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Corona-Lage: Es kommt noch dicker


Tagesanbruch
Es kommt noch dicker

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.11.2021Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Ein polnischer Soldat patrouilliert an der Grenze zu Belarus.Vergrößern des Bildes
Ein polnischer Soldat patrouilliert an der Grenze zu Belarus. (Quelle: Irek Dorozanski/DWOT/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Gedacht hatten sich die Ampelkoalitionäre ihren Start ganz anders. Seit Wochen disputieren 300 Politiker in 22 Kleingruppen darüber, wie sie Deutschland in eine glorreiche Zukunft führen wollen. Ganz viel Klimaschutz, ganz viel Digitalisierung, ganz viel soziale Sicherheit, ganz viel besser machen als bisher. Hier und da flammt mal ein Kämpfchen zwischen den Verhandlern auf, vor allem die Grünen fürchten, von der wieder erstarkten SPD und der selbstbewussten FDP untergebuttert zu werden – doch die Vorfreude auf die Macht ist in allen drei Parteien so groß, dass niemand das ersehnte Bündnis ernsthaft gefährden möchte.

Bis gestern Abend sollten alle Arbeitsgruppen ihre Elaborate abliefern, nun sind die Parteispitzen dran, die offenen Streitpunkte auszuräumen und aus dem Sammelsurium einen Vertrag zu schmieden. Wenig ist aus den Beratungen nach draußen gedrungen, der Verschwiegenheitskodex hält, abends trinkt man Bier. Das rot-grün-gelbe Wunschschloss nimmt Gestalt an, und es soll richtig teuer werden: So viele Extramilliarden wollen die künftigen Regierenden ausgeben, dass sich die Rechenschieber vom Bundesrechnungshof bereits öffentlich geräuspert haben, was auch nicht alle Tage vorkommt. Die Koalitionäre störte es nicht, sie wähnten sich im Aufwind – bis jetzt.

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Doch plötzlich schlägt die harte Realität zu: Binnen Tagen hat sich die Lage an der Corona-Front dramatisch verschärft, und im Berliner Regierungsviertel stellt man verwundert fest, dass die Warnungen der Epidemiologen offenbar doch kein Kokolores waren. In Bayern und in Teilen Ostdeutschlands könnte es schon in wenigen Tagen keine freien Intensivbetten mehr geben, das "Boostern" mit der dritten Impfung geht viel zu langsam, und allmählich dämmert auch den größten Optimisten im Regierungsviertel, dass wir um einen weiteren Lockdown kaum noch herumkommen werden. Bayerns Corona-Frontkämpfer Markus Söder hat bereits den Katastrophenfall ausgerufen und warnt: "Das, was in einigen Bundesländern stattfindet, ist nur der Vorläufer für das ganze Land." Corona-Cheferklärer Christian Drosten raunt: "Wir haben jetzt im Moment eine echte Notfallsituation. Wir müssen jetzt sofort etwas machen."

Sofort etwas machen also. Dabei hatte die FDP doch gerade erst das Auslaufen der pandemischen Notlage durchgesetzt und in der SPD und den Grünen bereitwillige Helfer gefunden. Die Freiheit könne endlich wieder über die Sicherheit triumphieren, dachten sie. Ein Nachfolgegesetz werde sich schon irgendwie ergeben, dachten sie. Wird schon gut gehen, dachten sie. Falsch gedacht. Nun sind sie aufgewacht und schrauben hektisch an einem neuen Gesetz herum, von dem man jetzt schon ahnt, dass es nicht ausreichen wird. Im Kanzleramt sieht man das Herumlavieren der Ampelleute mit Sorge, drängt auf eine Ministerpräsidentenkonferenz und fragt sich, warum sich SPD, Grüne und FDP immer noch gegen einheitliche Corona-Regeln für ganz Deutschland sträuben. Man kann dieser Tage in Berlin dabei zusehen, wie Spitzenpolitiker in der Realität erwachen. Für die drei Koalitionspartner kommt das nach ihrem Harmoniebad einer eiskalten Dusche gleich.

Und es kommt noch dicker. Kaum ist die Corona-Bombe explodiert, rappelt es schon an der zweiten Front: An der östlichen EU-Grenze in Polen eskaliert die Lage, Schergen des belarussischen Diktators prügeln Migranten zum Grenzzaun, gestern überwanden die ersten Menschen die Gitter. Die Bilder verbreiten sich über soziale Medien in Windeseile bis Arabien und Afrika und senden eine Botschaft: Seht her, die EU steht offen! Noch ist die Situation nicht so brisant wie im Sommer 2015, doch das kann sie werden, wenn Europas Politiker weiterhin so verworren handeln. Die Polen und die Letten wollen die Migranten notfalls mit Gewalt abblocken, aber sich dabei nicht von der EU-Grenzschutztruppe Frontex helfen lassen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen droht mit weiteren Sanktionen und weiß gleichzeitig, dass schon die bisherigen nichts bewirkt haben, außer den Konflikt weiter zu verschärfen. Und Frau Merkel ruft den Strippenzieher im Kreml an, um ihn zu bitten, bitte ein bisschen weniger an den Strippen zu ziehen – was der prompt ablehnt. Sechs Jahre nach der großen Flüchtlingskrise hat Europa immer noch keine gemeinsame Migrationspolitik, und es hat auch keinen schlüssigen Plan, wie es mit den Potentaten in seiner Nachbarschaft umgehen soll. Wenn Herr Putin und Herr Lukaschenko in Bagdad, Beirut und Istanbul Menschen in Flugzeuge setzen und an die EU-Grenze karren lassen, um die verhasste Union zu destabilisieren, bleibt Europas mächtigster Politikerin nicht mehr als ein Bettelanruf in Moskau: Das ist so hilflos, dass es fast schon komisch ist. Wie will die EU eigentlich künftige Großkrisen wie die Klimamigration oder die Auseinandersetzung mit der neuen Weltmacht China bewältigen, wenn sie schon mit ein paar Tausend Migranten und einem Westentaschendiktator überfordert ist?

Auch diese bittere Frage müssen sich die Damen und Herren stellen, die bald im Kanzleramt und in den Bundesministerien auf den Chefstühlen sitzen wollen. "Die alte, abgewählte Regierung verliert mit jedem Tag an Autorität, das ist einfach so. Der neuen Regierung fehlt es an Autorität, solange sie nicht gewählt ist, auch das ist einfach so. Es sollte sie aber nicht davon abhalten, gravierende Ereignisse, die sich mächtig aufbauen, jetzt schon politisch zu beurteilen", schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl.

Der Rat von Fachleuten kann bei dieser Beurteilung helfen. Die Wissenschaftler der Leopoldina haben gestern eine Impfpflicht für alle Menschen mit vielen Kontakten und eine möglichst weitreichende 2G-Regel gefordert, um die vierte Corona-Welle zu stoppen. Und Außenpolitiker verlangen, Herrn Putin damit zu drohen, die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 zu kassieren, wenn er den Schleuserverkehr aus dem Nahen Osten nach Osteuropa nicht sofort einstellt. Wirksame Vorschläge liegen also vor. Jetzt müssen die alten und die neuen Regierenden nur noch zugreifen. Ob sie bald aufwachen?


Der Schattenmann

Was macht eigentlich Olaf Scholz? Wer bei ihm Führung bestelle, der bekomme sie, rühmte sich der SPD-Frontmann früher mal. In diesen Tagen der Doppelkrise ist von Führungsanspruch nichts zu sehen, der Kanzler in spe werkelt im politischen Schattenreich herum. Heute könnte sich das ändern, Herr Scholz will sich gleich zweimal zu Wort melden: zum einen am Vormittag, wenn der Bundestag in erster Lesung über das halbgare Corona-Regelwerk von SPD, Grünen und FDP berät. Zum anderen, wenn er in seiner Eigenschaft als Noch-Finanzminister am Nachmittag vor der Bundespressekonferenz die Steuerschätzung bis 2025 vorstellt. Mit rund 160 Milliarden Euro extra kann die neue Regierung rechnen. Wenigstens das ist mal eine gute Nachricht.

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Ein leises Helau

Wer es gar nicht lassen kann, darf den Beginn der Karnevalssaison heute um 11.11 Uhr in Präsenz feiern. In den Hochburgen Köln, Düsseldorf und Mainz gilt jedoch die 2G-Regel: Nur Geimpfte und Genesene haben Zugang zu den Partyzonen. Allein in Köln, wo Bereiche der Altstadt und des Zülpicher Viertels abgesperrt werden, sollen 1.000 Polizisten die getrübte Gaudi überwachen. In Mainz wird das närrische Grundgesetz diesmal nicht auf dem Balkon des Osteiner Hofs verkündet, sondern auf einer isolierten Bühne, damit die Narren Abstand halten können. Na dann, Narrhallamarsch.


Länderspiel gegen Liechtenstein

Die sportliche Bedeutung dieses WM-Qualifikationsspiels ist überschaubar, schließlich hat sich die deutsche Nationalelf bereits für das Turnier in Katar qualifiziert. In den Fokus dürften heute Abend in Wolfsburg daher andere Aspekte rücken – etwa die Frage, wie die Mannschaft von Bundestrainer Hansi Flick den Ausfall des Quarantäne-Quintetts um Niklas Süle und Joshua Kimmich verkraftet. Zudem gibt es eine Premiere: Mit der Kroatin Ivana Martinčić leitet erstmals eine Schiedsrichterin eine Partie der deutschen Herrenmannschaft. Ach ja, und dann soll auch noch Flicks Vorgänger Joachim Löw verabschiedet werden. In Wolfsburg. Gegen Liechtenstein. Ja, das darf man getrost als einen kleinen Akt der Rache an einem Trainer verstehen, der zwar vor langer Zeit Großes geleistet, aber dann viel zu lange an seinem Sessel geklebt hat. Mein Kollege Noah Platschko, der wie alle Schwaben ein untrügliches Gespür für Gerechtigkeit hat, findet diesen Abschied dennoch unwürdig.


Was lesen?

Nach inständigen Bitten der EU hat Gazprom die Ventile für Europa wieder aufgedreht: Die zusätzlichen Gaslieferungen sollen die Energiekrise entschärfen. Doch die Warterei zeigt, welche Macht Russland mittlerweile über die EU hat, erklärt meine Kollegin Christine Holthoff.


Infektionen, Erkrankte, Impfungen: Seit Beginn der Corona-Pandemie dreht sich alles um Zahlen. Meine Kollegin Melanie Rannow bringt Licht ins Dunkel.


Unsere Reporterin Theresa Crysmann erlebt auf der Weltklimakonferenz in Glasgow bemerkenswerte Momente. Gestern hat sie eine Flaschenpost entdeckt, die kein Mensch bekommen möchte.


Der Corona-Fall sorgt für Chaos in der Fußball-Nationalmannschaft. Der DFB sollte endlich eine 2G-Regel für Nationalkicker einführen, fordert mein Kollege David Digili.


Was amüsiert mich?

Die spinnen, die Impfgegner.

Bleiben Sie bitte vernünftig. Ich wünsche Ihnen einen gesunden Tag. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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