. Deshalb haben wir uns auf den Befehl unseres Präsidenten überlegt, wie wir ihn mit unserem Unternehmen unterstützen können", erklärte jüngst der Metro-Geschäftsführer Erdal Öztürk in einem Beitrag des Fernsehsenders Arte.

Bedrohung für Erdogan

Geholfen haben all diese Maßnahmen nicht. Die Schulden des türkischen Staates und der Unternehmen sind überwiegend in Dollar oder in Euro berechnet, die Schuldenlast nimmt also durch den Wertverlust der Lira immer weiter zu. Erdogans AKP war für viele Wähler aufgrund des wirtschaftlichen Erfolgs der Türkei in den letzten zwei Jahrzehnten attraktiv. Die Zuschreibung wirtschaftlicher Kompetenz bekommt nun Risse, und damit auch das Machtfundament Erdogans. Das macht die Lage für den Präsidenten so gefährlich. Gegenwind kommt auch aus der eigenen Partei, schon länger wird über eine Abspaltung von wirtschaftsliberalen Kräften in der AKP und über eine Parteineugründung spekuliert.


Bleibt die Krise, könnte Erdogan Probleme bekommen. "Der Präsident gibt dem Ausland die Schuld, aber auch die türkische Regierung hat sehr viel falsch gemacht", sagt die 45-jährige Gülsen. "Es profitieren gerade nur die Menschen, die Waren ins Ausland verkaufen oder vom Tourismus leben", sagt sie. "Ich habe AKP gewählt, aber wenn es mit der Wirtschaft nicht besser wird, braucht die Türkei vielleicht einen anderen Präsidenten."

*Name geändert. Die echten Namen sind der Redaktion bekannt.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
  • Bericht von Arte
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