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200 Millionen "Klimaflüchtlinge"? Deshalb sind düstere Prognosen nicht seriös


Düstere Prognosen
Wie berechtigt ist die Angst vor Millionen "Klimaflüchtlingen"?


Aktualisiert am 05.11.2021Lesedauer: 7 Min.
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Schneechaos, Überschwemmungen, Waldbrände: Nicht nur gefühlt hat die Welt in diesem Jahr schon etliche Wetterkatastrophen hinter sich. (Quelle: t-online)

Düstere Prognosen warnen vor Hunderten Millionen "Klimaflüchtlingen", die nach Europa kommen. Vorhersagen wie diese seien nicht seriös, meint ein Migrationsexperte. Er ordnet die Fakten ein.

Überschwemmungen, Stürme, Erdbeben, Waldbrände, Dürre, Hitze – infolge der Klimakrise werden diese Phänomene häufiger und mitunter extremer. Auch Deutschland hat das in diesem Sommer deutlich zu spüren bekommen, als mehr als 140 Menschen bei dem Hochwasser in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ihr Leben und Tausende Bürger ihre Häuser oder Wohnungen verloren.

Die Klimakrise ist längst nicht mehr nur ein Problem einzelner Länder, manche Regionen spüren die Auswirkungen aber deutlicher als andere. "Ein gewaltiger Flüchtlingsstrom wird nach Europa kommen. Denn die Klimakrise wird weite Teile der Welt unbewohnbar machen", sagte Star-Historiker Niall Ferguson im t-online-Interview.

Noch konkreter warnt die Weltbank: Bis 2050 müssten mehr als 200 Millionen Menschen ihre Heimat aufgrund von Umweltveränderungen verlassen. Von "Klimaflüchtlingen" ist die Rede. Auch bei der Weltklimakonferenz in Glasgow wird das am Montag Thema sein.

Aber wie solide sind solche Prognosen? Droht wirklich eine Klima-Flüchtlingskrise? Und wieso ist der Begriff "Klimaflüchtling" irreführend?

Die wichtigsten Fragen und Antworten:

"Klimaflüchtling" oder "Umweltmigrant" – was heißt das eigentlich?

Eine Konkretisierung der Begriffe "Umweltmigrant" oder "-flüchtling" oder "Klimaflüchtling" oder "-migrant" ist sehr komplex. Menschen, die aufgrund von Klimaveränderungen oder Umweltzerstörungen ihre Heimat verlassen müssen, haben keine allgemein gültige Bezeichnung. Die genannten Begriffe sollen jedoch betonen, dass Menschen ihr Zuhause aus Klima- oder Umweltgründen zurücklassen – ob freiwillig oder nicht.

Die Abgrenzung muss bereits bei den Begriffen "Migrant" und "Flüchtling" beginnen: Der Genfer Flüchtlingskonvention zufolge ist ein Flüchtling eine Person, die "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will".

Menschen, die auf der Suche nach besseren Lebensperspektiven aus eigenem Antrieb ihre Heimat verlassen, nennt man Migrantinnen und Migranten. Sie wandern aus, um vorübergehend oder für immer an einem anderen Ort zu leben.

Man kann also nicht pauschal von "Klimaflüchtlingen" oder "Umweltmigranten" sprechen.

Klima- oder Umweltveränderungen sind kein anerkannter Fluchtgrund – warum?

"Das Problem ist, dass wir in vielen Fällen einen Flucht- oder Migrationsprozess nicht eindeutig auf den Klimawandel zurückführen können", erklärt Migrationsexperte Benjamin Schraven vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik im Gespräch mit t-online. Der Klimawandel allein sei meist nicht der Grund für die Migration, sondern auch wirtschaftliche, politische und soziale Faktoren spielten dabei eine große Rolle.

"Natürlich könnten wir in einigen Fällen sagen, dass definitiv der Klimawandel ein Grund ist, die Heimat zu verlassen. Etwa wenn Regionen aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels überschwemmt werden", sagt Schraven. In vielen anderen Fällen sei es jedoch schwierig, den Klimawandel hauptverantwortlich zu machen. Man könne jedoch von "klimabezogener Migration" sprechen. Die Menschen verlassen ihre Heimat aus mehreren Gründen: Wegen der Auswirkungen des Klimas, aber auch weil aufgrund der Umweltveränderungen zum Beispiel Ressourcenkonflikte entstanden sind. "Man muss davon ausgehen, dass der Faktor Klimawandel sich hinter anderen Umständen versteckt", so Schraven.

Der Experte ist sich außerdem sicher: "Gerade die großen Einwanderungsländer der OECD, zu der auch Deutschland gehört, werden wohl tunlichst vermeiden, irgendwelche Rechtsgrundlagen zu schaffen, indem etwa die Flüchtlingskonvention um Klima und Umwelt erweitert wird. Den Menschen wird kein rechtlicher Schutzzuspruch erteilt. Es wird nur immer wieder Einzelfälle geben."

Die OECD ist die bedeutendste Organisation der westlichen Industrieländer zur Koordinierung der Wirtschafts-, Handels- und Entwicklungspolitik. Inzwischen gehören auch einige Schwellenländer und Transformationsländer zum "Club der reichen Nationen". Die Organisation berät bei allgemeinen wirtschaftlichen Problemen, veröffentlicht Länderberichte über die wirtschaftliche Lage der Mitglieder und koordiniert die öffentliche Entwicklungshilfe.

Was sind die häufigsten Fluchtursachen im Bereich Klima und Umwelt?

"Es geht vor allem um plötzlich einsetzende Naturkatastrophen, wie Wirbelstürme oder Flutereignisse", sagt der Migrationsforscher. Es gebe aber auch viele schleichende Auswirkungen des Klimawandels, die etwa zu einer Einschränkung von landwirtschaftlicher Produktion führten. Menschen müssten ihre Heimat verlassen, um etwa woanders Felder zu bewirtschaften. Ernteausfälle müssten kompensiert werden.

Welche Regionen sind besonders betroffen?

Bestimmte Regionen bekommen die Auswirkungen des Klimawandels bereits stark zu spüren. Schon jetzt müssen einige Menschen aufgrund von Naturkatastrophen oder Umweltveränderungen ihre Heimat verlassen. Diese Regionen haben meist ohnehin mit wirtschaftlichen oder politischen Krisen zu kämpfen.

Drei Beispiele: In der Sahelzone in Afrika machen sich die Folgen des Klimawandels stark bemerkbar. Der Sahel erstreckt sich über 7.000 Kilometer von der Atlantikküste im Westen bis zum Roten Meer im Osten und ist circa 800 Kilometer breit. Senegal, Mauretanien, Mali, Burkina Faso, Niger, der Tschad und der Sudan liegen in der Zone. Teilweise werden außerdem Nigeria, Äthiopien, Gambia, Eritrea und Djibouti hinzugezählt.

In der Sahelzone droht große Wasserknappheit, die Wüste Sahara breitet sich aus (Desertifikation). Menschen und Tiere verlieren ihren Lebensraum. In Mali beispielsweise sorgt das für Konkurrenzkämpfe unter Bauern. Wenn es Probleme um Wasser und Land gibt, werden diese oftmals mit Gewalt gelöst.

Überschwemmungen, Wirbelstürme, Dürre und Hitzeperioden: Besonders schwer trifft es auch Bangladesch mit seinen rund 160 Millionen Einwohnern. Naturkatastrophen treten in dem südasiatischen Land immer häufiger auf. "Gleichzeitig werden sich schleichende Prozesse wie die Erosion von Flussufern, der Anstieg des Meeresspiegels und Bodenversalzung unvermindert fortsetzen. Während den Monsun-Monaten wird mit verstärkten Regenfällen und Abschwemmungen von Erdreich gerechnet, während die bereits geringen Regenfälle in der Trockenzeit vermutlich noch weiter zurückgehen werden", heißt es in einem Bericht der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Lebensgrundlage von Millionen Völkern ist bedroht.

Ebenso im Fokus stehen südpazifische Inselstaaten. Die Klimakrise stellt für diese eine besonders große Gefahr dar: Der steigende Meeresspiegel, Sturmfluten und veränderte Niederschlagsmengen "beeinträchtigen die Nahrungsmittel- und Wasserversorgung und somit die Lebensgrundlagen der Küstengemeinden in der gesamten Region", heißt es in einem WWF-Bericht. "Manche Inseln werden in naher Zukunft einfach verschwinden", so Experte Schraven.

Benjamin Schraven ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik und forscht zu Migrations- und Bevölkerungsdynamiken. Er berät entwicklungspolitische Institutionen in Migrationsfragen.

Wohin migrieren die Menschen?

"Wenn es zu Migration kommt, reden wir meist von landesinterner Migration oder Migration in benachbarte Länder im globalen Süden", sagt Experte Schraven. "Die Schreckensvorstellung der Millionen und Abermillionen von 'Klimaflüchtlingen', die bald nach Europa kommen sollen, sieht die Wissenschaft erst mal so nicht." Die betroffenen Bevölkerungsgruppen seien meist arm und hätten gar nicht die Mittel, um nach Europa zu kommen.

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Wenn Menschen von einer gefährdeten Region in eine besser gestellte Region in ihrem Land ziehen, spricht man auch von "Binnenmigration". Aber auch die "zirkuläre Migration" ist erheblich: "Viele Menschen kehren nach Stunden, Tagen oder Monaten wieder in Katastrophengebiete zurück, um ihre Heimat wieder aufzubauen", so Schraven. Einzelne Familienmitglieder, meist die Väter, verlassen das Zuhause, um woanders im Land oder im Nachbarland Geld zu verdienen und kehren dann wieder zurück. "Sie werden in der Region bleiben", sagt der Experte.

Wie viele Menschen werden künftig migrieren?

Eine Prognose der Weltbank sorgte im September dieses Jahres für Aufruhr: Die Erderwärmung könnte bis zum Jahr 2050 rund 216 Millionen Menschen zur Migration zwingen. Bereits 2030 könnten sich in einigen Ländern Brennpunkte der Klimamigration herausbilden, heißt es. Die Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen.

"Es ist sehr schwer zu sagen, wie viele Menschen im Kontext des Klimawandels migrieren. Viele Prognosen sind alt und haben eine schwache Argumentationsgrundlage. Bei Zahlen sollte man sehr vorsichtig sein, auch wenn sie oft im politischen Kontext genutzt werden", so Experte Schraven. Seriöse Zahlen gebe es seiner Einschätzung nach nicht. "Das ist schlichtweg Alarmismus." Die 200-Millionen-Prognose werde oftmals von NGOs und Ministerien verwendet. Außerdem würden in Prognosen wie dieser oftmals auch die Menschen einbezogen, die nur kurzzeitig ihr Zuhause verlassen und dann zurückkehren.

Konkrete Zahlen dazu, wie viele Menschen zumindest zeitweise aufgrund von Naturkatastrophen vertrieben werden, sind jedoch erfassbar. 2020 waren es fast 31 Millionen. Und die Tendenz ist eindeutig: 2015 lag der Wert noch bei 20 Millionen.

Wie können Prognosen konkretisiert werden?

"Die Datenlage sollte vor allem in den betroffenen Ländern und Regionen verbessert werden", sagt der Experte. Es werde vielerorts seit Langem nicht mehr erfasst, wie viele Menschen landesintern migrieren. Regionale Organisationen müssten mehr miteinbezogen werden.

Zudem spielt die Problematik der Begriffsdefinition eine wichtige Rolle. Wer ist überhaupt "Klimaflüchtling" oder "Umweltmigrant"? Wie bereits festgestellt listet etwa die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) Klima oder Umwelt gar nicht als Flucht- oder Migrationsgrund.

Eine allgemeingültige Definition ist deshalb unabdingbar. Andernfalls sind die Zahlen reine Spekulation: Geht es lediglich um Menschen, die wegen Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen mussten, oder werden auch die Völker einbezogen, die ihr Zuhause aufgrund von langfristigen Umweltveränderungen verlassen mussten?

Wie kann man Flucht und Migration in Zusammenhang mit Klima und Umwelt entgegenwirken?

Diese Frage stellen sich am Montag die Staaten auf der Weltklimakonferenz in Glasgow. Auf dem Programm steht: "Anpassung, Verlust und Schäden" im Zusammenhang mit der Klimakrise. Denn klar ist: Es gibt nicht nur in Südasien oder Westafrika Umweltveränderungen, die die menschliche Sicherheit bedrohen. "Das sind Fragestellungen, die auch in Europa immer mehr auf uns zukommen werden", sagt der Migrationsexperte. Die reicheren Länder seien klar in der Verantwortung, die ärmeren Länder, die besonders schwer betroffen sind, zu unterstützen.

"Noch ist es so, dass die Menschen oftmals in ihre Heimat zurückkehren, wenn die Katastrophe vorüber ist. In naher Zukunft werden Regionen aber schlichtweg unbewohnbar sein und die Menschen können gar nicht zurückkehren. Das Problem wird immer größer", mahnt Schraven. Doch wo vor Ort Unterstützung geleistet werden kann, sollten reichere Länder helfen, etwa bei der Nahrungsmittelversorgung oder auch der Landwirtschaft. "Der Fokus sollte auf landesinterner und intranationaler Migration liegen."

Schraven fordert: "Man muss sich von dem Blickwinkel verabschieden, dass der Klimawandel ein Hauptgrund für Migration ist. Das ist nur einer von mehreren Faktoren. Die Marschrichtung sollte – gerade im globalen Süden – sein, Flucht und Migration grundsätzlich politisch zu adressieren. Zu versuchen, die Ursachen von Flucht- und Gewaltmigration zu bekämpfen und Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Menschen unter fairen Bedingungen arbeiten und migrieren können. Weltweit muss der Prozess der Migration verbessert werden, um Geflüchtete zu unterstützen. Egal ob der Klimawandel Hauptgrund war oder nicht."

Verwendete Quellen
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