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Afghanistan: Wie Joe Biden den Abstieg des Westens beschleunigt


Afghanistan-Politik
Wie Joe Biden den Abstieg des Westens beschleunigt

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 26.08.2021Lesedauer: 6 Min.
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Joe Biden: Der US-Präsident steht wegen des Truppenabzugs aus Afghanistan stark in der Kritik.Vergrößern des Bildes
Joe Biden: Der US-Präsident steht wegen des Truppenabzugs aus Afghanistan stark in der Kritik. (Quelle: Leah Mills/reuters)

Der Abstieg des Westens schreitet voran. Nun begräbt Joe Biden die wertorientierte Außenpolitik: Er opfert Afghanistan auf dem Altar der Innenpolitik. Die Rechnung wird aber nicht aufgehen.

Schlechte Nachricht für die Gepeinigten, Gequälten und Unterdrückten dieser Welt und jene, die es vielleicht bald mal sein werden: Ihr müsst künftig allein, ohne Hilfe aus dem Ausland klarkommen mit Euren Problemen, Sorgen und Ängsten!

Gute Nachrichten für Terrorgruppen, Gewaltherrscher und Diktatoren in spe: Ihr habt in nächster Zeit weitgehend freie Hand und müsst weniger internationalen Widerstand befürchten!

Der Westen hat sich diese Woche aus der werteorientierten Außenpolitik, die auch Menschenrechte, Freiheit und Demokratie als Faktoren einbezieht, endgültig verabschiedet. Ihr Totengräber ist Joe Biden. Ausgerechnet er. Der Hoffnungsträger. Der Demokrat. Der Anti-Trump. Der Präsident und militärische Oberbefehlshaber der Vereinigten Staaten von Amerika.

Jede Hoffnung verloren

Der Weltmacht China ist bekanntlich eh alles egal, solange man mit dem Land Handel treiben will, sich aus dessen inneren Angelegenheiten (inklusive Hongkong und Taiwan) heraushält und in keinem anderen Staat separatistische Bestrebungen verfolgt. Russland unter Wladimir Putin ist auf die Bewahrung beziehungsweise Ausweitung seiner machtpolitischen Interessen in der Welt fokussiert. Dem sollte man nicht in die Quere kommen, dann hat man von dort ebenfalls nichts zu befürchten. Und nichts zu erwarten.

Wer angesichts dessen noch einen Funken Hoffnung in sich trug, Werte wie Frieden und Gerechtigkeit in der Politik hätten wenigstens für den Westen zumindest eine Restbedeutung, dem hat Joe Biden das letzte Glimmen beim G7-Gipfel gelöscht. Er eröffnete den Verbündeten, dass die USA den Abzugstermin ihrer Truppen aus Afghanistan nicht über den 31. August hinaus verlängern werden. Das Ende der maßgeblich von ihnen abgesicherten Evakuierungsflüge vom Flughafen in Kabul nach der Machtübernahme der Taliban wurde damit besiegelt. Ohne die Amerikaner geht bekanntlich gar nichts.

Biden verstärkt den Kardinalfehler

Der übereilte Komplettabzug der westlichen Truppen, den Ex-Präsident Donald Trump mit den Taliban ausgehandelt hatte, war der Kardinalfehler. Man hätte sukzessive abziehen müssen, um die Entwicklungen weiter beobachten und gegebenenfalls den Taliban die Grenzen aufzeigen zu können. Joe Biden hat diesen Kardinalfehler nicht nur nicht erkannt, er hat ihn verstärkt.

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Wer es bis nächsten Dienstag nicht aus Afghanistan raus schafft, wird der Willkür und der Grausamkeit der militanten Islamisten überlassen. Die Afghaninnen und Afghanen, die den USA in den vergangenen 20 Jahren tapfer zur Seite gestanden und dabei nicht selten die Sicherheit ihrer eigenen Familien gefährdet haben, sind Joe Biden keinen Pfifferling wert. Zum Dank dafür, dass sie für Rechtsstaatlichkeit und Good-Governance in Afghanistan eintraten, Frauen- und Minderheitenrechte unters Volk brachten, mithalfen, den Schutz amerikanischer Soldaten und Zivilisten im Land zu gewährleisten, werden sie nun von der Gangway in die Freiheit zurück in die Taliban-Hölle geschubst.

Eiskalte Realpolitik

In den USA zeigt sich die Unbarmherzigkeit und Eiseskälte der Realpolitik gerade von ihrer hässlichsten Seite. Für Joe Biden zählt der kurzfristige Profit. Die Menschen in Afghanistan opfert er auf dem Altar seiner Innenpolitik. Es ist bitter. Das menschenverachtende Kalkül des Weißen Hauses und der Demokratischen Partei besagt: Es ist ihnen wichtiger, eine gute Ausgangsposition für die im November nächsten Jahres anstehenden Midterms, die Zwischenwahlen, zu haben, als den Tod und das Leid irgendwelcher namenlosen Gestalten Tausende Kilometer entfernt am Rande von Mittelasien zu verhindern.

Die eindeutige Mehrheit der Amerikaner befürwortet schließlich den Rückzug aus Afghanistan. In einem Jahr, so vermuten die Strategen in Washington, denkt das chronisch gedächtnisschwache Wahlvolk nicht mehr an die zweiwöchige Misere dieser Tage in Afghanistan, und macht das Kreuzchen schön brav bei den Demokraten.

Bei Biden schmerzt es mehr

Solch ein Kalkül ist in der Politik nichts Neues. Auch andere Herrscher wie der türkische Präsident Recep Erdoğan nutzen immer wieder die Außenpolitik, um sich im Inneren zu stabilisieren. Doch bei Joe Biden schmerzt es eben ein Stück mehr als bei anderen. Hätte Donald Trump beim G7-Treffen so entschieden wie Joe Biden, niemand hätte etwas anderes erwartet.

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Joe Biden reiht sich neben seinem früheren Chef und Vorvorgänger Barack Obama ein. Damals war es der "Messias", der Syrien preisgegeben hat. Barack Obama verriet die Syrerinnen und Syrer, die an das vom Westen propagierte Versprechen von Wohlstand durch Demokratie und Freiheit geglaubt hatten. Er verweigerte ihnen im entscheidenden Moment die Unterstützung gegen eine brutale Diktatur und hielt somit Russland, dem Iran und letztlich der Terrormiliz IS sowie deren Geistesgeschwistern sogar noch die Pforte nach Syrien auf.

Auch damals wäre ein Engagement in Syrien bei den US-Amerikanerinnen und Amerikanern nicht gut angekommen. Barack Obamas einstiger Vize-Präsident Joe Biden erweist sich nun als guter Schüler.

Folgen als Frage der Zeit

Guter Schüler? Moment. Wie so oft in der Geschichte der offenkundig unbelehrbaren Politik wird den USA und dem Westen die Rechnung später präsentiert werden. Keine Entscheidung bleibt folgenlos – und Afghanistan hat das Zeug für sehr lang anhaltende Folgekosten.



Die Gepeinigten dieser Welt werden künftig noch mehr Anstrengungen unternehmen, um sich in den reichen Westen zu retten, statt sich allein um die Befreiung oder den Aufbau ihrer Heimat zu kümmern. Die Zahl der Geflüchteten vor den Toren Europas und der USA wird stärker zunehmen als die Erderwärmung. In den Raum, den die Geflüchteten freimachen, werden die skrupellosen Desperados dieser Welt hineindrängen und für neue Herausforderungen sorgen.

Wie ein geprügelter Hund

Die Wahrnehmung der aktuellen Ereignisse wird ebenfalls nicht folgenlos bleiben. Die USA stehen derzeit für nicht wenige wie ein geprügelter Hund da. Sie haben gegen die Taliban verloren. Ein zusammengewürfelter Haufen Dschihadisten hat die Weltmacht vor die Tür gesetzt. Die USA und mit ihnen der gesamte Westen fügt sich der Androhung von "Konsequenzen" durch die Taliban, sollte der vereinbarte Truppenabzug bis Ende August nicht erfolgen.

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Islamistinnen und Islamisten in aller Welt werden eine solche Erzählung begierig aufsaugen und wahre Heldengeschichten daraus spinnen, um neue Anhänger anzuwerben. Die Gefahr des islamistischen Terrors droht wieder zuzunehmen. Im Zuge dessen müssen einfache Musliminnen und Muslime dann weiter Vorurteile und Ausgrenzung fürchten.

Zerstörtes Vertrauen

Zudem wird der Rückzug aus der internationalen Verantwortung den längst begonnen Abstieg der demokratischen Wertegemeinschaft beschleunigen. George W. Bush und Donald Trump haben das internationale Vertrauen in die USA, das noch übrig gewesen ist, zerstört, Barack Obama und Joe Biden konnten es nicht wieder aufbauen. Was fortan bleibt, ist allein die Vorgabe Chinas vom Primat der Wirtschaft.

So müssen wir Bürgerinnen und Bürger uns die bittere Erkenntnis vergegenwärtigen: Was auch immer Schlimmes auf der Welt passiert, der Westen wird nichts daran ändern. Das wird solange gelten, bis die Politik eine mutige, aber erforderliche Kehrtwende vollzieht: Für gute Außenpolitik ist die Bereitschaft nötig, eigene – in der Regel wirtschaftliche – Nachteile in Kauf zu nehmen.

Lehren der Klima- und Corona-Krise

So weit ist die Bevölkerung aber noch nicht. Erst wenn sie erkennt, dass das Zeitalter der Kleinstaaterei vorbei ist, dass wir eine Welt sind und alles mit allem zusammenhängt, können daraus konkrete politische Handlungen folgen, die nicht ausschließlich interessengeleitet sind.

Vielleicht kann die Klima- und Corona-Krise die Bevölkerung eben das lehren. Das Virus wird nicht zu besiegen sein, wenn wir in Deutschland alle durchimpfen und sich die Mutationen in anderen Teilen der Welt, wo kaum Impfstoffe bereitstehen, frei entfalten können. Die Erderwärmung wird nicht zu stoppen sein, wenn es nicht gelingt, auf absehbare Zeit die anderen Staaten mit ins Boot zu holen.

Bedeutung der Außenpolitik begreifen

Deutsche Außenpolitik sollte also viel früher und viel grundsätzlicher ansetzen als bisher. Viel mehr Menschen müssen zunächst einmal begreifen, welche große Bedeutung Außenpolitik für ihren Alltag hat. Wie etwa Entscheidungen am Hindukusch ihr Leben konkret beeinflussen – ob auf dem Dorf oder in der Stadt. Diese Prozesse sollten ihnen am besten parteiübergreifend klar gemacht werden, bevor es in die detaillierte politische Auseinandersetzung geht.

Bis dahin wäre es hilfreich, wenn einige der Politikerinnen und Politiker im Westen ihre Arroganz ablegen, ihre zu Demokratie mahnenden Zeigefinger einfahren und sich "kluger" Ratschläge an andere Länder enthalten würden.

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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.

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