Scholz' Russland-Diplomatie Warum sagt er es nicht einfach?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Olaf Scholz kommuniziert in der Ukraine-Krise deutlicher als noch vor Kurzem. Nur ein Begriff kommt ihm weiterhin nicht über die Lippen. Was steckt dahinter?
Es gibt einen Vorwurf, den man Olaf Scholz nicht mehr machen kann: Dass der Bundeskanzler untergetaucht sei, ausgerechnet in dieser schweren internationalen Krise. Scholz ist derzeit im diplomatischen Dauereinsatz. Er war in Washington, lud die Präsidenten Frankreichs, Polens und der baltischen Staaten nach Berlin ein, bevor er Anfang kommender Woche nach Kiew und Moskau reist.
Zugleich erklärt sich Olaf Scholz für seine Verhältnisse ungewöhnlich viel. Er gibt Interviews im ZDF, bei RTL und in der ARD, ein Gespräch mit der "Washington Post" und ein englischer Liveauftritt bei CNN kommen hinzu. Umso mehr fällt auf: Scholz redet viel, aber spricht eine zentrale Angelegenheit nicht an. Überall wird er nach Nord Stream 2 gefragt, der deutsch-russischen Pipeline, und ob sie noch in Betrieb gehen könne angesichts Moskaus Drohgebärden.
Und Scholz? Sagt zwar vieldeutig, dass alle Optionen auf dem Tisch lägen. Doch den Namen der Pipeline nimmt er nicht in den Mund. Niemals. Selbst dann nicht, wenn er im Weißen Haus neben dem US-Präsidenten steht und explizit danach gefragt wird. Ganz anders als Joe Biden. Es bleibt ihm überlassen, klarzustellen, dass Nord Stream 2 erledigt sei, sollte Russland in die Ukraine einmarschieren.
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Doch warum nur? Warum nennt Scholz die Pipeline nicht beim Namen? Es gibt mindestens vier mögliche Erklärungen, die in Berlin kursieren. Welche für den Kanzler ausschlaggebend ist, lässt sich nur schwer sagen, auch darüber schweigt er. Gut möglich, dass es wie so oft ist: eine Mischung aus allem.
1. Die Sache mit der "strategischen Ambiguität"
Im Umfeld des Bundeskanzlers fällt immer wieder der Ausdruck der "strategischen Ambiguität". Das soll heißen, dass man mit voller Absicht uneindeutig kommuniziere, was Russland im Falle einer Invasion droht. Auf gut Deutsch: Man will sich nicht in die Karten schauen lassen.
Das Problem dabei ist, dass diese Mehrdeutigkeit faktisch nicht mehr existiert. Spätestens nach Bidens klarer Ansage zum Nord-Stream-2-Aus, während Scholz wenige Meter neben ihm stand, ist klar: Gibt es Krieg, ist die Pipeline tot. Und wenn Scholz daraufhin sagt, dass es keine Sanktion geben werde, die man nicht gemeinsam umsetze, kann das nichts anderes heißen, als dass Deutschland an Bord ist.
Doch rhetorisch behält sich der Kanzler so eine weitere Eskalationsstufe offen, sollte sie denn nötig werden. Und generell hat Scholz kein Interesse an einer Verengung der Diskussion über Strafmaßnahmen auf die Pipeline.
2. Spiel auf Zeit
Ein Aus für Nord Stream 2 käme die Deutschen teuer zu stehen. Deutschland ist abhängig von russischem Erdgas als konkurrenzlos günstige Übergangslösung bei der Energiewende.
So ist es für die Bundesregierung verlockend, sich statt öffentlicher Drohungen so lange wie möglich hinter bürokratischen Prozessen zu verstecken. Nord Stream 2 braucht nämlich eine Zertifizierung von der Bundesnetzagentur, um an den Start gehen zu können. Derzeit pausiert das Verfahren, das am Ende noch von der EU-Kommission überprüft werden muss. Das kann und darf aus Scholz' Sicht gern noch lange dauern. Parallel dazu kann eine aufwendige Notfallversorgung mit Flüssiggas aus den USA oder Katar vorbereitet werden.
Im Kriegsfall wiederum wäre es ebenfalls die EU, die die Entscheidung für rechtlich saubere Sanktionen gegen Nord Stream 2 treffen könnte. Dann drohten aus Sicht der Bundesregierung auch keine Entschädigungszahlungen. In jedem Fall könnte also Europa die Sache regeln.
Und was, wenn die Krise um die Ukraine doch noch friedlich beigelegt werden kann? Dann könnte man die bürokratischen Prozesse wieder anschieben und die Pipeline womöglich doch noch in Betrieb nehmen, ohne zuvor öffentlich die Tür komplett zugeschlagen zu haben.
3. Das innenpolitische Problem
Nord Stream 2 ist für Olaf Scholz auch ein innenpolitisches Thema. Das fängt damit an, dass es für die Pipeline auch jetzt noch eine deutliche Mehrheit in der Bevölkerung gibt. 57 Prozent finden, Deutschland solle an dem Projekt festhalten, ermittelte der ARD-"Deutschlandtrend" Anfang der Woche. In Ostdeutschland sind es sogar 71 Prozent. Ein beachtlicher Wert.
Es ist kein großes Geheimnis, dass einige wichtige Befürworter der Pipeline in Scholz' SPD sitzen. Selbst wer die Wortmeldungen des früheren Kanzlers und heutigen Gaslobbyisten Gerhard Schröder ausblendet, kommt nicht an der Schweriner Ministerpräsidentin Manuela Schwesig vorbei. In Mecklenburg-Vorpommern kommt die Pipeline an. Handfeste wirtschaftliche Interessen spielen deshalb natürlich eine Rolle, ganz unabhängig von der Frage, ob bei den Geschäften immer alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
Unter anderem bei den Grünen gibt es deshalb einige, die glauben, Scholz wolle durch sein Schweigen auch den Konflikt in den eigenen Reihen kleinhalten.
4. Scholz bleibt Scholz
Olaf Scholz hat ein gesundes Selbstbewusstsein. Wenn er von etwas überzeugt ist, dann ist er nur schwer davon abzubringen. "OWD" – mit diesem Kürzel wurde in seiner Zeit als Hamburger Regierungschef seine Art des Bastas intern vermerkt: "Olaf will das".
Es gibt deshalb die Einschätzung in seinem Umfeld sowie in der SPD, die in diesem Charakterzug auch einen Grund für das Schweigen zu Nord Stream 2 sieht. Scholz lasse sich eben nicht gern treiben, heißt es, erst recht nicht von aufgeregten Medien. Es wäre ein bisschen Trotzigkeit, gepaart mit der Überzeugung, genau das Richtige zu tun.
Da hilft es auch, dass er auf diese Weise seine Beschreibung der Pipeline als "privatwirtschaftliches Projekt", über das "ganz unpolitisch" entschieden werde, nicht öffentlich korrigieren muss.
- Eigene Recherchen