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Flüchtlingslager in Belarus: Mädchen wurde 2019 aus Deutschland abgeschoben


Appell im Video
Das tragische Schicksal der 13-jährigen Bahasht


Aktualisiert am 29.01.2022Lesedauer: 6 Min.
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"Es fühlt sich sehr traurig an": Die 13-jährige Bahasht zeigt im Video die schlimmen Zustände in ihrem belarussischen Lager – und findet deutliche Worte. (Quelle: t-online)

Seit Monaten leben Menschen im Niemandsland zwischen Belarus und der EU. Ein 13-jähriges Mädchen aus dem Irak wird hier zur Hoffnung der Flüchtlinge.

Bahasht ist eigentlich immer gute Laune. "Alle sagen, ich würde so viel lächeln", erzählt die 13-Jährige. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich, wenn man in Zelten, unter Kartons und Planen in einem ausgekühlten Hochregallager lebt und die Zukunft völlig ungewiss ist. Bahasht Koshnaw gehört zu der Gruppe Flüchtlinge, die im Wald von Belarus vor der EU-Außengrenze campierten.

Sie sind aus der Öffentlichkeit fast verschwunden. Bei frostigen Temperaturen und Schnee leben Bahasht und die anderen nicht mehr im Wald, sie sind in einen hohen Betonbau einige Hundert Meter von der Grenze gebracht worden.

Aber sie sind noch da, und das Mädchen will es zeigen. Sie hat t-online mit der Handy-Kamera durch die Unterkunft geführt: So leben die Flüchtlinge aus dem Wald jetzt: Im Freien steht ein Wassertank, an dem sich dicke Eisschichten gebildet haben, auch die Dixis stehen im Freien. Das Video sehen Sie hier oder oben im Text.

Sie spricht sehr gut Deutsch und Englisch

Etwa 900 Menschen sind hier untergekommen und hoffen, in die EU zu dürfen. Die meisten wollen nach Deutschland. Bahasht, die 13-Jährige mit dem offenen Lachen, arbeitet daran, kämpft dafür und lädt sich damit einiges auf ihre Schultern.

Was Bahasht von den meisten Menschen in dem Lager unterscheidet: Sie hat nicht nur keine Scheu, sie spricht auch sehr gut Deutsch und Englisch. Damit ist sie an manchen Tagen dutzendfach als Dolmetscherin gefragt, begleitet Menschen zum Arzt. Sie wird ständig angesprochen, "und ich muss den Menschen doch helfen".

Sie scheint das Sprachrohr zu sein zur Welt außerhalb der Betonwände und der Feuerstelle vor der Halle. Strom zum Aufladen des Handy-Akkus gewähren belarussische Beamte in der Halle als Gegenleistung fürs Putzen.

Das Handy der 13-Jährigen ist oft aufgeladen. Sie hat Hilferufe mitsamt Videos an Facebook-Seiten von Parteien geschickt. Der Administrator der "Pro SPD" nahm sie ernst und leitete es an Journalisten weiter. Und das Mädchen kann nun erzählen, wie es dazu gekommen ist, dass sie in Belarus darauf wartet, nach Deutschland zu dürfen. Und wenn es sein muss, wird sie sehr lange warten. "Wir können nicht zurück."

Sie spricht neben Deutsch so gut Englisch, weil sie es sich im Irak mit YouTube-Videos angeeignet hat, berichtet Bahasht. Ein wenig Unterricht hatte sie vorher schon an der Eppsteinschule in Hanau, einer Haupt- und Realschule. Doch dort hatte sie sich Ende 2019 unter Tränen verabschieden müssen.

"Sie war damals schon ein ganz starkes Mädchen"

Es ging nach rund drei Jahren für sie zurück in die Heimat ihrer Eltern, die nicht mehr ihre war: Erbil, Kurdengebiet im Irak. Svenja Ladwig, damals an Bahashts Schule Förderschullehrerin, denkt daran zurück: "Ich habe noch versucht, ob es Möglichkeiten gibt, das zu verhindern. Es ging aber auch alles so schnell."

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Von t-online hat Ladwig erfahren, wo Bahasht jetzt ist. "Man weiß, dass Geflüchtete oft in sehr schwierigen Umständen leben müssen. Es berührt einen aber noch einmal anders, wenn man dann jemanden kennt."

Wie Bahasht dort auftritt, ist keine Überraschung für die Lehrerin. "Sie war bei uns schon ein ganz starkes, cleveres Mädchen, dem ich sehr viel zugetraut habe." Selbstbewusst, nicht auf den Mund gefallen. "Da hat sie sich wirklich sehr schnell angepasst." Das Mädchen hatte auch so schnell Deutsch gelernt, dass es schon bald in die reguläre Klasse gewechselt war und dort zu einer der Besten wurde.

Aber Bahashts Familie ging und es gab dann kein Zurück mehr. Bahasht, ihre Eltern, ihr in Deutschland geborener Bruder und ihre beiden anderen Geschwister waren in Deutschland geduldet, "subsidiären Schutz" hatte die Familie. Ihn bekommen Menschen, die nicht als Asylbewerber anerkannt sind, denen jedoch im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Wenn sie aber länger ins Heimatland reisen, wird der Status in der Regel widerrufen. Der Staat nimmt an: So groß kann die Bedrohung nicht sein.

Linke fordert Evakuierung

Wenn es die Familie wieder nach Deutschland schaffen sollte, müsste sie einen Folgeantrag stellen, der dann inhaltlich geprüft wird. Das erklärt Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Mit anderen Politikerinnen ihrer Partei war sie gerade erst auf der anderen Seite der Grenze in Polen, um sich über die Situation zu informieren. Ein Telefonat mit Bahasht ist geplant.

Und Bahasht hat Fragen. Sie hat auch im Internet gelesen, dass die Linke in Sachsen-Anhalt eine Aufnahme der Menschen aus dem polnisch-belarussischen Grenzgebiet vorgeschlagen hat. Bahasht sucht Strohhalme, nach denen sie greifen kann.

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Bünger fordert eine Evakuierung der Menschen, die jetzt noch an der Grenze unter unmenschlichen Bedingungen ausharrten. "Die Schutzsuchenden im Logistikzentrum in Belarus sind überwiegend Menschen, die nicht in ihr Herkunftsland zurückgeführt werden können."

In ihr Herkunftsland, das nicht mehr ihr Heimatland war, musste Bahasht 2019 zurück. Sie wollte nicht. "Ich war auch wütend. Aber es ging auch nicht, dass mein Vater alleine zurückreist."

Seine Mutter, ihre Oma, lag im Sterben, er wollte unbedingt zu ihr – mit der Familie. Und das in dem Bewusstsein, dass es eine Reise ohne Rückkehr nach Deutschland sein könnte. Lehrerin Ladwig erinnert sich: "Es bricht einem das Herz, wenn man weiß, man entlässt ein Kind jetzt ins Ungewisse. Ich habe gewusst, es wird für sie sehr schwer werden."

Plötzlich Kopftuch statt bauchfrei

Bahasht schickte an die Klasse noch einige Zeit Nachrichten. Das Mädchen, das sich in Hanau mit Freundinnen geschminkt hatte und bauchfrei trug, schrieb davon, Kopftuch tragen zu müssen. "Kopftuch und lange schwarze Kleider", erzählt sie t-online. "Wenn Du nur 'bauchfrei' sagst, kannst Du Dir schon eine fangen."

Sie war in einer anderen Welt mit anderen Regeln angekommen. Dort gibt es noch Blutrache, ihr Vater musste deshalb den Tod fürchten, sagt sie. Im März 2020 ist zunächst ein Mitglied aus Bahashts Familie ermordet worden, sie hat t-online einen kurdischen TV-Beitrag dazu geschickt. Die beteiligten Familien hätten dann lange über eine finanzielle Wiedergutmachung verhandelt.

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Es gab keine Einigung, es gab eine blutige Fortsetzung. "Ein Onkel meines Vaters hat Rache geübt und drei Mitglieder der anderen Familie getötet. Schrecklich."

Wieder habe es Gespräche der Familienältesten gegeben, wie das beigelegt werden kann. Es habe sogar im Raum gestanden, dass sie verheiratet werden könnte, an einen alten Mann der anderen Familie. "Mein Opa würde das nicht mitmachen", sagt Bahasht. Weil es keine Einigung gibt, seien nun die Männer in ihrer Familie wieder in größter Gefahr. "Mein Vater wäre der nächste."

Versteckt wegen Blutrache

Ihr Vater habe sich dann mit ihnen an wechselnden Orten versteckt, sagt sie. Das sind Informationen, die t-online nicht überprüfen konnte. In einem neuen Verfahren in Deutschland würden sie eine wichtige Rolle spielen. Auf der ständigen Flucht seien auch alle alten Nummern verloren gegangen.

Als die Familie die Nachricht erreichte, dass Belarus Visa erteilt, sei es der Familie als Ausweg erschienen. "Wir hatten vorher auch überlegt, über die Türkei und das Mittelmeer zu fliehen." Ihr Vater habe das ausgeschlossen. "Er wollte doch nicht vor einem möglichen Tod fliehen und wir sterben dann im Meer."

Am 7. November landeten sie in Minsk, wollten Richtung polnische Grenze. Sie wurden aufgefordert, in einen Bus einzusteigen. Der Bus habe sie an der litauischen Grenze abgesetzt, berichtet Bahasht. "Wir sind dann neun Tage gelaufen, bis wir am Camp waren."

Mit ihrem Zelt, in dem es immer irgendwie nass ist, und vier Schlafsäcken für die sechs Personen, lebten sie für Wochen im Wald in der größten Ansammlung von Geflüchteten, unweit des polnischen Ortes Kuznica. Bilder der Menschen am europäischen Stacheldraht-Zaun sind von dort um die Welt gegangen.

Polen baut für 366 Millionen Euro einen Zaun

Bünger fordert, dass "Schutzsuchende auch an der EU-Außengrenze Zugang zu einem fairen Verfahren und einer menschlichen Unterbringung erhalten". Polen hat unterdessen in der vergangenen Woche mit dem Bau eines 5,50 Meter hohen Zauns an der Grenze begonnen, 366 Millionen Euro soll das 186 Kilometer lange Bauwerk kosten. Die EU wird noch besser abgeschottet. Der Druck der Menschen sei ja weiter da, heißt es von Polens Grenzschutz.

"Den Menschen muss schnell geholfen werden", sagt Linken-Politikerin Bünger. "Deutschland sollte hier mit anderen Mitgliedstaaten der EU handeln. Im Sinne der Menschen wäre es sogar besser, die Bundesregierung würde sofort eigenständig handeln, um dieses Elend schnell zu beenden."

Polens Grenzschutz berichtet, es seien zwar nicht mehr Hunderte Menschen, die Nacht für Nacht versuchten, die Grenze illegal zu überqueren. Dutzende Begegnungen gibt es aber weiterhin, so Major Katarzyna Zdanowicz, Sprecherin des polnischen Grenzschutzes. "Neuerdings werden die Menschen auch in sehr schwer zugängliches Gelände geführt und dort über die Grenze hinübergestoßen."

Von Erfahrungen mit Soldaten kann Bahasht auch berichten. In die Drahtrollen an der Grenze seien sie getrieben worden. Sie, ihre Schwester, ihr dreijähriger Bruder – alle bluteten sie, berichtet Bahasht. Nach Polen geschafft haben sie es nicht.

Und so warten sie im Hochregallager, Tag für Tag. Und Bahasht hat keine Perspektive, aber bewahrt sich ihr Lachen. "Wenn ich die ganze Zeit denke, dass es keine Zukunft gibt, nutzt das doch nichts. Ich muss Hoffnung haben."

Verwendete Quellen
  • Videotelefonate mit Bahasht
  • Telefonate mit früheren Lehrerinnen von Bahasht
  • Telefonat mit Clara Bünger
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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