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Ukraine: Kanzler Scholz soll zu Selenskyj reisen – doch es herrscht dicke Luft


Scholz und Selenskyj
Es herrscht dicke Luft


14.06.2022Lesedauer: 7 Min.
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Ukraine: Selenskyj fordert klare Hilfen von Scholz und übt Kritik an Deutschland. (Quelle: dpa)

Es wird spekuliert, dass Olaf Scholz in diesen Tagen Wolodymyr Selenskyj in Kiew trifft. Das Verhältnis war zuletzt höchst angespannt – womöglich ändert auch der langersehnte Besuch des Kanzlers nichts daran.

"Ich glaube, dass es wirklich eine gute Sache wäre, wenn der eine oder andere noch mal kurz überlegt, bevor er seine Meinung zu dem einen oder anderen Thema äußert", sagte Olaf Scholz am Montag – angesprochen auf die Kritik am Tempo der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Sofort stellt sich die Frage: Richtet sich die Aussage des Bundeskanzlers an den ukrainischen Präsidenten?

Immer wieder kritisiert Wolodymyr Selenskyj, dass der Westen die Ukraine zu wenig unterstütze und dass Waffenlieferungen, insbesondere aus Deutschland, zu zögerlich kämen. Scholz weist diese Vorwürfe stets zurück: Man liefere verhältnismäßig viele Waffen.

Stimmung ist seit Monaten angespannt

Die Stimmung zwischen der Bundesrepublik und dem Land, das vor drei Monaten von Russland überfallen wurde, ist angespannt. Anfang April kam es bereits zu Irritationen, als Selenskyj den Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew ablehnte, weil dieser aus seiner Sicht als damaliger SPD-Außenminister eine prorussische Politik verfolgt habe. Scholz wollte daraufhin ebenso nicht in die Ukraine fahren, die Ausladung des Bundespräsidenten stehe seiner Reise im Weg. Später hieß es, Scholz besuche Kiew erst, wenn es konkrete Dinge zu besprechen gebe.

Der Steinmeier-Konflikt wurde wenig später ausgeräumt, doch es scheint, als blieben die Spannungen bestehen: Anfang Mai warf Selenskyj Scholz "Heuchelei" mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine vor. Einerseits würden Sanktionen verhängt, gleichzeitig aber auch Verträge mit Russland unterschrieben.

Scholz soll in den kommenden Tagen nach Kiew reisen

Dennoch ist nun aber offenbar der Zeitpunkt eines Besuchs gekommen: Berichten zufolge macht sich der Kanzler am Donnerstag mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Premier Mario Draghi auf den Weg in die ukrainische Hauptstadt. Im Fokus steht dann vor allem das Treffen mit Präsident Selenskyj. Aber wie kann ein solches Gespräch ablaufen, wenn im Voraus dicke Luft herrscht?

"Es geht nicht um das persönliche Verhältnis zwischen den beiden Männern, oder ob sie sich mögen oder nicht", erklärt Konfliktforscher Ulrich Wagner von der Universität Marburg t-online. Die Gespräche seien stark von äußeren Kräften geprägt. Beide Politiker stünden unter enormen Druck, auch der eigenen Bevölkerung.

Prof. Dr. Ulrich Wagner (*1951) ist Professor an der Philips-Universität Marburg. Er ist Konfliktforscher und Sozialpsychologe.

Was bedeutet das? Der ukrainische Präsident auf der einen Seite ist angesichts der stockenden Waffenlieferungen aus der Bundesrepublik verärgert. Zwar kündigte Scholz in den vergangenen Wochen an, mehr Panzer in die Ukraine zu schicken – aber Woche für Woche vergeht, ohne dass weiteres schweres Gerät aus Deutschland im Krieg eingesetzt werden kann.

Probleme bei Waffenlieferungen

Aber wie ist der Stand bei den Waffenlieferungen? Bereits zugesagt hat die Bundesregierung sieben Panzerhaubitzen, vier Mehrfachraketenwerfer, etwa 50 Flugabwehrpanzer vom Typ Gepard und ein Raketenabwehrsystem vom Typ Iris-T. Die Ukraine erwartet, dass die ersten Panzerhaubitzen innerhalb der nächsten beiden Wochen eintreffen. Die Ausbildung der rund 95 ukrainischen Soldaten an dem Artilleriegeschütz soll laut "Pioneer" Mitte dieser Woche abgeschlossen sein.

Die Lieferung der ersten Gepard-Flugabwehrpanzer sei für Juli geplant, heißt es aus ukrainischen Regierungskreisen. Berichten zufolge sollen 15 weitere Ende August oder im September folgen. Allerdings gibt es nicht mehr als 59.000 Schuss Munition. Offen ist, was passiert, wenn die verbraucht sind.

Auch das Raketenabwehrsystem Iris-T lässt auf sich warten und wird frühestens im Oktober oder, wie mehrere Medien berichteten, im November oder Dezember im Kriegsgebiet ankommen. Mit dem modernen, in Deutschland entwickelten System könne die Ukraine "eine ganze Großstadt vor russischen Luftangriffen schützen", sagte Scholz zuletzt im Bundestag. Aber: Die versprochene Iris-T-Einheit sollte ursprünglich an Ägypten geliefert werden, dessen Regierung dem "Business Insider" zufolge allerdings nicht in die Pläne einbezogen wurde und nun zugunsten der Ukraine verzichten soll.

Hindernisse auch bei Mars II und dem Panzer-Ringtausch

Heikel ist auch die Lieferung des zugesagten Mehrfachraketenwerfers Mars II: Das deutsche System ist nicht kompatibel mit ähnlichen Systemen der USA oder Großbritanniens, berichtete "Pioneer". Es mangele auch hier an Munition. Zudem werde das System nicht mehr hergestellt, es gebe keine Ersatzteile. Die Bundeswehr müsste eigene Bestände ausschlachten, um der Ukraine Ersatzteile bereitzustellen. Eine Umprogrammierung der Software könnte Monate dauern, heißt es bei "Business Insider".

Es ruckelt auch bei dem Panzer-Ringtausch zwischen Griechenland und Deutschland. Die Griechen wollen alte, bislang eher der symbolischen Abschreckung gegenüber der Türkei dienende Sowjetpanzer erst an die Ukraine liefern, wenn 50 deutsche Marder einsatzbereit in Griechenland eintreffen. Das kann dem "Pioneer" zufolge allerdings dauern.

Zudem soll Griechenland von der Ankündigung des Bundeskanzlers überrascht worden sein, sodass es hinter den Kulissen Ärger gebe, berichtete "Business Insider". Es dürfte demnach bis Herbst oder Winter dauern, bis die Panzer einsatzbereit seien. Es wird also deutlich: Die deutschen Lieferungen stocken tatsächlich massiv.

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"Innenpolitisch ist es für die Ukraine unvorstellbar zu kapitulieren"

Dabei stehen Selenskyj und sein Land "unter maximalem Druck", erklärt Experte Wagner – durch den Feind, aber auch die Erwartungen in der eigenen Bevölkerung. Die russische Armee konzentriert sich derzeit auf die Eroberung des Donbass. Bei der Verteidigung des Gebiets erleidet die Ukraine schwere Verluste. Schon bald könnte die Stadt Sjewjerodonezk in der Region Luhansk fallen. Das würde Russland das Kriegsziel, den Osten des Landes für sich zu beanspruchen, deutlich näherbringen.

Für Selenskyj gibt es dem Konfliktforscher zufolge derzeit nur eine Option: "Innenpolitisch ist es für die Ukraine unvorstellbar zu kapitulieren, deshalb werden sie die Forderungen an Deutschland und den Westen aufrechterhalten." Der ukrainische Präsident versuche alles, um den Überfall zurückzuweisen – obwohl diese Taktik immer mehr Menschenleben koste.

Experte: "Selenskyj muss aufpassen"

Die Ukraine habe inzwischen schon so viel in den Krieg investiert, dass aus Sicht von Selenskyj und der ukrainischen Bevölkerung am Ende auf jeden Fall ein Erfolg rauskommen sollte, so der Experte. Er sieht dabei insgesamt die Gefahr, dass der ukrainische Präsident fälschlicherweise den Eindruck vermitteln könnte, dass er Gebiet über Menschenleben stelle.

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Und wie sieht es auf der deutschen Seite aus? In Deutschland gebe es Sympathien für eine Kompromisslösung des Krieges: Dass die Ukraine etwa den Donbass an Russland abtrete, um weitere Todesopfer zu verhindern. "Selenskyj muss deshalb aufpassen, dass er an dieser Stelle nicht den Eindruck erweckt zu überziehen, und man denkt, er wolle nur maximalen Gebietsgewinn erzielen", sagt Wagner. Sonst könne es passieren, dass das Mitgefühl, auch in der deutschen Bevölkerung, deutlich zurückgeht.

Experte: Scholz schwankt zwischen zwei Perspektiven

Dieses Mitgefühl ist es aber, neben anderen Gründen, das Kanzler Scholz unter Druck setzt. Viele Deutsche empfänden mit Blick auf den russischen Angriffskrieg eine große Ungerechtigkeit, erklärt der Experte. "Ein unschuldiges Land wurde überfallen, deshalb fühlen die meisten Empathie und verstärken die Forderungen nach Waffenlieferungen."

Scholz schwanke zwischen diesem moralischen Empfinden und einer anderen Perspektive: Er frage sich womöglich, ob sich Selenskyjs Widerstand und der militärische Aufwand gegen Russland lohnten, ob die Ukraine am Ende nicht ohnehin erheblich geschwächt oder als unabhängiger Staat untergehen werde. "Das klingt brutal, ist aber sicher auch eine Komponente in dem Kalkül", sagt Wagner.

Zudem fürchte der Bundeskanzler eine weitere Eskalation des Konflikts, die gegebenfalls die Nato und damit Deutschland hineinziehen könnte. "Das ist das Spannungsfeld, in dem sich Selenskyj und Scholz begegnen", so der Sozialpsychologe.

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Scholz rechtfertigt stockende Waffenlieferungen

Zudem sind Selenskyjs Forderungen nach mehr Waffen aus Scholz' Sicht offenbar unbegründet. Deutschland werde die angekündigten Waffensysteme alle liefern, sagte Scholz am Montag nach einem Treffen mit ostdeutschen Ministerpräsidentinnen und -präsidenten. Industrie und die Bundeswehr bereiteten dies vor.

Es wäre es "ein Fehler gewesen", moderne Waffensysteme wie die Panzerhaubitze 2000 "einfach auszuliefern, ohne jede Instruktion, ohne Ausbildung". Die Ausbildung finde jetzt in Deutschland statt, sagte der Kanzler. Dies gelte auch für den Flugabwehrpanzer Gepard. Ziel müsse es sein, der Ukraine "wirklich effektive Hilfe" zu leisten. Das ukrainische Militär müsse schweres Gerät im Krieg gegen Russland auch benutzen können. "Dafür muss man trainiert werden", so Scholz. Dies gelte auch für andere hochmoderne Systeme wie das Ortungsradar Cobra und das Luftverteidigungssystem Iris-T.

Dass Soldaten den Umgang mit den deutschen Panzern erst mal lernen müssen, braucht auch dem Militärexperten Lars Winkelsdorf zufolge Zeit: Gerade die Ausbildung für die Nutzung des Gepard sei die komplizierteste, langwierigste und übungsintensivste, die es für Wehrpflichtige gebe, sagte er t-online.

350 Millionen Euro für Waffen und Rüstungsgüster

Zudem stellte Scholz Selenskyjs Vorwürfen entgegen, dass niemand in ähnlich großem Ausmaß wie Deutschland Waffen liefere. Im Interview mit dem "heute journal" wollte der ukrainische Präsident diesen Eindruck jedoch nicht bestätigen. "Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, was die Zahlen angeht", so Selenskyj.

Der Militärexperte Carlo Masala erklärte vor wenigen Tagen im Gespräch mit t-online, dass Deutschland "durchaus eine große Palette an Waffen" in die Ukraine schicke – zwar nicht so viel wie beispielsweise die USA und Großbritannien, aber mehr als Länder wie Italien. In den ersten drei Kriegsmonaten genehmigte die Bundesregierung Waffen und Rüstungsgüster für 350 Millionen Euro.

In den kommenden Tagen sind die Augen jedenfalls auf Kiew gerichtet, sollte Olaf Scholz wirklich dorthin reisen: Was hat der Kanzler im Gepäck – und wie reagiert die Ukraine darauf?

Experte Wagner zieht den folgenden Schluss: Scholz reise nicht mit leeren Händen nach Kiew. "Er wird Selenskyj wahrscheinlich einen Kompromiss mitbringen: Es wird mehr Waffen geben, aber eben nicht so viel, wie die Ukraine sich das wünscht", sagt der Sozialpsychologe. Doch auch nach dem Treffen werde der ukrainische Präsident den Druck auf Deutschland und den Westen nicht verringern.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Ulrich Wagner am 14. Juni 2022
  • Eigene Recherche
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