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Debatte im Bundestag – Merkels Ausbruch: Wo ist die Teflon-Kanzlerin?


Was heute wichtig ist
So hat man die Kanzlerin noch nie gesehen

MeinungVon Anna Aridzanjan

Aktualisiert am 10.12.2020Lesedauer: 6 Min.
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So emotional hat man sie noch nie gesehen: Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnt, fleht und bittet während der Generaldebatte zum Bundeshaushalt um mehr und strengere Corona-Maßnahmen.Vergrößern des Bildes
So emotional hat man sie noch nie gesehen: Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnt, fleht und bittet während der Generaldebatte zum Bundeshaushalt um mehr und strengere Corona-Maßnahmen. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

mein Name ist Anna Aridzanjan, und heute ist für mich eine Premiere: Ich darf zum ersten Mal stellvertretend für Florian Harms für Sie die Themen des Tages kommentieren. Nehmen Sie ruhig noch einen Schluck Kaffee und strecken Sie sich einmal kurz. Zwickt Ihr Rücken in diesen Zeiten auch so? Meiner jedenfalls. Und nun bitte einmal tief durchatmen. Bereit? Dann geht es jetzt los:

WAS WAR?

Eieiei, da war aber was los gestern im Bundestag: Bei der Generaldebatte zum Bundeshaushalt ging es heiß her, und die Opposition rechnete knallhart mit der Bundeskanzlerin ab. FDP-Bundesvorsitzender Christian Lindner etwa geißelte einzelne Corona-Maßnahmen als "rein symbolische Einschränkungen, die erstens unwirksam sind, zweitens unverhältnismäßig in die Freiheit der Menschen eingreifen und die drittens dem Publikum nur ein planvolles Vorgehen simulieren sollen." Nun gut, solche Kritik ist ja der Job der Opposition. Und einen Mini-Unfall gab es auch noch: Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner legte einen filmreifen, fiesen Treppensturz hin, rappelte sich aber recht schnell wieder auf.

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Doch ein Moment aus dieser Debatte wird wohl noch sehr lange in Erinnerung bleiben: Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde in ihrem Redebeitrag so emotional wie nie. Das war außergewöhnlich, selbst erfahrene Parlamentsreporter registrierten, dass sich Merkels Stimme überschlug. So hatten wir die Kanzlerin eigentlich noch nie erlebt.

Sie appellierte an Deutschland und auch an die Länderchefs, denn in Sachen Corona-Zahlen sieht es schlimm aus: "Es tut mir leid, es tut mir wirklich im Herzen leid, aber wenn wir jetzt den Preis zahlen, dass wir Todeszahlen von 590 Menschen am Tag haben, dann ist das nicht akzeptabel", rief sie mit bebender Stimme.

Die Kanzlerin forderte weitere Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie noch vor Weihnachten, etwa die Vorverlegung der Weihnachtsferien um weitere drei Tage auf den 16. Dezember. Sie zeichnete ein düsteres Bild: "Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und es anschließend das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben. Das sollten wir nicht tun!" Merkels ganze Rede sehen Sie hier im Video.

Vernünftige Menschen werden ihr sicher zustimmen: 590 Tote am Tag! Das sind mehr als 24 Tote pro Stunde. Genau, alle zweieinhalb Minuten stirbt ein Mensch am Coronavirus. Hier. In Deutschland. Unvernünftigen Menschen, etwa Vertretern der AfD, bleibt da nicht viel anderes, als bei so einer Rede dazwischenzuquaken: So störte Alice Weidel mit ihrem Zwischenruf, die Wirksamkeit von Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen sei "nicht erwiesen".

Und plötzlich wurde die ungewohnt emotionale Kanzlerin wieder ganz die Alte: Die kühle und rationale Wissenschaftlerin kam erneut zum Vorschein. Statt der flehenden, fast schon verletzlichen Frau antwortete die Teflon-Kanzlerin: "Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Ich habe mich in der DDR fürs Physikstudium entschieden. Weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann – aber die Schwerkraft nicht, die Wissenschaft nicht und andere Fakten auch nicht." Rumms, das hat gesessen. Oder?

Im Grunde ja..., aber: Bei allem Applaus für die Kanzlerin dürfen wir Augen und Ohren nicht vor jener Kritik verschließen, die nicht bloß um des Meckerns Willen geäußert wird, sondern Hand und Fuß hat. Angela Merkel ist ja nicht einfach nur eine verzweifelte Wissenschaftlerin, die wie viele andere seit Monaten an die Menschen und die Politik appelliert.

Merkel IST die Politik. Sie ist die Bundeskanzlerin dieses Landes. Wer, wenn nicht sie, hat die Macht, politisch zu handeln? Und nicht nur das: In den meisten Bundesländern regiert zudem ihre Partei. Die Ausrede des Föderalismus zählt also nicht. Die Kanzlerin hätte sehr wohl in den letzten Wochen die Chance gehabt, auf den Tisch zu hauen. Gerade wenn sie selbst angesichts des föderalen Flickenteppichs an Corona-Beschränkungen und -Lockerungen die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.

Eine weitere berechtigte Kritik: Merkel nannte in ihrer Rede den Präsenzunterricht in Schulen sowie Glühweinstände als Beispiele für unnötige Kontakte, bei denen sich Menschen jetzt noch vor Weihnachten anstecken können. Was aber fast kein Verantwortlicher in Politik und Wirtschaft anspricht, das sind die Arbeitsplätze. Wo sonst verbringen Tag für Tag Menschen in kleinen bis großen Gruppen auf meist engstem, geschlossenem Raum acht Stunden miteinander, und das oft ohne ausreichenden Schutz?

Arbeitgeber werden durch die Corona-Beschränkungen zu wenig in die Pflicht genommen. Ja, wo es möglich ist, wird zu Homeoffice oder anderen distanzierten Lösungen geraten (wobei Deutschland auch hier aufgrund halbherziger Digitalisierung eines der Schlusslichter in Europa ist). Ja, die Gesundheitsämter machen Vorschriften zu den Hygieneregeln. Aber was ist mit den Branchen, in denen Homeoffice schlicht nicht funktioniert? Nehmen wir nur mal die produzierenden Gewerbe: Diese Recherche zeigt, dass in der Fleischindustrie die Ansteckungsrate bis zu achtmal höher ist als in der Gesamtbevölkerung.

Was wäre die Konsequenz? Alle Industriezweige der Republik lahmzulegen? Nein, aber strengere, von der Politik auferlegte Kontrollen (so wie zur Zeit auch private Corona-Partys aufgelöst werden) wären ein Anfang. Vielleicht muss die Kanzlerin ja auch bei diesem Thema endlich mal laut werden.


WAS STEHT AN?

In Stockholm muss sich eine altehrwürdige Zeremonie ganz neu erfinden: Wie in jedem Jahr findet zwar auch heute die Würdigung der Nobelpreisträger für Literatur, Medizin, Physik, Chemie und Wirtschaftswissenschaften statt. Aber anstelle des Rathauses in der schwedischen Hauptstadt wird in diesem Jahr Corona-bedingt das Internet zum Schauplatz der Preisverleihung: mit einer Online-Zeremonie. Ein paar technische Pannen würden die angestaubte Veranstaltung sicher auflockern.

Mit einer Militärparade in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku feiert die Autokratie sich selbst und den Sieg über Armenien im Angriffskrieg um die Region Bergkarabach. Der türkische Präsident Erdoğan, der den Krieg gegen Armenien mithilfe von Waffen, syrischen Söldnern und türkischen Soldaten unterstützt hatte, ist als Ehrengast eingeladen. Das Abkommen über den Waffenstillstand hatte Kremlchef Wladimir Putin vermittelt. Seit diesem Abkommen vor einem Monat kommen fast täglich Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen (zum Großteil begangen von aserbaidschanischen Soldaten) ans Licht. Bis heute sind diese Verbrechen ohne Konsequenzen geblieben. Auf der Siegesparty in Baku werden sie garantiert auch kein Thema sein. Stattdessen wird bei Probemärschen für die Parade bereits die Parole geübt: "Wer sind die Armenier? Wir werden sie zerstören!"

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In Berlin beginnt die Innenministerkonferenz. Es wird unter anderem um den Abschiebestopp nach Syrien gehen, den Umgang mit extremistischen Trends in der Querdenker-Bewegung und Extremismus in der Polizei. Für Letzteres hatte Horst Seehofer nach viel Kritik vollmundig eine eigene "Rassismusstudie" angekündigt. In der kommt das Thema Rassismus aber nicht vor, na so was.


WAS LESEN?

Die Gruppenphase der Champions League ist vorbei – und mit Bayern München, Borussia Dortmund, Rasenballsport Leipzig und Borussia Mönchengladbach haben sich alle vier deutschen Mannschaften für das Achtelfinale qualifiziert. Was aber vor allem hängen geblieben ist: der historische Spielabbruch von Paris, als nach einer rassistischen Bemerkung des vierten Offiziellen sowohl die PSG-Spieler als auch die Akteure von Istanbul Başakşehir den Platz verließen. Dennoch war der Spielabbruch keinesfalls ein Skandal – sondern genau das richtige Zeichen, kommentiert mein Kollege Noah Platschko.


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Apropos "selbst ein Bild machen": In der Corona-Pandemie werden auch wir Journalistinnen manchmal vor unerwartete Herausforderungen gestellt. Meine Kollegin Viola Koegst hat sich aufgemacht, um eine Reportage über die Eröffnung eines Schnelltestzentrums im berüchtigten Berliner Fetisch-Club KitKat zu schreiben. Dort wurde sie überraschend positiv getestet – lesen Sie unbedingt die Geschichte dieser verrückten Test-Odyssee durch Berlin!


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WAS AMÜSIERT MICH?

Das Corona-Weihnachten stellt uns alle vor ganz neue Herausforderungen. Besonders diejenigen unter uns, die nicht so geschickt im Verschenken sind:

Ich wünsche Ihnen einen möglichst ruhigen Tag und bitte bleiben Sie gesund. Morgen schreibt an dieser Stelle wieder Florian Harms für Sie.

Herzliche Grüße,

Ihre

Anna Aridzanjan
Senior Redakteurin Audience Development

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Mit Material von dpa.

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