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Corona-Zahlen in Deutschland stagnieren – können wir jetzt trotzdem lockern?


Corona-Zahlen stagnieren
"Für Lockerungen besteht kaum Spielraum"


22.02.2021Lesedauer: 6 Min.
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Die fast menschenleere Friedrichstraße in Berlin: Die Luxus-Shopping-Meile leidet unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie.Vergrößern des Bildes
Die fast menschenleere Friedrichstraße in Berlin: Die Luxus-Shopping-Meile leidet unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie. (Quelle: Paul Zinken/dpa)

Können sich die Deutschen auf einen Schritt hin zu mehr Normalität einstellen? Experten sind sich uneins. Ein Kompromiss könnte erneut schwierig werden.

Deutschland sehnt sich nach Lockerungen der Corona-Regeln. Seit einem Jahr ist das Leben pandemiebedingt aus den Fugen, seit November sind Gastronomie und in weiteren Schritten auch die Schulen, Kitas und viele Geschäfte geschlossen worden. Wie lange müssen die Menschen das noch aushalten?

Diese Frage treibt derzeit Politik und Experten um. Das Problem: Die Zahl der täglichen, an das Robert Koch-Institut (RKI) gemeldeten Corona-Neuinfektionen stagniert auf einem immer noch zu hohen Niveau. Epidemiologe Markus Scholz von der Universität Leipzig sagt: "In der Tat beobachten wir seit ein paar Tagen eine Abschwächung des Abwärtstrends in den Infektionszahlen." Dazu könnten seiner Meinung nach die ansteckenderen Corona-Mutationen, insbesondere die britische B.1.1.7.-Variante, beitragen.

Es sei durchaus möglich, dass sich eine dritte Welle trotz bestehenden Lockdowns aufbaue. "Für Lockerungen besteht deshalb kaum Spielraum", sagt Scholz. "Wenn dann könnte man auf die Maßnahmen verzichten, die einen geringen Einfluss auf das Infektionsgeschehen haben, wie etwa kleine Läden und Dienstleister oder Museen mit ausreichend Sicherheitsabstand und Hygienekonzept."

Epidemiologe: In Schulen fehlt es an Filteranlagen und Trennwänden

Kritisch sieht der Epidemiologe die Schulöffnungen. Schulen würden eine wesentliche Rolle im Infektionsgeschehen spielen. "Leider werden aktuell die Schulen mit mehr oder weniger den gleichen Hygienekonzepten wie im Frühjahr geöffnet. Dabei wird nicht beachtet, dass die Inzidenzen deutlich höher liegen und die B.1.1.7.-Variante deutlich ansteckender ist", erklärt Scholz.

Es fehlten nach wie vor Aerosolfilteranlagen und Trennwände. Deshalb sei er für eine Maskenpflicht im Unterricht, um Ansteckungen zu vermeiden. Auch gebe es keine Teststrategie, um in Schulen mögliche Ausbreitungen zu verfolgen und darauf reagieren zu können. "Aufgrund der schlechten Vorbereitung der Schulöffnungen befürchte ich, dass dies nicht lange gut gehen wird und wir wieder schwere Ausbrüche an Schulen beobachten werden, die dann auch in die Familien getragen werden", sagt der Epidemiologe.


Der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, warnte kürzlich ebenfalls deutlich vor weiteren Lockerungen: "Wer in Zeiten steigender R-Werte über Lockerungen spricht, handelt absolut unverantwortlich." Für solche Schritte sei es zu früh. "Bei jeder Lockerung wird es einen deutlichen Anstieg der Zahlen geben", sagte der Mediziner den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Derzeit liegt er in Deutschland bei 1,1.

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Soziologe: Unsicherheit ist größtes Problem

Soziologe Jürgen Gerhards sieht mögliche Öffnungen als schwieriges Zeichen an die Bevölkerung. Der Professor von der FU Berlin zieht Parallelen zu einer berühmten Studie. Für diese wurden Menschen gefragt, welches Szenario sie bevorzugen würden: Einen Stromschlag von 30 Volt zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt zu erhalten oder einen Stromschlag von 80 Volt zu einem eigens bestimmten Zeitpunkt zu bekommen.

"Die meisten Menschen entschieden sich für die zweite Option", sagt Gerhards t-online. Bezogen auf die Corona-Pandemie könne man daraus schlussfolgern: "Das Problem ist die Unsicherheit. Das ist ein größerer Faktor in der Bedeutsamkeit als der Schaden selbst."


Alle Einschränkungen in der Corona-Pandemie seien mit persönlichen und finanziellen Schäden verbunden, doch die Menschen seien grundsätzlich bereit, sie zur Eindämmung der Pandemie in Kauf zu nehmen. Doch Gerhards sagt: "Die Politik hat große Fehler gemacht, nicht klug gehandelt, als immer wieder Termine festgelegt wurden, die Hoffnung gaben." Man könne einfach nicht vorhersehen, wie sich die Inzidenzzahlen entwickeln und deshalb auch nichts versprechen. Die einzige Option, die nun für die Politik bestehe, sei, offen zu kommunizieren.

Gerhards versteht den großen Frust in der Bevölkerung und die Sehnsucht nach Lockerungen. "Es wäre sicher für die Stimmung in der Bevölkerung sehr gut, wenn offen gesagt würde: Wir wissen es einfach nicht."

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Bundeskanzlerin Merkel hat unterdessen offenbar in einer Gremiensitzung der CDU erklärt, dass Lockerungen ins Auge gefasst werden müssten. Die Sehnsucht der Bürger nach einer Öffnungsstrategie sei groß, das verstehe sie. Die Kanzlerin sagte demnach weiter: "Öffnungsschritte mit vermehrten Tests müssen klug eingeführt werden." Mehr dazu lesen Sie hier.

Lauterbach: "Eine Öffnungsperspektive muss kommen"

Auch SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat sich für eine Öffnungsstrategie ausgesprochen. "Eine Öffnungsperspektive muss kommen", schrieb er bei Twitter. Dennoch warne er auch davor, "in die beginnende dritte Welle hinein" zu lockern und der britischen Virusmutation so die Chance zu Ausbreitung zu geben. "Es würde stark die 55-80-Jährigen treffen, sie sind noch nicht geimpft", erklärte Lauterbach. Ein weiteres Problem sei auch die geringere Wirksamkeit des Astrazeneca-Impfstoffs gegen die südafrikanische Virusvariante. Es sei naiv zu glauben, dass man lockern könne, sobald alle über 80-Jährigen geimpft seien.

Die von Gesundheitsminister Jens Spahn angekündigten kostenlosen Schnelltests sieht Lauterbach nicht als Allheilmittel. Diese Selbsttestungen würden dazu führen, dass Kontakte nie gewarnt werden würden und das Gesundheitsamt umgangen werde. Lauterbach schlägt stattdessen vor, Kinder in der Schule zweimal pro Woche mit Antigentests zu testen. "Das würde aber fast die komplette Kapazität der Tests am Anfang verbrauchen", räumt er ein.

Spahn: Drei-Monatsplan nicht möglich

Spahn hatte Forderungen nach einem zeitlich verbindlichen Plan für Lockerungen der Corona-Beschränkungen zurückgewiesen und einen Neuinfektionswert von unter 10 als anstrebenswert dargestellt. "Alle wünschen sich einen Drei- und Sechs-Monatsplan, aber das geht halt gerade nicht. Ich finde, wir dürfen da keine falschen Versprechungen machen", sagte der CDU-Politiker am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin".

Zunächst will er auch angesichts der zunehmenden Verbreitung von Virusmutationen abwarten, wie sich die Öffnung weiterer Schulen und Kitas an diesem Montag auswirkt. "Es macht Sinn, miteinander – das ist ja das Gespräch mit den Ländern – Stufen zu definieren, ab wann der nächste Schritt gegangen werden kann. Aber die Wahrheit ist: Eine Inzidenz von unter 10, die ist jedenfalls in den allermeisten Regionen in Deutschland gerade ziemlich weit weg", sagte Spahn.

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Bund und Länder hatten vor Kurzem beschlossen, Lockerungen des öffentlichen Lebens erst ab einem stabilen Inzidenzwert unter 35 zu ermöglichen. Christian Dürr, Vize-Fraktionschef der FDP, sagt t-online dazu: "Auch wenn wir die Inzidenz von 35 vor der nächsten Bund-Länder-Runde nicht erreichen, sollte es Lockerungen geben, weil wir zusätzlich auch andere Faktoren berücksichtigen müssen – wie die Auslastung der Intensivbetten und der Fortschritt beim Impfen." Wichtig sei aber, dass mit jeder Lockerung auch das Angebot an Schnelltests erweitert werde und dass Risikogruppen besser geschützt seien. "Hier muss Herr Spahn jetzt nachlegen“, betont er.

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In der deutschen Wirtschaft ist die Verzweiflung schon jetzt vielerorts groß. Besonders der Einzelhandel sowie die Betreiber von Restaurants und Gaststätten leiden extrem unter dem andauernden Lockdown – und wünschen sich schnellstmögliche Lockerungen. Zahlreiche Firmenchefs, aber auch Angestellte, sind ob der fehlenden Öffnungsperspektive inzwischen wütend auf die Politik, viele haben Existenzängste.

Ökonom: "Hier geht es an die Substanz"

Nicht zu Unrecht, wie der Ökonom Hubertus Bardt vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) erläutert. "Hier geht es an die Substanz", sagt Bardt t-online. "Wenn das Frühjahrsgeschäft mit den Osterferien auch noch ausfällt, wäre das ein schwerer Schlag für viele dieser Unternehmen."

Aktuell sind die Auswirkungen auf die deutschen Unternehmen allerdings sehr unterschiedlich. "Wir erleben eine zweigeteilte Wirtschaft", so Bardt weiter. "Die Industrie, die im Frühjahr schwer getroffen war, kommt bisher vergleichsweise gut durch den Winter-Lockdown." Dabei aber mehrten sich auch im produzierenden Gewerbe die Sorgen, vor allem mit Blick auf ihre Im- und Exporte. "Werden Grenzen teilweise oder ganz geschlossen, gefährdet das internationale Lieferketten und könnte die Produktion in Deutschland schnell komplett stillstehen lassen."

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Jede weitere Woche, so rechnet Bardt vor, entstünde der Wirtschaft in Deutschland ein Verlust von 3,5 Milliarden Euro. Werde die Industrie in Mitleidenschaft gezogen, würden die Verluste deutlich höher sein. Viel Geld also, das sich sparen ließe, käme es zügiger zu einer Lockdown-Lockerung.

Söder: Regionale Lockerungen sind möglich

So gehen eine Woche vor dem nächsten Corona-Gipfel die Interessen auseinander: In der Politik wollen manche einen Öffnungsplan, andere halten das für unmöglich. Epidemiologen warnen vor Lockerungen, Wirtschaftsexperten vor immensen Lockdown-Schäden. Was nun?

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder deutete an, wie ein Kompromiss aussehen könnte. Er wolle angesichts sinkender Infektionszahlen in Bayern auch über Öffnungsperspektiven reden. Auf Twitter schrieb er: "Bei stabilen Inzidenzzahlen unter 35 werden nach der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz regionale Lockerungen möglich. Die Schule ist dabei weiter die Nummer 1 aller Überlegungen. Auch mehr Kontakte wollen wir bei niedrigen Zahlen ermöglichen."

Für Lockerungen in der Wirtschaft brauche es eine Öffnungsmatrix, die sich an den Inzidenzwerten 35 und 50 orientiert, schrieb er weiter. In der nächsten Woche solle es weitere Anpassungen geben: "Pflegerische Leistungen wie Fußpflege sind möglich und auch Gärtnereien und Blumenläden dürfen öffnen."

Mehr als die Hälfte der Landkreise und kreisfreien Städte in Bayern hat mittlerweile den Inzidenzwert von 50 unterschritten. 51 der 96 Kreise und Städte verzeichnen nach den Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) von Samstag weniger als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche. Davon liegen 27 unter der 35er-Marke.

Öffnen, wo es möglich ist, orientiert an aktuellen Zahlen und auf Grundlage eines klaren Plans – das könnte nicht für alle Menschen in Deutschland gleichermaßen Entlastung bringen. Aber zumindest eine Perspektive.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP
  • Twitter: Profil von Markus Söder
  • Kontakt mit Cristian Dürr, FDP
  • Gespräch mit Jürgen Gerhards, Soziologe an der FU Berlin
  • Gespräch mit Hubertus Bardt, Ökonom beim IW
  • Gespräch mit Markus Scholz. Epidemiologe an der Universität Leipzig
  • Twitter: Profil von Karl Lauterbach
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