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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ministerpräsident Mario Voigt "Die Leute haben die Nase voll"

Wie gewinnt die Politik Vertrauen zurück? Gerade dort, wo AfD und BSW stark sind? CDU-Politiker Mario Voigt versucht es in Thüringen mit einer anderen Strategie als seine Parteifreunde im Bund.
Mario Voigt empfängt im Bundesrat. Der Ministerpräsident Thüringens hat hier gerade mit seinen Länderkollegen für den Investitionsbooster gestimmt. Es soll wieder aufwärts gehen mit der Wirtschaft, so die Hoffnung.
Seit Ende 2024 regiert Mario Voigt mit dem BSW und der SPD in Thüringen. Ohne Mehrheit und mit starker AfD und der Linken in der Opposition. Könnte also gemütlicher sein. Wie macht er das? Und was bedeutet der Flirt von BSW und AfD für seine Regierung? Das erzählt Voigt im Interview mit t-online.
t-online: Herr Ministerpräsident, bald ist Erntezeit, hat sich Ihr Verhältnis zu Brombeeren in den letzten Monaten verändert?
Mario Voigt: Bei mir im Garten in Thüringen blühen die Brombeeren. Ich habe einen Strauch zur Wahl als Ministerpräsident geschenkt bekommen. Und in der Politik blüht es bei uns auch. Es ist fruchtig.
Der Linken-Landeschef hat Ihre sogenannte Brombeer-Regierung aus CDU, BSW und SPD nach 100 Tagen als "Ankündigungsweltmeister" kritisiert. Zu wenige Ihrer Versprechen seien umgesetzt worden. Was entgegnen Sie ihm?
Wir lassen lieber Taten sprechen. Wir haben in den ersten 100 Tagen mehr gemacht als Rot-Rot-Grün in den fünf Jahren zuvor. Das sieht man unter anderem in der Bildungs- oder Migrationspolitik. Mein Anspruch ist: Tempo, Tempo, Tempo – und das leben wir in Thüringen.

Der Interviewpartner
Mario Voigt, 48 Jahre alt, ist seit Ende 2024 Ministerpräsident von Thüringen. Voigt ist in Jena geboren und seit 1994 Mitglied der CDU. Vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten war er seit 2020 Fraktionschef der CDU im Landtag. Seit 2022 ist er Landesvorsitzender.
Was heißt das in der Bildungspolitik?
In Thüringen fiel unter der vorherigen Regierung jede zehnte Schulstunde aus, die stille Bildungskrise unseres Landes. Für mich hat Bildung Priorität, deswegen versprechen wir angehenden Lehrern eine Übernahmegarantie und ich habe persönlich unmittelbar nach meiner Wahl 600 angehende Lehrerinnen und Lehrer angeschrieben. Jetzt werden wir erstmals wieder mehr Lehrer einstellen können als in den Ruhestand gehen. Außerdem gilt Fördern und Fordern bei uns wieder, deswegen werden Versetzungsentscheidungen und Notengebung in Thüringen wieder eingeführt.
Und in der Migrationspolitik?
Hier ist ein spürbarer Richtungswechsel vollzogen. Die Migrationszahlen gehen zurück. Wir haben nach zehn Jahren Rot-Rot-Grün nun endlich Abschiebehaftplätze geschaffen und eine zentrale Ausländerbehörde im Aufbau. Damit können wir schneller entscheiden: Wer bleiben darf, soll zügig Klarheit bekommen – vor allem, wenn er einen Beruf mitbringt.
Sie regieren mit SPD und BSW, haben aber trotzdem keine eigene Mehrheit gegen AfD und Linke. Den Haushalt konnten Sie nur beschließen, weil Sie mit der Linken verhandelt haben. Die CDU im Bund hingegen will nicht mal mit der Linken sprechen. Halten Sie das für sinnvoll?
Die CDU im Bund braucht von mir keine Strategie-Empfehlungen.
Aber Sie haben ja offenkundig eine andere Strategie in Thüringen.
Entscheidend ist, was für Thüringen rauskommt. Wir haben hier eine De-facto-Mehrheit, nur wenn AfD und Linke zusammen abstimmen, gibt es ein Patt. Für mich ist wichtig, die besten Lösungen für die Themen auf den Tisch zu bringen, die für die Leute relevant sind. Der Kern unserer Politik ist, dass wir nicht ideologisch arbeiten, sondern pragmatisch.
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Deshalb noch mal: Ihr Konzept ist damit ein anderes als das der Union im Bund.
In Thüringen gehen wir unseren Weg mit dem prälegislativen Konsultationsverfahren. Wir holen die Opposition schon ins Boot, bevor das Kabinett etwas beschließt.
Wie funktioniert das?
Ich möchte eine politische Kultur des Miteinanders. Das bedeutet: Wir lassen die Opposition nicht raus. Sie soll sagen, was sie zu bestimmten politischen Themen zu sagen hat. Wir hören uns alle Wähler an. Wenn wir einen Gesetzesvorschlag haben, geben wir den ins Parlament, bevor wir ihn im Kabinett beschließen. Wir bieten der Opposition an, ihre Vorschläge einzubringen, die wir dann aufnehmen können. So wollen wir auch das Vertrauen in der Bevölkerung wiedergewinnen. Die Leute haben die Nase voll. Sie wollen nicht nur schöne Reden, sondern sehen, dass wir handeln. Sie lassen es der Politik nicht durchgehen, wenn ein Problem zwar erkannt, aber nicht angepackt wird wegen fehlendem Willen oder wackelnden Mehrheiten.
Apropos Probleme anpacken: Wie schädlich ist das Gerangel von Union und SPD im Bund um die Wahl zum Bundesverfassungsgericht?
Das Verfassungsgericht ist nicht beschädigt, nur weil eine Wahl abgeblasen wurde. Das ist im Grunde erst mal Demokratie. Unsere Ordnung ist so angelegt, dass jeder Kandidat für das höchste deutsche Gericht für eine Mehrheit vermittelbar sein muss. Natürlich behalten alle Beteiligten in Berlin immer im Blick, dass das höchste Gericht Deutschlands in seiner Würde und seinem Ansehen keinen Schaden nimmt. Das muss unser aller Ansporn sein. Jeder sollte sich jetzt die Frage stellen, wie das durch Verfahren und Personen gelingen kann, ohne die Institution zu beschädigen.
Mehrheiten zu finden, wird ja nicht nur dort immer schwieriger. Ist es nicht unlogisch, dass der Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU "Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit" mit AfD und Linken ausschließt, aber mit dem BSW nicht? Muss er überarbeitet werden?
Nein. Es bringt nichts, wenn wir uns bei jeder neuen Parteigründung in Ausschließeritis ergehen. Es gibt eine ideologisch-moralische Hochrüstung in der deutschen Politik, die dem Land nicht guttut. Deutschland ist deswegen so stark geworden, weil es sich im Sinne der sozialen Marktwirtschaft darauf konzentriert hat, was das Land und seine Menschen nach vorne bringt. Es geht um wirtschaftliches Wachstum. Es geht um das Funktionieren des Staates und ein Lebensgefühl, wo die Leute sagen: Das Land hat seine beste Zeit noch vor sich.
Das klingt jetzt nach einem Plädoyer dafür, den Unvereinbarkeitsbeschluss nicht hochzurüsten, sondern abzurüsten.
Es ist ein Plädoyer dafür, nicht Scheindebatten zu führen und schon wieder neue Hürden aufzubauen. Ich halte es generell für falsch, sich dauernd auf die anderen zu fokussieren. Mein Politikansatz ist es, zu sagen, wofür ich selber stehe und dafür zu kämpfen. Das machen wir in Thüringen mit einem unideologischen, mit einem pragmatischen Kurs. Wenn jemand eine Idee dazu hat, wie wir unser Land weiterentwickeln können, dann höre ich mir die an. Ich achte auf alle, aber ich regiere nicht mit jedem.
Das BSW flirtet gerade mit der AfD. Glauben Sie, dass beide irgendwann zusammen regieren könnten oder sich zumindest in einer Minderheitsregierung tolerieren?
Das halte ich in Thüringen für ausgeschlossen. Wir haben ein sehr vertrauensvolles Miteinander und fahren einen pragmatischen Kurs. Wir orientieren uns an den Themen der Leute. Wir waren das schnellste aller Länder nach den Landtagswahlen, das einen Haushalt beschlossen hat. Mit einer Finanzministerin Katja Wolf vom BSW.
Aber Sahra Wagenknecht hört ja nicht auf, dauernd zu sagen, was für ein Riesenfehler es gewesen sei, die Koalitionen in Thüringen und Brandenburg einzugehen. Locht und heftet man diese Zwischenrufe dann in der Koalition gemeinsam ab?
Wir konzentrieren uns auf Thüringen. Für diesen Weg hat Katja Wolf auf dem BSW-Parteitag ein klares Mandat mit einer Zweidrittelmehrheit bekommen …
… und das, obwohl Sahra Wagenknecht eine andere Kandidatin unterstützt hatte. Aber trotzdem: Was macht Sie so sicher, dass es zwischen der AfD von Björn Höcke und dem BSW nicht auch in Thüringen zu etwas kommen könnte?
Weil viele jeden Tag sehen, welch Geistes Kind Herr Höcke ist. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der extremste Vertreter der AfD die Unterstützung vom BSW oder anderen im Thüringer Landtag findet. Im Übrigen bin ich seit 20 Jahren der erste Ministerpräsident in Thüringen, der im ersten Wahlgang gewählt wurde. Da geht man mit Demut, aber auch mit einem gewissen Grundvertrauen an die Regierungsarbeit.
Allerdings hat sich BSW-Fraktionschef Frank Augsten kürzlich auch mit AfD-Fraktionschef Björn Höcke getroffen. Konstruktiv sei das gewesen, sagten beide anschließend. Welche Gefühle macht Ihnen das, wenn Ihr Koalitionspartner mit Höcke verhandelt?
In unserem Regierungsvertrag haben wir vereinbart, dass Gespräche, die aufgrund der parlamentarischen Sperrminorität der AfD notwendigerweise zu führen sind, geführt werden müssen. Und: Wir leben in einem freien Land. Jeder kann mit jedem reden und seine Erfahrungen sammeln. Es schien nicht sonderlich ergebnisreich.
Es ging beim Gespräch auch darum, dass die AfD die Besetzung der Ausschüsse im Landtag mit ihrer Sperrminorität blockiert, also ihrer Zweidrittelmehrheit. Für die Wahl von Richtern und Staatsanwälten gibt es bislang also keine Lösung?
Doch. Es gibt ein Gutachten unserer Justizministerin, das belegt, dass wir erst einmal weiter Richter und Staatsanwälte berufen können. Wir wollten die Ausschüsse mit der Opposition gemeinsam neu besetzen. Aber die AfD hat kein Interesse an funktionierenden demokratischen Institutionen. Es beeindruckt mich aber nicht, weil wir handlungsfähig bleiben. Mir bereitet aber eine Sache Sorge.
Und zwar?
Die AfD wird von vielen permanent zum Bezugspunkt von Politik gemacht. Das ist ein riesiger Fehler. Es mag in der Berliner Blase zur Aufregung gut funktionieren, aber es verkennt die Ursache und löst die Probleme der Bürger in den Thüringer Dörfern und Städten nicht.
Sondern?
Im Konkreten sind die Fragen: Kommt der Bus noch? Kriege ich einen Termin beim Arzt? Ist die Polizeistation noch da? Hat mein Kind den Schulunterricht, den es verdient? Dahinter steckt etwas Grundsätzliches: Ist der Staat noch handlungsfähig und kümmert er sich um die Anliegen der Bürger? Wenn der Staat nicht mehr liefert, verliert die Demokratie ihr Fundament. Handlungsfähigkeit ist nicht bloß eine Verwaltungsfrage, sondern eine politische Kategorie. Bürgerinnen und Bürger glauben an die Demokratie, wenn sie sehen: Es geht voran. Wenn sie sehen: Der Staat funktioniert.
Aber was heißt das?
Vielfach nehmen die Menschen wahr, im Kleinen mischt die Politik sich immer mehr ein und im Großen kriegt sie die Sachen nicht geregelt. Statt sich auf die großen Fragen zu konzentrieren – Standortpolitik, Infrastruktur, Energiepreise –, beschäftigt sich der Staat zunehmend mit Detailregulierung, Kontrolle und Vorschriften. Das zu ändern und bei den konkreten Sorgen der Bürger anzusetzen, dafür arbeiten wir als neue Regierung in Thüringen. Wir wollen das grüne Herz Deutschlands zum Vorzeigeland machen. Dafür haben wir in wenigen Monaten schon viel geschafft. Wir spüren Aufbruch und Zuversicht. Die Leute wollen wieder mehr bauen, das ist ein guter Frühindikator.
Ich erwarte, dass die Stromsteuersenkung für alle zeitnah kommt.
Mario Voigt
Wie schmerzhaft ist es da, dass die Bundesregierung Privatleute und kleine Betriebe bei der Stromsteuer erst einmal nicht entlastet?
Thüringen ist das Land mit der höchsten Industriearbeitsplatzdichte im Osten. Unseren Industrieunternehmen hilft die Stromsteuersenkung. Aber wir sind trotzdem deutlich stärker von Mittelstand und Handwerksbetrieben geprägt. Ich erwarte, dass die Stromsteuersenkung für alle zeitnah kommt. Der Bundesrat hat sich mit Thüringer Zustimmung in der letzten Woche dazu eindeutig positioniert.
Zeitnah heißt was?
Ich würde mir wünschen, dass der Bundestag nach der Sommerpause in den Haushaltsberatungen noch eine Lösung findet. Spätestens nächstes Jahr im Haushalt für 2027 muss die Stromsteuersenkung für alle kommen. Aber wir haben auch schon entscheidende Schritte geschafft.
Nämlich?
Mit Bundeskanzler Merz übernimmt Deutschland in Europa wieder eine Führungsrolle. Und für unsere Wettbewerbsfähigkeit braucht es einen Deutschlandschub. Der Anreiz für Investitionen und die steuerlichen Entlastungen – insbesondere die Senkung der Körperschaftssteuer – sind das richtige Signal: Investieren in Deutschland soll sich wieder lohnen. Denn Fakt ist: Die Bruttoanlageinvestitionen sind im Vorjahresvergleich um neun Prozent eingebrochen ...
... also Investitionen in Maschinen, Gebäude und Ausrüstung.
Das ist nicht nur eine Delle – das ist ein Warnruf. Der Beschluss des Investitionsboosters in Bundestag und Bundesrat ist ein gutes Signal von Bund und Ländern, denn sie packen endlich dort an, wo unserer Wirtschaft der Schuh drückt: bei Investitionen, bei Bürokratierückbau und bei Steuern. Wirtschaftliches Wachstum braucht einen Staat, der nicht bremst, sondern unterstützt. Genau deshalb ist das geplante Sondervermögen für Infrastruktur der zweite Schlüsselbaustein eines echten Deutschlandschubs. Wir haben als neue Regierung in Thüringen dafür das modernste Vergaberecht geschaffen, damit wir die PS sofort auf die Straße bekommen, wenn das Geld ankommt. Wenn wir es jetzt noch schaffen, die Energiepreise für alle runterzukriegen, steigt die Zuversicht weiter. Und genau so gewinnen wir das Grundvertrauen in die Politik zurück.
Hätten Sie sich trotzdem gewünscht, dass Friedrich Merz bei der Stromsteuer vorher mit den Ministerpräsidenten gesprochen hätte? Gerade dort war und ist die Kritik groß.
Friedrich Merz hat großes Interesse, mit den Ländern gemeinsam Politik für Deutschland zu machen. Er hat erst kürzlich alle Ministerpräsidenten ins Bundeskanzleramt eingeladen. Das ist ein neues Miteinander in den Bund-Länder-Beziehungen. Aber wir müssen diesen gemeinsamen Willen jetzt auch nutzen, um die bestehenden Probleme zu lösen.
Woran denken Sie?
Deutschland braucht jetzt nicht mehr Staat – sondern einen besseren Staat. Einen Staat, der ermöglicht, statt hemmt. Der priorisiert, statt perfektioniert. Der liefert, statt verspricht. Also, eine echte Staatsreform und die Bund-Länder-Finanzen neu zu ordnen, wird wichtig sein. Es muss das Prinzip gelten: Wer bestellt, der bezahlt. Also die sogenannte Veranlassungskonnexität. Seit Jahren ist es so, dass in Berlin Entscheidungen getroffen werden und sich niemand darum schert, was das für Kommunen und Länder bedeutet: beim Bürgergeld zum Beispiel oder den hohen Migrationskosten.
Was muss sich ändern?
Vieles, es muss fair sein. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass die Länder für ihre Ausfälle bei den Steuersenkungen zunächst kompensiert werden, später aber den Bund mit Rückzahlungen unterstützen, wenn das Wirtschaftswachstum ankommt. Wir müssen uns aber auch über Gewerbesteuerpunkte unterhalten. Im Osten haben wir nur wenige große Firmenzentralen. Die Gewerbesteuer, die im Osten erwirtschaftet wird, fließt dann aber zum Großteil in den Westen. Diese Einnahmen fehlen den Kommunen in meiner Heimat. Das ist nicht gerecht. Im Osten haben wir nach zwei Diktaturen einfach immer noch andere strukturelle Voraussetzungen.
Würden Sie den Satz unterschreiben: In den letzten Jahren hat der Bund zu viel entschieden, manchmal falsch oder schwierig, und die Länder und Kommunen mussten es ausbaden?
Ja, und das muss sich jetzt ändern. An dieser Stelle sei auf eine Wahrheit verwiesen, die in Berlin manchmal untergeht: ohne die Länder – keine Umsetzung. Ohne die Kommunen – keine Wirkung. Es sind unsere Rathäuser, Landratsämter und Bauhöfe, die am Ende die Investitionen sichtbar machen. Der Bund sollte mehr Vertrauen in die föderalen Partner haben und ihnen Handlungsspielräume lassen. Es braucht weniger Vorschriften, einfachere Verfahren und eine klare Priorität: Wirksamkeit vor Kontrolle. So bringt man mutig Deutschland voran.
- Gespräch mit Mario Voigt (CDU) in Berlin am 11. Juli 2025