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Delta-Variante in Deutschland: Der Corona-Alarm, den niemand hören will


Delta-Variante in Europa
Der Corona-Alarm, den niemand hören will

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 22.07.2021Lesedauer: 8 Min.
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Paris: Hunderte Menschen demonstrieren gegen die Corona-Maßnahmen.Vergrößern des Bildes
Paris: Hunderte Menschen demonstrieren gegen die Corona-Maßnahmen. (Quelle: imago-images-bilder)

Durch die verheerende Flutkatastrophe gerät die Corona-Pandemie in Deutschland etwas in Vergessenheit. Dabei spitzt sich die Lage in Westeuropa dramatisch zu, die vierte Welle ist da. Ein Überblick.

Deutschland kämpft dieser Tage vor allem gegen Hochwasser und Schlamm. Die verheerenden Zerstörungen der Jahrhundertflut in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sorgen für große Anteilnahme im Land und fordern viel Aufmerksamkeit durch Politik und Medien. Die Katastrophe kam zu einer Zeit, in der die Gefahr durch eine andere große Krise wieder größer wird.

Oberflächlich betrachtet ist die Lage in der Corona-Pandemie in Deutschland wie im vergangenen Sommer: die Sieben-Tage-Inzidenz liegt aktuell nur bei 11,4 Infektionen pro 100.000 Einwohner, die Bevölkerung ist müde, genießt sichtlich die Pause von den schlechten Nachrichten in der Pandemie. Viele Deutsche sprechen aktuell wohl über Urlaub, nicht über Lockdowns.

Das Delta-Gespenst am Horizont

Dabei sind die Aussichten nicht unbedingt gut. Die nächste Corona-Welle steht vor der Tür: In vielen Ländern in West- und Mitteleuropa hat sich die Delta-Variante schon ausgebreitet, die Zahl der Neuinfektionen steigt rasant an. Dennoch scheint Deutschland erneut Glück in dieser Pandemie zu haben, die Welle ist in der Bundesrepublik noch nicht angekommen. Aber die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen: Sie wird kommen, eher früher als später.

Trotzdem scheint sich diese Gefahr in der Bevölkerung momentan nicht zu verfangen, die Impfbereitschaft im Land sinkt. Momentan sind in Deutschland 47 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, zu wenig für eine Herdenimmunität. Dabei gibt es erstmals in dieser Pandemie ein Überangebot an Impfstoff – während ein Großteil der Welt noch immer auf ausreichend Vakzine wartet, stocken die Impfkampagnen in Nordamerika und Europa.

Ein weiterer Lockdown im Herbst?

Die deutsche Politik und die Bevölkerung hat erneut die Chance, sich die Entwicklung in den Nachbarländern anzuschauen, bevor die Welle auch in die Bundesrepublik schwappt. Die Bundesregierung versprach bereits, keinen Lockdown mehr im Herbst zu verhängen. Aber die Corona-Krise hat in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, wie schnell sich die Lage grundlegend ändern kann. Deshalb kommen derartige Zusagen eventuell verfrüht.

In jedem Fall sind die Probleme in den Nachbarländern Deutschlands schon jetzt deutlich sichtbar: Die Delta-Variante führte zu einem sprunghaften Anstieg der Infektionen, zu mehr Intensivpatienten in den Krankenhäusern, aber auch Geimpfte werden häufiger krank.

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Trotzdem gibt es eine gute Nachricht: Impfungen schützen auch vor der Delta-Variante. Wenn man gleichzeitig viele Todesopfer verhindern möchte, erscheint im Angesicht der gefährlicheren Mutanten ein Leben mit dem Virus aber nur dann möglich, wenn sich möglichst viele Menschen impfen lassen.

Zur Einschätzung der Gefahr empfiehlt sich ein Blick in die Länder, die aktuell schon mit der Delta-Variante kämpfen. Dabei fallen vor allem unterschiedliche Strategien der jeweiligen Regierungen auf:

Großbritannien – die Spieler (Sieben-Tage-Inzidenz: 489,3 ; Vollständig geimpft: 53,3 Prozent)

Volle Fußball-Stadien, volle Straßen und volle Clubs in London: Die britische Regierung betreibt ein gefährliches Spiel mit dem Virus. Premierminister Boris Johnson verkündete den "Freedom Day" – das Ende aller Corona-Maßnahmen in England –, während er selbst in Quarantäne saß. Sein Gesundheitsminister Sajid Javi wurde positiv auf das Coronavirus getestet, obwohl er geimpft ist. In Großbritannien wurde das zu einem Freudentag mit fadem Beigeschmack.

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Die Delta-Variante hat im europäischen Vergleich auf der Insel die größte Ausbreitung. Die hochansteckende Virusmutation lässt die Zahl der Infektionen immer weiter ansteigen. Ein Abflachen der Welle ist nicht in Sicht, die Sieben-Tage-Inzidenz wurde zuletzt mit 489,3 angegeben (Stand: 21. Juli). Fast täglich werden mehr als 50.000 neue Fälle registriert – beinahe so viele wie zum Höhepunkt der zweiten Welle zum Jahreswechsel.

Trotzdem steht die englische Strategie nun ganz unter dem Motto: Eigenverantwortung. Masken sind seit Montag an den meisten Orten freiwillig, genauso wie Abstandhalten. Es gibt keine Beschränkungen mehr für Clubs oder private Partys, auch Theater und Kinos dürfen ihre Säle voll besetzen. Tausende Feierwütige begrüßten ihre neugewonnene Freiheit schon in den frühen Morgenstunden mit der ersten Clubnacht seit Monaten. "Wann sollten wir es tun, wenn nicht jetzt?", fragte Johnson am Montag bei einer virtuellen Pressekonferenz direkt aus der Quarantäne. Im Herbst oder Winter werde die Situation noch schwieriger sein.

Weitreichende Lockerungen bei hoher Impfquote, aber auch extrem hohen Infektionszahlen: Es ist ein Experiment, das so noch kaum ein Land ausprobiert hatte. Und bereits jetzt, noch weit vor dem mutmaßlichen Höhepunkt der aktuellen Welle, zeigt sich, dass Freiheit und Pandemie nicht so recht zusammenpassen wollen: Rund 1,7 Millionen Briten befinden sich einem Bericht zufolge derzeit in Quarantäne, weil sie als enge Kontakte von Infizierten durch die Corona-App "gepingt" oder vom Gesundheitsdienst angerufen wurden.

Dem Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College in London zufolge ist es "beinahe unausweichlich", dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen die Marke von 100.000 bald überschreitet. "Die echte Frage ist, ob es sogar doppelt so viel wird, oder sogar noch mehr", sagte Ferguson der BBC am Sonntag. Im schlimmsten Fall, wenn die Zahl der Krankenhauseinweisungen 2.000 oder 3.000 täglich erreiche, müssten doch wieder Maßnahmen ergriffen werden, um die Lage wieder in den Griff zu kriegen, warnte er.

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Wie ist die Lage in den Krankenhäusern? Nur in Großbritannien lässt sich die Auswirkung der Delta-Verbreitung auf die Auslastung der Krankenhäuser ermessen, weil die Mutante schon länger im Land ist und weil sie auf eine Bevölkerung trifft, die im Vergleich zahlreich geimpft ist.

Großbritannien meldet keine gesonderten Intensivzahlen, nur die Zahl der Patienten, die beatmet werden müssen. Am 10. Juli gab es nur 417 Beatmungspatienten – die bisherige Höchstzahl hat am 24. Januar 4.077 betragen. Trotzdem schlagen zahlreiche Mediziner in den britischen Medien Alarm. "Es ist entsetzlich: Die Krankenhäuser stehen kurz davor, damit nicht fertig zu werden", schreibt ein Mediziner in einem Leserbrief im "Guardian". "Wir bringen auch mehr Menschen ins Krankenhaus, denen es wirklich schlecht geht, weil sie während des Lockdowns auf eine Behandlung warten mussten."

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Frankreich – die Vorsichtigen (Sieben-Tage-Inzidenz: 102,7 ; Vollständig geimpft: 42,2 Prozent)

In Frankreich brennt wieder die Luft. Mehr als 100.000 Menschen haben am Wochenende gegen die jüngsten Corona-Maßnahmen der Regierung demonstriert. Nach Angaben des Innenministeriums in Paris fanden am Samstag landesweit 136 solcher Proteste statt, an denen insgesamt rund 114.000 Menschen teilnahmen. In Paris gab es mehrere Protestmärsche gegen die Corona-Auflagen.

An der größten Demonstration in der Hauptstadt beteiligten sich den Ministeriums-Angaben zufolge rund 10.000 Menschen. Dabei ertönten Rufe nach dem Rücktritt von Präsident Emmanuel Macron. Auch der Slogan "Nein zur Gesundheits-Diktatur" erschallte.

Die Regierung begründet die Maßnahmen mit der hoch ansteckenden Delta-Variante, die in Frankreich mittlerweile vorherrschend ist. Am Dienstag waren mehr als 18.000 Neuinfektionen gemessen worden, der höchste Stand seit Mitte Mai. In den Krankenhäusern macht sich der Anstieg bisher nicht bemerkbar.

Mitte Juli hatte Staatschef Emmanuel Macron strengere Corona-Regeln verhängt. Demnach gibt es nur noch mit Impf-, Test- oder Genesungsnachweis Zugang zu Kultureinrichtungen – das gilt auch für Touristen. Ab August soll das auch für Fernzüge, Reisebusse, Cafés, Restaurants und Einkaufszentren gelten. Kinder sind von der Regelung bis Ende August ausgenommen. Die Impfungen sollen damit voran getrieben werden. Mindestens eine Impfung hat bisher mehr als die Hälfte der französischen Bevölkerung erhalten.

Touristen oder andere Frankreich-Reisende aus dem Ausland können eine vollständige Impfung etwa mit dem EU-weit gültigen Corona-Zertifikat auf dem Handy nachweisen. Ein negativer Corona-Test darf in der Regel höchstens 48 Stunden alt sein und kann auch in Papierform vorliegen. Bei Verstößen drohen Geldbußen von bis zu 1.500 Euro.

Am Pariser Eiffelturm wurden eigene Testzelte errichtet. Dort können Besucher ohne Impfung einen Antigen-Schnelltest machen, wie die Betreiber mitteilten. Ausländische Touristen müssen dafür den Standardpreis von 25 Euro bezahlen.

Spanien – die Ängstlichen (Sieben-Tage-Inzidenz: 372,3 ; Vollständig geimpft: 52 Prozent)

Nachdem sich die Delta-Mutante stark in Portugal verbreitete und die dortige Regierung viele Lockerungen wieder zurücknehmen musste, war vielen Menschen in Spanien klar, dass sich die Situation auch bei ihnen schnell wieder zuspitzen würde.

Dabei hatte man sich vor allem eine Sache in diesem Sommer erhofft: Mehr Zeit, um zumindest einen großen Teil der Urlaubssaison im Sommer ohne größere Corona-Einschränkungen erleben zu können. Zu groß ist die wirtschaftliche Abhängigkeit des Landes vom Tourismus, zu groß ist die Angst vor Ausfällen wie im Jahr 2020. Der Tourismus trägt in normalen Zeiten mehr als zwölf Prozent zum spanischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei.

Aber in einigen Regionen ist die Lage mittlerweile schon wieder dramatisch, besonders dort, wo viele Touristen sind. Die Sieben-Tage-Inzidenz auf Mallorca liegt bei über 330, die Regionalregierung der Insel reagierte. So schloss sie beispielsweise nachts die Strände, um Partys zu verhindern. Im Hotspot Katalonien mit der Touristenmetropole Barcelona gingen die Zahlen hingegen erstmals wieder leicht zurück. Die Inzidenz sank von 612 am Montag auf 579 am Dienstag.

Alle Daten, auch die für ganz Spanien mit 372, liegen allerdings weit über der Marke von 200, ab der Deutschland eine Region oder ein ganzes Land zum Hochinzidenzgebiet erklären kann. Dann kommt auf Rückkehrer, die nicht vollständig geimpft oder von Corona genesen sind, eine Quarantäne von mindestens fünf Tagen zu.

Angesichts hoher Infektionszahlen äußerte sich die Tourismusbranche pessimistisch über die laufende Sommersaison. Es gebe einen "plötzlichen Rückgang" bei den Buchungen ausländischer Urlauber, berichtete der staatliche TV-Sender RTVE am Samstag unter Berufung auf den Vizepräsidenten des spanischen Tourismusverbandes Exceltur, José Luis Zoreda.

Zur Eindämmung der Pandemie haben einige Regionen wieder nächtliche Ausgangssperren in einzelnen Kommunen zwischen 1 und 6 Uhr eingeführt – etwa Katalonien sowie Valencia und Kantabrien. Bereits 8 Millionen der 47 Millionen Einwohner Spaniens seien davon betroffen, schrieb die Zeitung "El País".

Immerhin: Die Lage in den Krankenhäusern ist bisher nicht so angespannt wie bei früheren Wellen. Knapp zehn Prozent aller Betten auf Intensivstationen sind mit Corona-Patienten belegt. Das liegt vor allem an der Impfkampagne. Gut 61 Prozent aller Spanier haben mindestens eine Corona-Impfung erhalten, knapp 50 Prozent sind vollständig geimpft.

Spanien steht exemplarisch für Länder wie Portugal oder Griechenland, die vom Tourismus abhängig sind und momentan durch die Delta-Welle mindestens als Risikogebiet eingestuft werden. Auch Italien verzeichnet einen starken Anstieg der Infektionen: In der Hauptstadt Rom liegt die Inzidenz bei über 550, was Experten mit den Feierlichkeiten nach dem EM-Sieg in Verbindung bringen.

"Wollen wir das passieren lassen?"

Aus deutscher Perspektive heißt es, dass sich die vierte Corona-Welle vom Westen nähert, auch die Niederlande (408,8) und Dänemark (115,8) ringen mit hohen Inzidenzwerten. Das weiß auch die Bundesregierung und rechnet mit einem Anstieg der Infektionszahlen in Deutschland.

Gesundheitsminister Jens Spahn mahnte am Mittwoch, Schutzmaßnahmen nicht zu vernachlässigen. "Wenn sich das so weiter verdoppelt, alle zwölf Tage, dann werden wir im September die 400 überschreiten, im Oktober 800", sagte der CDU-Politiker. Alle miteinander müssten sich die Frage stellen, "wollen wir das passieren lassen".

Spahn wies darauf hin, wie wichtig es sei, Schulen und Kitas in einem Umfeld niedriger Ansteckungen zu öffnen. Er rief dazu auf, die bekannten Maßnahmen einzuhalten. "Es geht darum, Maske im Innenraum tragen. Sich regelmäßig testen lassen. Wenn man noch nicht geimpft ist, sich impfen lassen", sagte er. "Wir entscheiden jetzt, jetzt in diesen Tagen des Julis darüber, wie September, Oktober, November werden."

Die Bundesregierung möchte auf jeden Fall einen weiteren Lockdown verhindern. Viel wird von der Bevölkerung abhängen, vom Impfen und von der Einhaltung der Abstandsregeln. Auch wenn die Hoffnung der Menschen eine andere ist: Corona wird in den nächsten Monaten wieder Thema werden, auch wenn im September eine Bundestagswahl ist. Die Alarmsignale aus dem Ausland sind schon jetzt da, sie müssen nur gehört werden.

Verwendete Quellen
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