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HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Ampelkoalition: Kanzler Scholz hatte Mühe, die Zügel in der Hand zu halten


"Sturm und Drang"-Phase
Vor lauter Tatendrang stolpert die Ampel durch den Alltag

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 24.01.2022Lesedauer: 4 Min.
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Ampel-Koalitionäre: Eine in weiten Teilen ungezügelte und planlose Lust.Vergrößern des Bildes
Ampel-Koalitionäre: Eine in weiten Teilen ungezügelte und planlose Lust. (Quelle: imago-images-bilder)

An Motivation und Geschwindigkeit fehlt es den neuen Koalitionären wahrlich nicht. Eine andere Frage ist, ob sie vor lauter Sturm und Drang auch tatsächlich messbare Ergebnisse erzielen.

Der Weimarer Klassik ging in der deutschen Literaturgeschichte der sogenannte "Sturm und Drang" voraus. Eine Phase leidenschaftlicher, ungestümer, aber auch teilweise noch liebenswert ungelenker, ungeschliffener Dichtung. Goethes liebeskranker "Werther" steht als Text und als Figur für diese Zeit, die man als eine Art Pubertät einer Dichtkunst betrachten kann, die Ende des 18. Jahrhunderts erwachsen wurde und bis heute Weltruhm genießt.

Nach den ersten knapp 100 Tagen und der ersten Kabinettsklausur im Kanzleramt am vergangenen Freitag lässt sich in aller Vorsicht und Vorläufigkeit sagen: Die deutsche Staatskunst befindet sich derzeit auch in der Phase des Sturm und Drang wie seinerzeit die Dichter und Denker. Schon die Koalitionsverhandlungen verströmten einen enormen Tatendrang der Beteiligten, eine Vorfreude aufs Regieren bei den bisherigen Oppositionsparteien FDP und Grünen und eine Lust auf die Kanzlerschaft der bisherigen Vize-Regierungspartei SPD.

Scholz hatte Mühe, die Zügel in der Hand zu halten

Es ist aber eine in weiten Teilen ungezügelte und planlose Lust. Denn während die Koalitionsverhandlungen von einem hohen Maß an Professionalität geprägt waren, stürmten die neuen Regenten danach einigermaßen unkoordiniert los und stolperten teilweise über die eigenen Beine und die Beine derer, die mit ihnen losrannten. Und oben auf dem Kutschbock saß Kanzler Olaf Scholz, der alle Mühe hat, die Zügel in der Hand zu behalten und aus der losrennenden Horde ein Gespann zu machen.

Christoph Schwennicke ist Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren als politischer Journalist, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung" und den "Spiegel". Zuletzt war er Chefredakteur und Verleger des Politmagazins "Cicero".

Innerhalb von 24 Stunden fuhren die Außenministerin und der Kanzler nach Brüssel und verwirrten die europäischen Partner mit diametralen Aussagen zu Russland und der Gaspipeline Nord Stream 2. Finanzminister Christian Lindner griff zu jenem Taschenspielertrick (60 Milliarden Euro nicht abgerufener Corona-Mittel kurzerhand umzuwidmen), den er aus der Opposition heraus noch (zu Recht) aufs Heftigste kritisiert hatte.

In der Frage einer allgemeinen Impfpflicht hat Kanzlerkutscher Scholz von vornherein die Zügel und sein Führungsversprechen beiseitegelegt und das Durcheinandergerenne in den Koalitionsfraktionen zum gewollten Pluralismus erklärt.

Es fehlt das richtige Maß beim Tempo

Klimaminister Robert Habeck schließlich wird der Geister kaum Herr, die seine Partei selbst gerufen hatte, als sie die grünaffine Kanzlerin zu einer ebenfalls ungestümen radikalen Energiewende weg von Kohle und Atom gleichzeitig getrieben hatten. Nun erlebt er am eigenen Leibe, welchen Unterschied es macht, aus der Opposition heraus Dinge zu fordern, die man selbst nicht umsetzen muss. Oder die Folgen dieser überschießenden Forderungen in konkrete Politik umsetzen zu müssen.

Geschwindigkeit, so stand zu lesen, war das zentrale Thema der Kabinettsklausur im Kanzleramt. Von außen betrachtet hat diese neue Ampelregierung in den ersten 100 Tagen kein Geschwindigkeitsproblem. Sondern eher eines mit dem rechten Maß, einem strukturierten Vorgehen und der Koordination. Eine Entdeckung der Langsamkeit wäre geboten.

Dauerproblem Migration

Jüngstes Beispiel: Die Ankündigung der neuen Innenministerin, in der Europäischen Union eine neue Koalition der Willigen bei Migration und Asyl zu etablieren. Naheliegenderweise, aber auch irrtümlicherweise, hat sie sich Frankreich als Nukleus dieser neuen Koalition ausgeguckt. Weil Frankreich immer wichtig ist, und weil das Land jetzt den EU-Vorsitz fürs nächste halbe Jahr übernommen hat.

Was Nancy Faeser in ihrem Sturm und Drang aber völlig übersieht, sind zwei Dinge: Der französische Präsident Emmanuel Macron ist nicht nur für die nächsten sechs Monate am Lenkrad der EU. Er steht auch in einem Wahlkampf, bei dem er es sich gar nicht erlauben kann, mit dem Beitritt zu Faesers Koalition den Kontrahenten von der Rechten Luft unter die Flügel zu geben. Außerdem, daran kann man sich bei etwas Nachdenken schon noch erinnern, ist Frankreich in dieser Frage zuletzt an die Seite von Ungarn und anderen eher migrationsskeptischen EU-Ländern getreten.

Zwar habe es in der Vergangenheit Differenzen in der Flüchtlingspolitik gegeben, sagte Macron erst vor Weihnachten bei einem Treffen mit Viktor Orbán. Die aktuelle Lage an der polnisch-belarussischen Grenze sei aber so geartet, "dass es uns dazu bringt, an eine Neuorganisation zu denken, um den Migrationszuflüssen vorzubeugen, unsere Grenzen besser zu schützen". Das hört sich gar nicht nach dem an, was sich Nancy Faeser vorstellt.

Faeser sollte Tatendrang im Stillen ausleben

Dazu kommt, dass sich die EU von Deutschland nicht mehr den Weg leuchten lässt. Das erlebt die neue Regierung in der Energiepolitik. Das wird Faeser auch hier erleben. Lehrreich wäre es, dafür noch einmal die beiden denkwürdigen Solo-Auftritte von Angela Merkel bei Anne Will zur Hochzeit der Flüchtlingskrise anzuschauen. In der ihr eigenen mecklenburgischen Nonchalance sagte sie dort nicht nur wörtlich, dass es "nicht in unserer Macht" liege, wie viele noch zu uns kämen. Sie beschied die Öffentlichkeit und die Nachbarn auch mit der Ankündigung, dass nunmehr und nurmehr die vor allem nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge auf andere Länder verteilt werden müssten.

Eine Ansage ohne jede Folge. Und ein aussichtsloses Unterfangen. Nicht einmal Luxemburg, dessen Außenminister in deutschen Medien regelmäßig und leidenschaftlich die deutsche Kanzlerin für ihr Vorgehen pries, hat in nennenswertem Umfang Migranten aus Deutschland übernommen. Die deutsche Regierung hatte einen Sturm entfacht und dann versucht, den Wind in Tüten zu verpacken.

Man kann so einen Fehler einmal machen. Man sollte ihn aber nicht wiederholen. Wenn es der neuen Innenministerin ernst ist mit ihrem tatsächlich wichtigen Anlauf zu einer gemeinsamen EU-Asylpolitik, dann sollte sie nicht den Besuch einer EU-Kommissarin in Berlin nutzen, um den Plan zu verkünden und den übrigen Ländern überzustülpen. Sondern ihren Tatendrang erst einmal im Stillen ausleben: also bei allen EU-Partnern ohne große Öffentlichkeit Spielräume ausloten. Dann ist immer noch nicht gesagt, dass es was wird. Aber so, wie Nancy Faeser es macht, wird es garantiert nichts.

Es ist auch keine Naturgesetzmäßigkeit, dass auf den Sturm und Drang eine Hochphase der Klassik folgt. Weder in der Literatur. Noch in der Politik. Der Wille zur Weiterentwicklung gehört dazu. Den kann man den Beteiligten nach den ersten Monaten jedoch zutrauen.

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