t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikDeutschlandInnenpolitik

Die Tragik um Annalena Baerbock: Wie kommen die Grünen aus dem Wahlkampftal?


Grünen-Kanzlerkandidatin
Die Tragik der Annalena Baerbock


Aktualisiert am 08.07.2021Lesedauer: 5 Min.
Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Annalena Baerbock auf dem Grünen-Parteitag: Der Rückhalt in der eigenen Partei ist trotzdem groß.Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock auf dem Grünen-Parteitag: Der Rückhalt in der eigenen Partei ist trotz der Anfeindungen groß. (Quelle: imago-images-bilder)

Die Verunsicherung bei den Grünen ist groß. Selbst mit dem Szenario einer Auswechslung der Kanzlerkandidatin muss sich die Partei herumschlagen. Wie will sie bloß aus ihrem Wahlkampftal herauskommen?

Es gibt in Deutschland wohl niemanden, der so viele Wahlkampagnen entworfen und durchgestanden hat wie Frank Stauss. Und wie das so ist im Leben, waren Siege und Niederlagen dabei. Stauss weiß also ziemlich genau, was schieflaufen kann – und was sich dagegen tun lässt.

Der Politikberater blickt daher mit sehr großer Verwunderung auf das, was sich derzeit bei den Grünen abspielt: "Ich bin deshalb entsetzt, weil die Partei die Fehler wiederholt, die andere bereits mehrfach gemacht haben." Die offensichtliche Lernunfähigkeit sei das fast schon Tragische am Fall Annalena Baerbock.

Was Stauss konkret meint: Wer Kanzlerin werden will, strebt das wichtigste politische Amt in Deutschland an. "Da kommt man in eisige Höhen – weit oberhalb eines Ministerpräsidenten oder Bundesministers", sagt er. "Es werden Maßstäbe an einen angelegt, die objektiv ungerecht sind, aber das Argument hilft einem nicht."

Eine Kandidatin als Schwachstelle

Deshalb hätte in dem Augenblick, in dem klar gewesen sei, dass Baerbock kandidiere, alles auf den Tisch gemusst, was auf Wähler irritierend wirken könnte. "Es geht darum, einen Menschen richtig zu durchleuchten, die Biografie auf jeden noch so kleinen Fehler abzuklopfen." Das sei offenbar nicht in ausreichendem Maße geschehen.

Ist das ein Fehler der Wahlkampagne? Stauss zögert. Jeder der Fehler habe direkt mit Baerbock zu tun: Wie klar benenne ich Positionen im Lebenslauf? Wie deklariere ich Sonderzahlungen? Was kommt in mein Buch? Stauss' Folgerung: "Ich glaube nicht, dass das Team die Schwachstelle ist, sondern die Kandidatin, die zuvor ja als Perfektionistin galt." Vielleicht habe sie wirklich selbst geglaubt, tatsächlich alles bestens im Griff zu haben.

In der Tat sitzt der Schock bei den Grünen tief. Die Wahlkampagne, die mit viel Schwung und einem rasanten Aufstieg in den Umfragen startete, ist längst in der verregneten Realität des Sommers 2021 angekommen. Klar: Noch immer liegen die Grünen in den Umfragen bei etwa 20 Prozent – und damit deutlich über ihrem Ergebnis der letzten Bundestagswahl. Dass sie aber tatsächlich noch stärkste Kraft werden und Annalena Baerbock Kanzlerin wird, ist zumindest derzeit eher unwahrscheinlich. Dafür müsste fast schon ein Wunder geschehen.

Wann folgt der dritte Fehler?

Denn auf den ersten Fehler der nur mangelhaften Durchleuchtung der Spitzenkandidatin folgte der zweite, als Baerbocks Schwachstellen bekannt wurden. Die Grünen schalteten auf harte Attacke, sprachen sogar von Rufmord. "Eine goldene Regel der Krisenkommunikation lautet: Wenn du einen Fehler gemacht hast, gib ihn zu und sei ein wenig kleinlauter", sagt ein Branchenvertreter. "Weil die Vorwürfe ja nicht substanzlos waren, war die Reaktion der Grünen einfach viel zu schrill."

Erster Fehler. Zweiter Fehler. Und wann folgt der dritte?

Das weiß niemand. Entsprechend groß ist die Verunsicherung in der Partei. Zumal die Grünen von der Heftigkeit der Angriffe überrollt wurden. Was auch damit zu tun haben dürfte, dass lange Zeit eher wohlwollend über Annalena Baerbock und ihren Co-Vorsitzenden Robert Habeck berichtet wurde.

Viele in der Parteizentrale sind entsetzt über die Dynamik – auch in den Medien. "Die Springer-Presse ist doch nur noch irre", heißt es trotzig. Oder: "Bild-TV ist das deutsche Fox News." So weit, so erwartbar. Eigentlich. Was manch einer nicht begreift, ist, dass auch andere Medien das Thema am Laufen halten.

Reichlich Ärger über die eigene Unprofessionalität

Es ist das "friendly fire", unter anderem der linksalternativen "taz", das viele hilflos macht. Der Grünen-Abgeordnete Markus Kurth sagt: "Das ist wie so ein Herdentrieb, plötzlich bricht eine Hatz aus. Mich erinnert das schon stark an Christian Wulff, bei dem sogar ein Bobbycar für die Kinder plötzlich zum Korruptionsfall wurde. Jahre später wurde er vor Gericht natürlich freigesprochen."

Langsam, so der Eindruck bei Insidern, grassieren bei den Grünen allerdings nicht mehr nur Schock und Angststarre, sondern eher eine Mischung aus Selbstkritik und Hoffnung. Zwar wurden keine zusätzlichen Krisenstäbe eingerichtet. Doch in den Parteigremien wird die Misere aufgearbeitet.

Ärger über die eigene Unprofessionalität ist reichlich vorhanden. Wer bei den Grünen herumtelefoniert, notiert Sätze wie "Natürlich hätten wir uns besser vorbereiten müssen" oder "Annalena Baerbock läuft in das Messer, in das vor vier Jahren Martin Schulz gelaufen ist". Von einem Stresstest für die Partei ist ebenfalls die Rede.

Bei den anderen Parteien geht bereits die Sorge um, dass die Grünen doch noch in Panik geraten und Baerbock gegen Habeck auswechseln. "Dann wird es vielleicht noch mal eng für uns", sagt jemand aus der CDU-Spitze. Bei den Grünen selbst wird der Austausch des Kanzlerkandidaten aber eher als Harakiri betrachtet. Wahrscheinlich gäbe es einen kurzfristigen Entlastungseffekt. Aber dann, so die Befürchtung, würde Habeck wohl ähnlich kritisch angegangen wie jetzt Baerbock. Es drohe doch eine vergleichbare Kampagne, heißt es.

"Die Menschen merken, dass diese Kampagne überzogen ist"

Also erst einmal Augen zu und durch. Und: endlich aus Fehlern lernen. In der Parteizentrale ist inzwischen wohl den meisten bewusst, dass es unklug war, auf die Kritik an Baerbock mit so heftigen Vorwürfen wie dem des Rufmordes zu reagieren. Also lautet die Devise nun, leisere Töne anzuschlagen. "Wir müssen den medialen Schweinezyklus jetzt einfach überstehen", sagt ein Grüner. Es sei eben die "normale Kakofonie eines Wahlkampfs", die sich derzeit Bahn breche, so ein Bundestagsabgeordneter.

Die Hoffnung der Partei auf bessere Zeiten beruht vor allem auf zwei Dingen: Die jüngsten Berichte über Baerbocks Verfehlungen haben nicht zu einem weiteren Absturz in den Umfragen geführt. Die Lage scheint sich also zumindest zu stabilisieren. "Ich glaube, die Menschen merken, dass diese Kampagne extrem überzogen ist", sagt der Grünen-Abgeordnete Markus Tressel.

Hinzu kommt, dass die Grünen intern darauf setzen, dass es in der heißen Wahlkampfphase im September um andere Themen geht – vor allem um inhaltliche. Die Klimapolitik zum Beispiel. "Wir machen jetzt unserer Arbeit. Die ist politischer Inhalt – und nicht persönliche Schlammschlachten", sagt der Bundestagsabgeordnete Erhard Grundl.

Dann wäre es also gewissermaßen Glück, dass Baerbock jetzt massiv unter Druck steht. Zumal sie womöglich am Ende sogar gestärkt aus der aktuellen Krise hervorgehen könnte. Im September, ist man in der Partei zuversichtlich, seien Debatten über den Lebenslauf und das Buch der Kandidatin längst vergessen.

Politikberater Stauss ist da allerdings skeptischer. Das Grundproblem besteht seiner Meinung nach darin, dass "Baerbock nicht die biografische Qualifikation für's Kanzleramt" besitze. Nur deshalb sei so vieles ja überhaupt aufgeblasen worden.

Kaum Reibungspunkte mit der CDU?

Aber kann Baerbock nicht wenigstens darauf hoffen, dass Armin Laschet und Olaf Scholz ebenfalls noch unter Druck geraten? Oder dass die Wähler sich mit ihr solidarisieren? Auch hier ist Stauss skeptisch: "Ich kenne einige Wahlkampagnen, in denen die letzte Hoffnung darin bestand, dass die Leute Mitleid haben. Vielleicht haben sie es auch, aber sie wählen einen nicht aus Mitleid."

Loading...
Loading...
Loading...

Und gewiss, auch bei Laschet und Scholz könne es noch Überraschungen geben. "Aber sie sind seit Jahrzehnten in der Politik und wurden entsprechend längst durchleuchtet. Die Wahrscheinlichkeit ist einfach geringer."

Trotzdem sei es richtig, dass Annalena Baerbock jetzt erst einmal aus dem Spiel genommen worden sei. Offiziell ist die Kanzlerkandidatin im Urlaub. "Solange die Situation überhitzt ist, kann sie nichts gewinnen", sagt Stauss. Die einzige Chance bestehe jetzt darin, sich zu sammeln und nach den Sommerferien noch einmal durchzustarten.

Klingt durchaus plausibel. Aber an diesem Szenario zweifeln sogar grüne Abgeordnete. Das Problem aus ihrer Sicht: Die Union bietet einfach keine Angriffsfläche. Man würde ja schon sehr gern mit CDU und CSU über Sachthemen streiten, heißt es. Nur: Deren Ideen für die Zukunft seien dermaßen unkonkret, dass man sich kaum reiben könne.

Wenn den Grünen die Wahlkampfwende nicht mehr gelingen sollte, könnte nach Meinung von Stauss tatsächlich noch ein anderes Wunder geschehen: "Stand heute würde ich nicht ausschließen, dass am Ende Olaf Scholz Kanzler einer Ampelkoalition ist."

Annalena Baerbock wäre dann wahrscheinlich Vizekanzlerin. Und rückblickend würde sie wohl denken: immerhin.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website