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EU berät über Belarus: Die Angst vor der bewaffneten Eskalation – und vor Putin


EU und Russland streiten um Belarus
Die Angst vor dem Bürgerkrieg – und vor Putin

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 19.08.2020Lesedauer: 5 Min.
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Minsk: Bei der "Farbrevolution" gehen Hunderttausende auf die Straße, um gegen Lukaschenko zu demonstrieren.Vergrößern des Bildes
Minsk: Bei der "Farbrevolution" gehen Hunderttausende auf die Straße, um gegen Lukaschenko zu demonstrieren. (Quelle: ap-bilder)

Die EU berät über Sanktionen gegen das Regime von Machthaber Lukaschenko. Irgendeinen Formelkompromiss könnte es geben, aber mehr wohl kaum. Denn den Europäern wäre es eigentlich ganz recht, wenn sich in Belarus nicht allzu viel ändern würde.

Alexander Lukaschenko versucht es mal wieder mit Einschüchterung. Der Machthaber von Minsk versetzte am Dienstagabend die Armee an den Grenzen zu Polen und Litauen in Gefechtsbereitschaft. Die Einheiten seien nun bereit, ihren Verpflichtungen nachzukommen, sagte er bei einer Sitzung des Sicherheitsrates der Staatsagentur Belta zufolge. "Wir haben heute nicht nur innen, sondern auch außen Probleme."

Es ist eine beliebte Methode von Diktatoren: Je stärker sie innenpolitisch unter Druck geraten, desto mehr schwören sie die Gefahr von außen hervor – in der Hoffnung, so etwas wie eine nationale Einheit gegen das vermeintlich böse Ausland zu formen.

Ob das funktioniert, ist zumindest im Falle von Belarus zweifelhaft. Zuletzt protestierten Hunderttausende gegen das repressive Regime Lukaschenkos – in einem Land, das gerade einmal rund 9,5 Millionen Einwohner hat. Das zeigt, wie sehr die Menschen die Gewalt der Sicherheitskräfte leid sind. Wenn die Menschen ihre Angst erst einmal überwunden haben, funktioniert Einschüchterung nicht mehr. Zumindest vorerst. Dann kann ein Regime durchaus kippen. Siehe DDR. Siehe Arabischer Frühling. Ob es so weit kommt, ist derzeit aber offen.

Interesse an der Beibehaltung des Status quo

Mit seinen Einschüchterungsversuchen dürfte Lukaschenko allerdings auch außenpolitisch wenig erreichen. Trotzdem hat er die EU längst in die Bredouille gebracht. Deshalb gibt es am Mittwoch einen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs. Sie beraten über mögliche Sanktionen. Was einfach klingt, ist bei näherer Betrachtung eine komplizierte Sache.

Denn die Europäer haben ein veritables Problem: Sie haben weder ein Interesse am Status quo noch an allzu viel Veränderung. Sollte Lukaschenko gestürzt werden, könnte ein noch russlandfreundlicheres Regime übernehmen. Zu harte Sanktionen würde das jetzige Regime weiter in die Arme Russlands treiben. Daraus resultiert ein innerer Konflikt – zwischen geostrategischen Interessen und den demokratischen Grundsätzen der EU. Der Verlierer erscheint schon jetzt klar: die Protestbewegung in Belarus.

Puffer zwischen Russland und der EU

Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit von Belarus ist das Land ein Puffer zwischen der Nato und Russland. Die ehemalige Sowjetrepublik ist näher mit Moskau verbunden, die Abhängigkeit von Russland ist vor allem wirtschaftlich groß. Trotzdem versuchten die Europäer in den letzten 20 Jahren, die Beziehungen zu Belarus zu verbessern. Lukaschenko nahm das dankend an, um etwas an politischer Autonomie zu gewinnen.

Trotzdem haben bei den gegenwärtigen Protesten die Europäische Union und Russland völlig unterschiedliche Interessen, die Schnittmenge dieser scheint aber ausgerechnet Präsident Lukaschenko zu sein. Um das zu verstehen, hilft ein kurzer Überblick:

Welche Interessen hat Russland?

  • Belarus in möglichst großer Abhängigkeit und in der eigenen Interessensphäre halten.
  • Dass Europa sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischt.
  • Keine erfolgreiche Revolution in einem Nachbarland, die ein Beispiel für die eigene Bevölkerung sein könnte.
  • Nach Syrien, Libyen und der Ukraine: keinen weiteren, teuren Krieg.
  • Ein stabiles Regime in der Nachbarschaft – unabhängig von seiner demokratischen Ordnung.

Welche Interessen hat die Europäische Union?

  • Belarus nicht weiter in die Arme Russlands treiben.
  • Keinen Bürgerkrieg, keinen Krieg in Europa.
  • Intensivere Beziehungen zu Belarus – auch zum Lukaschenko-Regime.
  • Ein Zeichen für Rechtsstaatlichkeit und gegen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung.

Das Spiel der Autokraten

In den letzten 26 Jahren errichtete Lukaschenko in Belarus eine auf ihn zugeschnittene Autokratie. Demokratische Wahlen werden manipuliert, Oppositionspolitiker landen im Gefängnis, Parlament und Presse stehen unter der Kontrolle des Regimes. Proteste dagegen konnte Langzeitpräsident Lukaschenko immer schnell mit Gewalt niederschlagen.

Neben diesen innenpolitischen Instrumenten bediente sich Lukaschenko zur Festigung seiner Macht außenpolitisch einer Pendelpolitik zwischen EU und Russland. Wie andere Autokraten erfindet er Bedrohungsszenarien aus dem Ausland, um sich als Verteidiger seines Volkes generieren zu können. In der Vergangenheit wollten die EU und auch Russland ihn stürzen – das zumindest behauptete Lukaschenko. Wechselseitig kritisiert er immer wieder die Einflussnahme ausländischer Großmächte auf sein Land.

Lukaschenkos Ritt auf der Rasierklinge

Trotz der großen Nähe zu Russland versuchte Lukaschenko Moskau auf Distanz zu halten, um die Eigenständigkeit seines Landes zu gewährleisten. So ist Belarus zwar Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion des russischen Präsidenten Wladimir Putin, aber eine im Jahr 1996 gegründete Staatenunion besteht nur auf dem Papier. Auch die Annexion der Krim erkannte Lukaschenko nie an – auch aus Sorge vor einer russischen Intervention in seinem Land.

Für Lukaschenko ist das Spannungsfeld der Beziehungen zu Russland und zu Europa ein Ritt auf der Rasierklinge. Putin würde eine Herauslösung von Belarus aus der Interessenspähre Moskaus nicht akzeptieren, eine Warnung bekam die belarussische Bevölkerung die letzten Tage, als Russland Soldaten in Richtung Grenze brachte. Aber eine militärische Intervention Moskaus ist dennoch unwahrscheinlich, der Nutzen einer solchen Operation in dem kleinen Land wäre zu gering, die Kosten politisch wie wirtschaftlich viel zu hoch.

Als Alternative zu diesem Notfallplan hätte Putin andere Möglichkeiten: Russland könnte eine Revolution in Belarus orchestrieren, viele der Oppositionspolitiker bei der Präsidentschaftswahl 2020 gelten als russlandfreundlicher als Lukaschenko. Aber da Moskau, auch im Angesicht der Corona-Krise, an guten Beziehungen zur EU interessiert ist, sind die politischen Risiken dafür auch für Putin ziemlich hoch. Außerdem sind – im Gegensatz zur Annexion der Krim – nur 25 Prozent der Menschen in Belarus laut einer Umfrage für eine stärkere Union mit Russland.

Angst vor Putin

Dagegen sind die Möglichkeiten der Europäischen Union begrenzt. Für die Europäer geht es geostrategisch darum, zu verhindern, dass Russland militärisch interveniert oder dass in Belarus ein noch russlandfreundlicheres Regime an die Macht kommt. Außerdem würden zu starke Sanktionen der EU Lukaschenko in eine noch tiefere Abhängigkeit zu Russland zwingen, da das Land wirtschaftlich kaum Alternativen hätte – ohnehin hat Moskau schon durch die Kontrolle der Öl- und Gaslieferungen die Möglichkeit, großen Druck auf sein Nachbarland auszuüben.

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All das macht es unwahrscheinlich, dass die EU am Mittwoch die große Sanktionskeule auspackt – es wird wahrscheinlich lediglich ein Symbol, um die eigene Glaubwürdigkeit zu wahren. Zwar verurteilten viele EU-Mitgliedsstaaten bereits die Gewalt und die Manipulationen bei der Präsidentschaftswahl scharf, aber nun kommt es darauf an, ob man politisch gewillt ist, daraus Konsequenzen in Form von Strafmaßnahmen zu ziehen.

Ein Zeichen dafür kam schon von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Montag. Sie bot sogar eine "engere und intensivere Partnerschaft zwischen EU und Belarus" an. Das gilt auch für den Fall, dass Autokrat Lukaschenko auch nach 26 Jahren noch an der Macht bleibt. Der Revolution zeigt diese Politik vor allem eines: Sie steht international alleine da. In Angst vor der Gewalt – und vor Putin.

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