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Angela Merkel: Eine große Sorge | Neue Corona-Regeln | Viele rote Zahlen


Was heute wichtig ist
Ein Verhalten wie bei quengelnden Kindern

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 29.09.2020Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Angela Merkel entscheidet heute mit den Ministerpräsidenten über neue Corona-Regeln.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel entscheidet heute mit den Ministerpräsidenten über neue Corona-Regeln. (Quelle: Michael Kappeler/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Krisen verlangen entschlossene Führung. Aber die beste Führung verpufft, wenn zu viele Leute nicht geführt werden wollen. In einem demokratischen Rechtsstaat wie unserem darf jeder selbst entscheiden, ob er den Ideen der Regierung folgt oder selbst bessere hat. Im Rahmen der Gesetze und Vorschriften ist jeder seines Glückes Schmied. So weit, so gut. Heikel wird es, wenn zu viele Leute ihr eigenes Glück über das der anderen stellen. Egoismus ist ohnehin eine Zumutung, aber in Krisenzeiten kann er zur Gefahr ausarten. Das ist die Sorge, die Deutschlands Staatsspitzen in diesen Tagen umtreibt.

Über viele Themen kann man als Journalist in diesen Tagen mit Politikern sprechen: die Flüchtlinge, die Russen, die EU-Reform, den Donald und einiges mehr. Aber bei keinem Thema stößt man auf so große Sorge wie bei Fragen zur aktuellen Corona-Lage. Plötzlich verschwinden die Politikerfloskeln aus den Sätzen, hebt sich die Tonlage der Stimmen, schießen Emotionen in die Gesichter. Wenn Journalisten und Politiker sich unterhalten, dann vereinbaren sie meistens vorher, ob und wie aus dem Gespräch zitiert werden darf. In diesen Tagen finden im Berliner Regierungsviertel wieder viele Treffen "unter drei" statt, was bedeutet, dass man als Reporter das Gehörte zwar als Hintergrundinformation verwenden, aber nicht daraus zitieren darf. Was man seinen Leserinnen und Lesern allerdings mitteilen kann, das ist der Eindruck, den man nach mehreren Gesprächen im politischen Berlin gewinnt. Er lässt sich in zwei Worte fassen: große Sorge.

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Die Zahl der Corona-Fälle steigt nicht nur in Spanien, Frankreich und anderen europäischen Ländern, sondern auch hierzulande. An manchen Tagen sind es schon mehr als 2.000 Neuinfektionen, wobei gegenwärtig viele junge Menschen betroffen sind und die Sterberate noch niedrig ist, wie meine Kollegen Hanna Klein und Arno Wölk zeigen. Doch im Regierungsviertel wächst die Sorge, dass das nicht mehr lange so bleibt. Weil zu viele Leute das Risiko auf die leichte Schulter nehmen oder weil es ihnen schnuppe ist. Weil Hygieneregeln missachtet oder gar verachtet werden. Der Leichtsinn und der Egoismus vieler Bürger lassen die Alarmglocken schrillen. Das sei ein Verhalten wie bei quengelnden Kindern, ist zu hören: Bitte, bitte, lasst noch ein paar tausend Zuschauer mehr in die Fußballstadien! Bitte, bitte, lasst mich noch 20 Leute mehr zur Hochzeit einladen! Bitte, bitte, macht die Diskos wieder auf, ich will tanzen! Und diese nervige Maske will ich auch endlich loswerden! Auch mancher Publizist ist vom Argumentieren ins Quengeln übergegangen.

Die Ungeduld sei unverantwortlich, ist im Regierungsviertel zu vernehmen. Zu viele Leute würden in Kauf nehmen, dass sich die Betten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser füllen könnten. Dann stünde ein erneuter Lockdown zur Debatte, der einer Katastrophe für unser Land gleichkäme: wirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich. Die Demonstrationen aus den Sommertagen könnten dann nur die Vorboten eines Proteststurms gewesen sein. Diese Pandemie sei ein fürchterliches Unglück für die ganze Welt, ist zu hören, sie könne Auswirkungen wie ein Krieg haben: indem sie die Kräfteverhältnisse in der Welt verschiebt und die Einstellungen der Menschen verändert.

All das sollte man wissen, um die brisante Ausgangslage zu verstehen, in der sich Kanzlerin Angela Merkel heute mit den Ministerpräsidenten über eine Verschärfung der Corona-Regeln berät. Warum die Bundesregierung ein Alkoholverbot ebenso ins Spiel bringt wie ein Bußgeld für Leute, die in Gaststätten falsche Kontaktangaben hinterlassen. Warum bald sämtliche privaten Feiern auf 25 Personen begrenzt werden könnten. Jede neue Regel ist hart und wird zusätzlichen Unmut schüren. Aber im Rennen gegen die Zeit helfe nur Umsicht und Entschlossenheit, heißt es in Berlin. Andernfalls könne die tägliche Zahl der Neuinfektionen an Weihnachten bei mehr als 19.000 liegen, warnt Frau Merkel.

Die Kanzlerin muss nicht nur gegen Kritiker, sondern auch gegen ihre eigenen Leute anreden. In Ostdeutschland ist die Corona-Lage bislang unauffällig, weshalb Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff im Gespräch mit unserem Reporter Tim Kummert fragt: "Wir haben das zweitniedrigste Infektionsgeschehen in Deutschland. Und da soll ich allen Ernstes den Hammer hervorholen?" In Großstädten wie Berlin, München und Köln schnellen die Fallzahlen allerdings so rasant in die Höhe, dass bald keine mehr Zeit bleibt, den Hammer hervorzuholen. Vielerorts klappt noch nicht einmal die Kontaktverfolgung, noch immer fehlt es an Personal. Auch die Masken- und Hygieneregeln in Kneipen, Bahnen und bei privaten Feiern werden vielerorts ignoriert.

All das sollte sich schnell ändern, damit der Egoismus nicht zur Gefahr ausartet. Im Zweifel auch mit schärferen Regeln. Dahin darf man sich ruhig mal führen lassen.


Mit manchen Krisenherden können wir alt werden. Mit dem Nahostkonflikt zum Beispiel oder der Kaschmir-Krise. Auch das Stichwort Bergkarabach hatte schon Jahrzehnte Zeit, sich in unseren Köpfen in der Kategorie "Hab ich schon mal irgendwo gehört" zu verewigen. Seit mehr als dreißig Jahren schlagen Armenien und Aserbeidschan um dieses Fleckens Erde willen aufeinander ein. Man kann von Glück sagen, wenn es bloß gelegentliche Scharmützel entlang der Grenze sind. Jetzt eskaliert die Lage, die Kontrahenten stehen an der Schwelle zum Krieg. Aber wie kann es sein, dass ein Konflikt wie dieser über Jahrzehnte schwärt, ohne dass sich eine Lösung findet? Was spielt noch eine Rolle außer den Einflüssen Russlands und der Türkei, die meine Kollegen David Ruch und Patrick Diekmann hier erklären? Warum begleitet uns ein Krisenherd das ganze Leben lang?

Es liegt jedenfalls nicht daran, dass die Grundsituation so schwer zu entwirren wäre. Bergkarabach gehört zum Territorium von Aserbeidschan. Das hat die Sowjetmacht einst so entschieden, sehr zum Verdruss der meisten Bewohner des Gebiets, die sich als christliche Armenier in einem Land muslimischer Aserbeidschaner benachteiligt fühlten. Als es mit der UdSSR zu Ende ging, mündete das Tauziehen in einen offenen Krieg. Kampfhandlungen und ethnische Säuberungen kosteten Zehntausende das Leben und bis zu eine Million Menschen ihre Heimat. Am Ende blieb Bergkarabach in der Hand der Armenier und die Niederlage ein Stachel im aserbeidschanischen Stolz. Die einen sagen: Der Boden ist Teil unseres Landes. Die anderen sagen: Die Menschen auf diesem Boden sind es nicht. Gewiss, eine Lösung dafür findet man nicht über Nacht. Aber auch nicht nach Jahrzehnten?

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Hass ist das niederste der Gefühle, aber es hat seinen Nutzen: Der gemeinsame Feind eint – und er lenkt ab. Eine korrupte Elite hat Armenien über Jahrzehnte ausgenommen und heruntergewirtschaftet. Wie ein Raumschiff, das auf einem harten Acker gelandet ist, steht das schicke Zentrum der Hauptstadt Jerewan in einem Umland aus verrostenden Fabriken und ärmlichen Dörfern. Genug sozialer Sprengstoff also – da kommt es der herrschenden Clique gelegen, wenn der Dauerstreit mit dem Nachbarland das Volk hinter der Fahne vereint. Dass Bergkarabach armenisch zu sein hat, ist tief in die nationale Identität gesickert. Der Ministerpräsident, der das Land von der Korruption befreien will, muss Unnachgiebigkeit demonstrieren, damit ihm der Mangel an patriotischem Stallgeruch nicht zum Verhängnis wird.

Auch in Aserbeidschan profitiert der Chef. Der Despot auf dem Präsidentensessel macht zwar mit politischen Gegnern kurzen Prozess und führt sein Land wie einen Familienbesitz, bei dem man sich frei aus der Kasse bedienen darf. Ein Netzwerk von Investigativ-Journalisten hat Ilham Alijew deshalb schon 2012 zum "Mann des Jahres bei organisierter Kriminalität und Korruption" gekürt. In Deutschland soll er zwei Unionspolitiker gekauft haben, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Aber selbst der selbstherrliche Herr Alijew muss sich mit unzufriedenen Untertanen herumärgern. Also gibt er ihnen ein Ventil für ihren Zorn – und prompt gibt es Krieg um Karabach.

Merke: Wenn das Volk sich patriotisch erregt, nützt es den Maden im Speck.


WAS STEHT AN?

Brexit, die fünfundzwanzigste Umdrehung: Brüssel und London sprechen erneut über einen künftigen Wirtschaftsvertrag. Trotzdem will Boris Johnsons Regierung heute Abend Teile des längst ausgehandelten Austrittsabkommens aushebeln. Am Nachmittag debattiert das Unterhaus, am Abend stimmt es ab. Wie sagte Obelix? Die spinnen, die Briten.

Finanzminister Olaf Scholz (SPD) stellt am Vormittag den Bundeshaushalt für 2021 im Bundestag vor, anschließend debattiert das Parlament über all die roten Zahlen.

Wenn heute keine Bahn und kein Bus kommt, brauchen Sie sich nicht zu wundern: Verdi ruft die Beschäftigten im Öffentlichen Personennahverkehr in ganz Deutschland zum Warnstreik auf. Die Gewerkschaft fordert einen bundesweiten Tarifvertrag.

Das „Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft“ hat fünf Jahre lang die Pestizidbelastung der Luft in Deutschland gemessen. Heute stellt es die Ergebnisse vor.


WAS LESEN?

Für die meisten Menschen sind die Nachrichten aus Bergkarabach nur eine weitere Meldung in einem weit entfernten Konflikt. Für meine Kollegin Anna Aridzanjan bedeuten sie Stunden voller Angst.


Die Corona-Fälle in Deutschland werden mehr, trotzdem meint der Virologe Hendrik Streeck: "Wir sind nicht an einem Punkt, an dem wir Befürchtungen haben müssten." Im Interview mit meinen Kolleginnen Nicole Sagener und Melanie Weiner erläutert er, warum er Verbote skeptisch sieht.


Die Zeit für den Klimaschutz wird knapp: Nur noch sieben Jahre bleiben, um das Zwei-Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen zu erreichen. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und die Klimaökonomin Claudia Kemfert glauben, dass sich die Zukunft des Klimas nicht in Deutschland, sondern in Afrika entscheidet. Meinen Kollegen Claudia Zehrfeld und Tim Kummert haben sie erklärt, warum.


Merz, Laschet oder Röttgen? Im CDU-Machtkampf hat sich Noch-Parteichefin Kramp-Karrenbauer mit den drei Kandidaten auf die Abstimmungsregeln geeinigt. Doch in der Corona-Pandemie drohen die Bewerbungen zur Farce zu werden, meint unser Kolumnist Gerhard Spörl.


WAS AMÜSIERT MICH?

90 Gebiete in Deutschland kommen als Atommüllendlager infrage. So mancher hat nun seine ganz eigenen Sorgen.

Ich wünsche Ihnen einen sorgenfreien Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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