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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gespräche zwischen Russland und Ukraine Friedensbote Erdoğan? – Ein Spiel auf zwei Seiten

Erstmals seit der russischen Invasion treffen sich Selenskyj und Putin persönlich für Friedensgespräche. Erdoğan gibt sich als neutraler Gastgeber – eine Rolle, die er über drei Jahre erprobt hat.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 sollen sich nun erstmals die beiden Staatschefs der Kriegsparteien persönlich gegenübertreten. Der türkische Präsident Erdoğan, der sich im Verlauf des inzwischen über drei Jahre andauernden Krieges als Vermittler positioniert hat, hat für Donnerstag zu erneuten Friedensgesprächen nach Istanbul eingeladen. Nachdem Putin in den vergangenen Tagen angedeutet hatte, dass er zu Gesprächen in der Türkei bereit sei, ergriff Selenskyj die Initiative und schrieb auf der Online-Plattform X: "Ich werde am Donnerstag auf Putin in der Türkei warten, persönlich."
Bereits zu Beginn des Angriffskriegs hatten ähnliche Gespräche in Istanbul stattgefunden, bei denen sich die Außenminister beider Länder zu Verhandlungen trafen. Der Türkei kommt hier als Vermittlerin eine besondere Rolle zu. Präsident Erdoğan, der nach eigener Aussage stets ein freundschaftliches Verhältnis zu Putin pflegt, hat es geschafft, in den vergangenen drei Jahren einen Balanceakt zu meistern: die Ukraine zu unterstützen, während er gleichzeitig die Beziehungen zu Russland aufrechterhielt.
Balanceakt zwischen Ost und West
Einerseits sprach sich die Türkei stets für das Selbstverteidigungsrecht und die territoriale Integrität der Ukraine aus. Sie belieferte die Ukraine sogar mit Drohnensystemen und anderen Waffen. Zudem schloss sie die Bosporus- und Dardanellen-Meerenge, was die Durchfahrt russischer Kriegsschiffe verhinderte und entscheidend dazu beitrug, den Angriff der russischen Flotte auf die ukrainische Hafenstadt Odessa abzuschwächen.
Gleichzeitig entschloss sich Erdoğan, sich den Sanktionen des Westens gegen Russland nicht anzuschließen. Russland ist ein zentraler Energieversorger der Türkei, und Erdoğan ließ trotz des Krieges weiterhin russisches Gas durch Pipelines in die Türkei fließen. Dies schwächte die Wirkung der westlichen Sanktionen auf die russische Wirtschaft zu Putins Genugtuung erheblich ab.
Erdoğan hat es auf diesem schmalen Grat zwischen Ost und West geschafft, sich im Ukraine-Krieg als halbwegs neutraler Akteur zu positionieren. Diese Balance hat ihm das notwendige Vertrauen beider Seiten verschafft, sodass er nun erneut als Vermittler auftreten kann.
Erdoğans Vermittlerrolle entscheidend
Bereits im ersten Jahr des Krieges bewies Erdoğan die Wirksamkeit seiner vermittelnden Rolle. Neben den damaligen Friedensverhandlungen, die jedoch ergebnislos blieben, spielte die Türkei bei der Aushandlung eines wichtigen Abkommens eine Schlüsselrolle.
Die Ukraine zählt weltweit zu den Hauptexporteuren von Getreide. Mit Beginn des Krieges stand die Welt vor einer drohenden Nahrungs- und Versorgungskrise, da die ukrainischen Exporte kurzzeitig ausfielen. Fünf Monate nach Kriegsbeginn gelang es der Türkei gemeinsam mit den Vereinten Nationen, beide Kriegsparteien zu einem Abkommen zu bewegen. Dieses ermöglichte einen Schifffahrtskorridor für ukrainisches Getreide durch das Schwarze Meer, der laut dem "International Rescue Committee" die Versorgung von 79 Ländern und 349 Millionen Menschen sicherte. Gleichzeitig garantierte die Vereinbarung der ukrainischen Wirtschaft weiterhin Einnahmen, die mit Kriegsbeginn deutlich gesunken waren.
Zweifelsfrei handelt es sich bei dem Abkommen bis dato um den größten diplomatischen Erfolg, den die Türkei als Vermittlerin im Ukrainekrieg leisten konnte. Doch sie vermittelte nicht nur in wirtschaftlichen Fragen. 2022 diente Ankara auch als Treffpunkt für Vertreter von US- und russischen Geheimdiensten, die über die nukleare Bedrohung des Krieges diskutierten. Zudem organisierte die Türkei einen bedeutenden internationalen Gefangenenaustausch, bei dem unter anderem der sogenannte Tiergarten-Mörder aus Berlin nach Russland zurückkehrte. Türkische Beamte bezeichneten diesen Austausch als den "größten Gefangenenaustausch zwischen Ost und West seit dem Zweiten Weltkrieg".
Erdoğan nutzt seine Rolle als Vermittler auch innenpolitisch gezielt aus. Während er sich international als großer Vermittler inszeniert, sendet er ins Inland klare Botschaften: Er sei der starke Führer, den die Türkei brauche, um sich gegen Groß- und Regionalmächte wie die USA, die EU, Russland und China zu behaupten. Dabei spielt er bewusst mit den Unsicherheiten der Bevölkerung und geht gleichzeitig hart gegen politische Gegner vor. So ließ er etwa den ehemaligen Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu unter Terror- und Korruptionsvorwürfen verhaften. Sein außenpolitisches Profil stärkt ihm dabei weiter den Rücken.
Der Druck steigt
Seit seiner Amtseinführung Ende Januar hat sich auch US-Präsident Donald Trump als Vermittler in den Friedensgesprächen positioniert. Trotz zahlreicher Treffen seines Top-Diplomaten Steve Witkoff gab es bislang jedoch keine langfristigen Fortschritte in den Verhandlungen. Das lag nicht zuletzt auch an Trumps unberechenbarem Verhalten. Zuletzt drohten die USA mehrfach, sich aus den Verhandlungen gänzlich zurückzuziehen. Im Angesicht der Möglichkeit auf direkte Friedensverhandlungen schrieb der US-Präsident auf seiner Online-Plattform "Truth Social": "Führt das Gespräch – jetzt!!!"
In Vorbereitung auf die Gespräche am Donnerstag in Istanbul formulierte man gemeinsam als USA, Europa und Ukraine die Forderung nach einer 30-tägigen Waffenruhe. Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Polen, die sich als neue "Allianz der Willigen" positionieren, drohten Russland "massive" Sanktionen an, sollte Putin sich den Forderungen nicht beugen. Auch wenn Erdoğan das Wort Sanktionen abermals nicht in den Mund nahm, pflichtete er der Forderung der Partner bei und sagte in einem Telefongespräch am Sonntag gegenüber Putin, dass eine solche Waffenruhe die "die nötige Atmosphäre" für etwaige Friedensgespräche schaffen würde.
Putin seinerseits lehnte die Forderungen der westlichen Verbündeten nach einer Waffenruhe ab. Bei einem Auftritt vor russischen Medienvertretern sagte der Kremlchef, dass er beabsichtige, die Verhandlungen aus dem Jahr 2022, die seiner Ansicht nach damals die Ukraine platzen ließ, "wieder aufzunehmen".
Russlands Forderungen: "Istanbuler Protokolle"
Bei den Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im April 2022 in Istanbul stellte Russland weitreichende Forderungen, die die Ukraine in eine stark geschwächte Position gebracht hätten. Diese Forderungen wurden in einem Vertragsentwurf festgehalten, der später als die "Istanbuler Protokolle" bekannt wurde.
Der Entwurf verlangte von der Ukraine, auf ihre Nato-Mitgliedschaft zu verzichten und ihre Verfassung um eine Neutralitätsklausel zu ergänzen. Diese Klausel hätte der Ukraine die zukünftige Mitgliedschaft in Militärbündnissen, den Abschluss militärischer Abkommen sowie die Stationierung ausländischer Militärangehöriger, Ausbilder oder Waffensysteme auf ukrainischem Boden verboten.
Überdies forderte Russland eine drastische Reduzierung der ukrainischen Streitkräfte auf maximal 85.000 Soldaten, 342 Panzer und 519 Artilleriesysteme. Die Reichweite ukrainischer Raketen sollte auf 40 Kilometer begrenzt werden, was den russischen Streitkräften ermöglicht hätte, kritische Systeme und Ausrüstung nahe der ukrainischen Grenze zu stationieren, ohne Angriffe befürchten zu müssen.
Zusätzlich verlangte Russland umfassende Sicherheitsgarantien. Man schlug vor, dass die USA, das Vereinigte Königreich, China, Frankreich, Belarus und Russland selbst als Garantiemächte fungieren sollten. Diese Staaten sollten internationale Verträge und Abkommen kündigen, die mit der dauerhaften Neutralität der Ukraine unvereinbar gewesen wären, einschließlich bestehender Militärhilfeabkommen.
Letztlich scheiterten die Verhandlungen, da die ukrainische Seite diese Bedingungen als inakzeptabel und als faktische Kapitulation betrachtete. Besonders die weitgehenden militärischen Einschränkungen und die Neutralitätsklausel wurden als unvereinbar mit der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine angesehen. Dass beide Staatschefs nun willens seien, erneute Gespräche miteinander aufzunehmen, bezeichnete der türkische Präsident als einen "historischen Wendepunkt" im Krieg, den man ausnutzen müsse.
Verhandlungen ohne gemeinsame Basis
Gleichzeitig bleibt unklar, auf welcher gemeinsamen Basis beide Kriegsparteien am Donnerstag verhandeln wollen. In seiner Presseansprache betonte Putin, dass die Gespräche darauf abzielen müssten, die "Ursachen des Konflikts zu beseitigen". Dabei prallen Russlands vermeintlich bedrohtes Sicherheitsgefühl und die ukrainischen Bestrebungen nach langfristigen Sicherheitsgarantien durch mögliche Militärbündnisse und Abkommen – wie schon vor drei Jahren – unversöhnlich aufeinander.
Die Sonderrolle der Türkei, die sich unter anderem durch Erfolge wie die Aushandlung des Getreideabkommens und die bevorstehenden Verhandlungen über einen möglichen Frieden zwischen den Kriegsparteien manifestiert, verschafft Erdoğan eine gewisse Legitimation für seinen bisherigen außenpolitischen Kurs.
Dieser war seit Kriegsbeginn zwar häufig von westlichen Partnern kritisiert worden, doch nun zeigt sich der mögliche Mehrwert. Die strategische Ausrichtung ermöglicht es der Türkei, sowohl als Nato-Mitglied und Verbündeter der Ukraine als auch als enger wirtschaftlicher Partner Russlands Einfluss auf die Konfliktparteien auszuüben. Sollte Erdoğan damit Erfolg haben, befeuert dies wohl weiter seine Absichten, sich als unverzichtbarer Akteur zu positionieren, der sowohl vom Westen als auch von Russland als wichtiger Garant für die regionale Sicherheit wahrgenommen werden soll.
- dw.com: "Was bewirkt die Blockade des Bosporus durch die Türkei" (Deutsch)
- stuttgarter-nachrichten.de: "Friedensgespräch in Istanbul – Selenskyj erwarte Putin am Donnerstag in der Türkei" (Deutsch)
- bpb.de: "Nur magere Ergebnisse für die Türkei als Vermittlerin zwischen Russland und der Ukraine" (Deutsch)
- dw.com: "Russia expels 2 German diplomats over Berlin park assassination" (Englisch)
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, May 11, 2025" (Englisch)
- reuters.com: "Turkey ready to host Russia-Ukraine negotiations, Erdogan tells Macron" (Englisch)
- sueddeutsche.de: "Putin, Ukraine, Istanbul: Ukrainekrieg und Friedensverhandlungen" (Deutsch)