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"Unseriös": Kritik an EU-Aussage zu neuem Belarus-Szenario


Mögliche Flucht aus der Ukraine
"Das wäre ein moralischer Bankrott"


Aktualisiert am 18.02.2022Lesedauer: 3 Min.
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Migranten an der Grenze zwischen Polen und Belarus: Ein solches Szenario ist im Ukraine-Konflikt unwahrscheinlich.Vergrößern des Bildes
Migranten an der Grenze zwischen Polen und Belarus: Ein solches Szenario ist im Ukraine-Konflikt unwahrscheinlich. (Quelle: Leonid Shcheglov/BelTA/AP/dpa)

Sollte Russland die Ukraine angreifen, könnte das viele Menschen zur Flucht zwingen. Ein EU-Kommissar warnt nun davor, dass die EU damit erpresst werden könnte. Sein Szenario wirft allerdings Fragen auf.

Der EU drohe mit der Ukraine ein Belarus-Szenario – diese Aussage des EU-Kommissars Margaritis Schinas sorgt derzeit für Aufsehen. Er warnte nicht nur vor einer großen Flüchtlingszahl, sollte Russland die Ukraine angreifen. Die Flüchtlinge könnten auch gegen die EU instrumentalisiert und als Druckmittel eingesetzt werden, sagte Schinas der "Welt".

Schinas ist nicht nur einer von 27 EU-Kommissaren. Er ist auch der Vizekommissionspräsident, also der Stellvertreter von Ursula von der Leyen. Seine Aussagen also haben besonderes Gewicht. Der drastische Vergleich mit der Situation in Belarus wirft allerdings Fragen auf.

"Die Aussage des EU-Kommissars ist unseriös"

Zur Erinnerung: Der belarussische Diktator Lukaschenko lockte Tausende Menschen aus dem Irak, Syrien, Afghanistan und Jemen in sein Land, um sie dann an die polnische und litauische Grenze zu schicken – die EU wertete das als Erpressungsversuch.

Wer aber wäre im Falle ukrainischer Flüchtlinge der Erpresser? Das fragt Migrationsexperte Gerald Knaus. Sollte es einen russischen Angriff geben und daraufhin viele Menschen fliehen, wäre das ein klassisches Szenario, das von EU-Recht und der Genfer Flüchtlingskonvention abgedeckt sei, sagte Knaus t-online.

  • Newsblog zur Ukraine-Krise: Die neuesten Entwicklungen lesen Sie hier


"Wenn Ukrainer in die EU fliehen würden, dann nicht, um Druck auf die EU aufzubauen, sondern weil sie vor einem Krieg fliehen." Eine solche Situation wäre mit der, die Lukaschenko geschaffen hat, nicht vergleichbar. Sein Fazit: "Die Aussage des EU-Kommissars ist nicht nur bedenklich, sondern auch unseriös."

Schätzungen über mögliche Flüchtlingszahlen gehen weit auseinander

Zudem seien Vorhersagen, wie viele Ukrainer tatsächlich fliehen würden, derzeit nicht seriös beantwortbar, so Knaus. Tatsächlich gehen die Schätzungen dazu in der EU weit auseinander und reichen von Zehntausenden bis hin zu ein paar Millionen – je nachdem, was in dem Land passiert. Schinas selbst sprach in der "Welt" von 20.000 bis mehr als eine Million.

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Bislang hat der Krieg im Osten der Ukraine seit 2014 und die Annexion der Krim in dem Jahr hauptsächlich für Binnenflüchtlinge gesorgt. Die ukrainischen Behörden registrieren etwa 1,5 Millionen Vertriebene, die ihren Wohnort verlassen und nun in anderen Regionen der Ukraine leben. Eine große Anzahl von Asylanträgen in der EU ist allerdings bisher ausgeblieben, Ukrainer können ohnehin visafrei in die EU einreisen. Im Nachbarland Polen etwa leben und arbeiten schätzungsweise 1,5 Millionen Ukrainer. Offiziell registriert sind allerdings nur 300.000.

Rumänien erwägt spontanen Bau von Flüchtlingslagern

Dort und in anderen Nachbarländern der Ukraine treffen die Regierungen bereits Vorbereitungen, wie sie im Falle eines russischen Angriffs auf mögliche Fluchtbewegungen reagieren wollen. Die polnische Regierung bereitet sich etwa auf Szenarien vor, in denen bis zu einer Million Menschen über die Grenze kommen könnten. Städte und Regionen melden in diesen Tagen bereits ihre freien Kapazitäten, damit die Menschen möglichst schnell verteilt werden können.

Auch Ungarn bereitet sich darauf vor, Zehntausende aufzunehmen, Rumänien erwägt gar den spontanen Bau von Flüchtlingslagern. Und die Slowakei stellte schon im Januar klar, dass jeder Ukrainer im Angriffsfall einen Flüchtlingsstatus erhalten werde.

Polen: "Test der Humanität"

"Niemand weiß genau, wie viele Flüchtlinge es geben wird, aber wenn es einen Krieg gibt und Menschen vor dem Krieg fliehen, müssen sie aufgenommen werden", sagte Andrzej Dera, Berater des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda kürzlich.

Dera beschrieb das als einen Test der Humanität und forderte die Solidarität der EU für diesen Fall ein. "Wir werden auch die Unterstützung Europas brauchen, weil wir nicht alle Flüchtlinge aufnehmen werden können". Ein Signal kam bereits aus den baltischen Staaten, dass sie bereit seien, Ukrainer aufzunehmen. Und auch EU-Kommissar Schinas sagte: Die EU sei "bereit, eine bedeutende humanitäre Hilfe zu mobilisieren und beim Zivilschutz zu helfen."

Wie aber passt das mit dem von ihm beschriebenen Belarus-Szenario zusammen? Die EU-Kommission ließ eine Nachfrage von t-online dazu bislang unbeantwortet.

Migrationsforscher Knaus bewertet die Wortwahl des EU-Kommissars als bedenklich. "Man kann nur hoffen, dass die EU mit ukrainischen Flüchtlingen nicht so verfahren würde wie an der belarussischen Grenze und die Menschen nicht einreisen lassen würde", sagt Knaus. "Das wäre ein moralischer Bankrott."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Telefonat mit Gerald Knaus
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