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Verschwörungstheorien zu Corona: Wir sollten das ernst nehmen!


Verschwörungstheorien zu Corona
Wir sollten das ernst nehmen!

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 09.05.2020Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Widerstand 2020: Kolumnistin Lamya Kaddor warnt vor Verschwörungstheorien zum Coronavirus.Vergrößern des Bildes
Widerstand 2020: Kolumnistin Lamya Kaddor warnt vor Verschwörungstheorien zum Coronavirus. (Quelle: Seeliger/imago-images-bilder)

Jede Krise beschwört Kritiker herauf - auch die Coronakrise. Manche davon mag man im ersten Moment belächeln, aber einfach abtun sollte man sie auf keinen Fall, meint unsere Kolumnistin Lamya Kaddor.

Prominente wie Xavier Naidoo oder Attila Hildmannn sind es ebenso wie Ken Jebsen mit KenFm, Anselm Lenz mit seinen „Hygienedemos“ oder Bodo Schiffmann mit seiner angeblichen Mitmachpartei „Widerstand 2020“: Sie sind wissend. Zumindest sind sie selbst davon überzeugt, wissend zu sein, während alle anderen unwissend sind. Und was wissen sie? Sie wissen, dass Corona ein einziger großer Betrug ist.

Xavier Naidoo als jemanden zu entlarven, der wirre Gedanken äußert, ist einfach. Ihn kennt jeder und sein Irrlichtern lässt sich in den großen Medien nachverfolgen. Bei Bodo Schiffmann ist das schwieriger. Ihn kennt man nicht, sein Wirken spielt in den Tiefen des Internets. Dafür kann er sich wie Wolfgang Wodarg und Sucharit Bhakdi als Akademiker und mit dem Renommee seines Berufsstands „Arzt“ schmücken, wodurch seine Thesen manchen automatisch als seriös gelten. Auch Ken Jebsen trägt vor: dass er lange Jahre Moderator des seriösen öffentlich-rechtlichen RBB war. Sie alle erreichen ein großes Publikum mit ihrer Pauschalkritik an den Corona-Maßnahmen – und das sollte einen beunruhigen.

Hinterfragen der Regierung kam schnell

Alles, was nach Mainstream riecht, zieht alsbald Kritikerinnen und Kritiker auf den Plan: Klimawandel, Flüchtlingshilfe, Globalisierung… Schon kurz nachdem Bayern den Lockdown am 20. März in die Wege geleitet hatte, wurde das Hinterfragen des Regierungshandelns gefordert, als hätte eine Regierung per se unrecht, nur weil sie eine Regierung ist. Zwar konnte die Regierung nicht genau wissen, was richtig oder falsch ist, die Opposition aber ebenso wenig, denn das Coronavirus stellte alle gleichsam, inklusive die Wissenschaft, vor eine vollkommen neue Situation, in der zum Schutz von Menschenleben zunächst schnell gehandelt und nicht diskutiert werden musste.


Kritik ist für eine Demokratie überlebensnotwendig. Wenn Kritik aber Fakten mit Spekulation, Desinformation und Fanatismus vermischt, wird sie gefährlich. Dann ist der Übergang zu Verschwörungstheorien fließend. Dann gibt es das Virus plötzlich gar nicht. Oder es ist bloß ein „Hüsteln“, ein Medienhype. Es wurde zum Schaden Chinas entwickelt. Von den Demokraten geschaffen, um Trumps Wiederwahl zu verhindern. Von Eliten in Umlauf gebracht, um den großen Bevölkerungsaustausch in Gang zu bringen, etc. pp.

Theorien schaden dem gesellschaftlichen Frieden

Im ersten Moment mag man Verschwörungstheorien und ihre Anhänger belächeln, ähnlich wie bei Xavier Naidoo, aber dann sollte man rasch verstehen, wie sehr sie unserem gesellschaftlichen Frieden schaden können; abgesehen von ihrer mentalen Gesundheit, die einem auch Sorgen machen kann: Der Vegan-Koch und Unternehmer Hildmann schreibt: „Gehe ich im Kampf für unsere Freiheit drauf, dann nur mit Waffe in der Hand und erhobenen Hauptes“. Lieber sterbe er, als „ein Leben lang Sklave zu sein!“.

Es gibt harmlose Spinner und harmlose Verschwörungstheorien wie etwa, dass Elvis lebt. Es gibt aber auch den Großen Austausch und Tobias Rathjen, den Attentäter von Hanau, die zeigen wie Verschwörungstheorien zu todbringender Radikalisierung führen und Menschen von der Gesellschaft wegtreiben. Nach jeder Warnung vor dem politischen Abdriften Ungarns in Richtung rechtsnationaler Autokratie findet sich irgendjemand, der dies mit einem Hinweis auf die große Verschwörung des Juden George Soros zu entkräften versucht; im Antisemitismus finden sich die schrecklichsten Beispiele der Geschichte fürs Bedrohungspotenzial von Verschwörungstheorien.

Soziale Medien machen Denkweise sichtbar

Gewiss haben manche Anhänger etwas pathologisches, was man aus der Distanz nicht beurteilen kann und deshalb auch niemandem ins Gesicht sagen sollte. Vielleicht sind einige tatsächlich psychisch krank, dennoch haben sie Einfluss. Das Internet und die Sozialen Medien machen ihr Denken anders als in der Vergangenheit für alle sichtbar, verfügbar und helfen bei der Vernetzung.

Stellen Sie sich vor, Sie kommen bei einer Zugfahrt mit jemandem ins Gespräch und argumentieren, Bill Gates hat nicht das Coronavirus geschaffen, um zu profitieren, er möchte der Menschheit keine Mikrochips einpflanzen, um die totale Kontrolle zu erlangen, und er hat auch die Weltgesundheitsorganisation WHO nicht gekauft. Abends googlet die Person dann noch einmal danach und stößt prompt auf zig Videos und Beiträge, die das Gegenteil behaupten. Wie die New York Times berichtet gibt es in diesem Jahr bereist mehr als 16.000 Facebook-Posts zur Bill Gates-Verschwörung mit 900.000 Likes und Kommentaren. Die zehn erfolgreichsten YouTube-Videos zu Bill Gates im März und April wurden mehr als fünf Millionen Mal gesehen. Wie viele Zuschauer führt das wohl dazu, Ratschläge von Medizinerinnen und Wissenschaftlerinnen zu ignorieren? Und wie viele treibt es auf die Straße zu den Anti-Corona-Protesten im Land?

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"Theoretiker ans Licht der Öffentlichkeit zerren"

Angesichts der Erfolge von Verschwörungstheoretikern, Corona-Skeptikern, Impfgegnern und ihren Strategien sollten wir uns dezidiert damit befassen. Medien sollten darüber berichten und sie ans Licht der Öffentlichkeit zerren. Wenn über „Widerstand 2020“ aufgeklärt wird, entkräftet das nicht nur Behauptungen, der Mainstream wolle sie klein halten und zum Schweigen bringen, sondern es sensibilisiert gleichsam dafür, die Thesen der Schiffmanns, Lenzs und Jebsens kritisch zu betrachten. Verschweigen ist im Internetzeitalter eh keine nachhaltige Option mehr.

Dabei sollte die Auseinandersetzung mit einzelnen Anhängern oder Interessenten von Verschwörungstheorien oder Pauschalkritiken behutsam beginnen. Man darf nicht alle gleich verteufeln, lächerlich machen oder für irre erklären. Menschen, die auf solche Erklärungen anspringen, sind nicht allesamt bekloppt. Früher dachten viele, solche Leute seien paranoid oder psychotisch, aber dafür sind Verschwörungstheorien heute weltweit viel zu stark verbreitet.

Einige, die an Verschwörungstheorien andocken, erkennen sie zunächst gar nicht als solche. Verschwörungstheorien haben in der Regel immer gewisse Anteile von Wahrheit, einzelne Argumente sind durchaus schlüssig. Nicht jedes Detail ist Schwachsinn, sondern der Schwachsinn entsteht erst durch Vermischung von Fakten mit Missverständnissen, Fehlern, bewussten Täuschungen, Lügen oder bösen Absichten.

Verschwörung kann auch Bewältigungsstrategie sein

Andere, die an Verschwörungstheorien andocken, sind Menschen wie Sie und ich, die bloß verständliche Erklärungen für unverständliche Entwicklungen suchen wie den weltweiten Lockdown, für monströse Ereignisse wie den 11. September oder außerordentliche Geschehnisse wie die Mondlandung. Einige sind vielleicht ganz besonders betroffen - zum Beispiel Angehörige von Risikogruppen der Corona-Pandemie.
Soziologisch betrachtet kann Verschwörungsdenken auch eine Bewältigungsstrategie sein: Man will und kann nicht glauben, dass ein winziges, mit dem bloßen Auge nicht sichtbares Virus einen bedroht oder töten könnte. Man kommt nicht klar damit, dass der Staat einem grundlegende Freiheitsrechte entzieht und sucht nach Ausweichmöglichkeiten und Erklärungen.

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Verschwörungstheorien und Pauschalkritiken reduzieren komplexe Sachverhalte in einer komplexen Welt. Das macht sie für viele reizvoll. Es gibt Menschen, für die es leichter zu verdauen ist, wenn jemand Böses heimlich die Strippen zieht, als dass etwas einfach so durch historische Zufälle oder durch Verquickung komplizierter Zusammenhänge geschieht. Deshalb sind Menschen, die schlechter mit Ambivalenz, Unsicherheit und Unklarheit zurechtkommen, anfälliger für Verschwörungstheorien.

Zudem ist im Umgang mit den Anhängern zu beachten, dass sie sich durch abwertendes, überhebliches, verlachendes Verhalten nur in ihren Überzeugungen bestätigt fühlen. „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“, sagt ein Sprichwort; bekämpft wird, wer Unbequemes ausspricht. Abfälliges Verhalten festigt darüber hinaus das Freund-Feind-Schema. Verschwörungstheorien leben von der Dichotomie Gut und Böse.
Vor diesem Hintergrund sollte man zunächst den Gesprächsfaden knüpfen. Lasst die Menschen reden! Aber fragt sie nach ihren Belegen! Hakt bei den Details ein! Zeigt Widersprüche auf und bittet um Auflösung! Denn Fakten können Verschwörungstheorien entgegenwirken.

Argumentation klappt nicht bei Fanatikern

Natürlich gelingt ein argumentativer Austausch nur dann, wenn es nicht um Fanatiker geht. Wer fanatisch ist, ist über die Vernunftebene nicht zu erreichen. Das ist vergleichbar mit radikalen Islamisten, Antisemiten, Rassisten oder sonstigen Extremisten. Kritik stellt ihre Identität in Frage. Für Radikale ist ihr Thema nicht nur irgendein Thema. Mit ihm steht und fällt die ganze Persönlichkeit. Kritik reizt demzufolge ihren „Überlebensinstinkt“ und löst ihren Selbsterhaltungstrieb aus: die eigene Überzeugung wird unnachgiebig verteidigt, Kritiker werden bekämpft.
In solchen Fällen hilft nur das, was ich im Umgang mit Fanatikern immer rate: Eine Gesellschaft muss sie letzten Endes an den Rand drängen, auch wenn es dort langsam voll wird. Wer keine Bereitschaft zum ehrlichen Gedankenaustausch hat, gehört ausgegrenzt - jedenfalls dann, wenn es um Menschen geht, zu denen man selbst keinen familiären oder persönlichen Bezug hat.

Um sich mit Verschwörungstheorien befassen zu können, muss man sie freilich erst einmal erkennen. Zentral dafür ist die Frage nach dem Absender der Botschaft: Wer verbreitet ist die „Theorie“? Welches Medium? Welche Person? Welche Quelle? Sind sie umstritten? Gibt es bereits Kritik an ihnen - unabhängig vom eigentlichen Thema der Verschwörung? Welches Interesse könnte jemand an der Verbreitung der „Theorie“ haben?

Die nächste Frage lautet: Klingt etwas so unglaublich, dass es vollständig dem, was etablierte Wissenschaftler sagen, widerspricht? Wenn ja, dann ist prinzipiell Vorsicht angebracht. Denn wenn irgendetwas an dieser Sensation dran wäre, würde es aus verschiedenen (seriösen) Quellen ähnliche Äußerungen geben. Hätte es zum Beispiel die Mondlandung tatsächlich nicht gegeben, hätte die Sowjetunion das lautstark verkündet. Heute mit unserer Medienöffentlichkeit gibt es immer gegnerische Kräfte, die ein Interesse an öffentlicher Kritik haben. Das Netz und die Sozialen Medien stehen ja nicht nur Verschwörern offen, sondern auch ihren Gegnern.

Eine weitere Frage: Geht es bei der „Theorie“ um Gut und Böse? Werden böse Mächte oder Eliten verantwortlich gemacht? Das wäre verdächtig, weil das beispielsweise aus Gründen des Neides und des Machtstreits schon immer getan wurde. Eliten sind zwar nicht grundsätzlich gut und haben in der Vergangenheit tatsächlich Verschwörungen angezettelt, etwa US-Eliten beim Sturz Mohammad Mossadeghs im Iran, in der Iran-Contra-Affäre oder Eliten in der Pharmabranche, aber Eliten sind auch nicht grundsätzlich böse. Schließlich sollte man bei „Theorien“ prüfen, ob zum Beweis angeführte Zitate und Details wirklich stimmen oder vielleicht aus dem Zusammenhang gerissen wurden?

Bei Eindämmung kommt es auf jeden an

Verschwörungstheorien sind nicht nur ein Hollywood-Phänomen und der Umgang mit ihnen ist nicht unseriös. Sie spielen im islamistischen Terrorismus ebenso wie im Rechtsextremismus oder unter Corona-Leugnern und anderen eine wichtige Rolle. Zu ihrer Eindämmung kommt es auf jeden an. Gerade im Zeitalter des Internets sollten wir die Auseinandersetzung damit nüchtern und sachlich, aber viel, viel offensiver führen.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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