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Die Ampelfrist endet: Hefte raus – Klassenarbeit!


Ampelfrist endet
Jetzt beginnt das große Zittern

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel, Patrick Diekmann

Aktualisiert am 10.11.2021Lesedauer: 6 Min.
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Spitzenpolitikerinnen und -politiker von SPD, Grünen und FDP verkünden ihre Bilanz zu den bisherigen Verhandlungen: Zentrale Fragen sind noch immer ungeklärt.Vergrößern des Bildes
Spitzenpolitikerinnen und -politiker von SPD, Grünen und FDP verkünden ihre Bilanz zu den bisherigen Verhandlungen: Zentrale Fragen sind noch immer ungeklärt. (Quelle: Mike Schmidt/imago-images-bilder)

An Mittwoch mussten die Verhandlungsgruppen der Ampel ihren Parteichefs Ergebnisse liefern. Wer sind die größten Streber – und wer könnte die Koalition noch zum Platzen bringen?

Schriftgröße 11, Zeilenabstand 1,5, Schriftart Calibri, Textlänge maximal drei bis fünf Seiten – was nach den Vorgaben einer Uni-Hausarbeit klingt, ist das formale Gerüst der 22 Ampelpapiere, die am Mittwoch, Punkt 18 Uhr, eingereicht werden mussten.

Es war von Anfang an ein mutiges Experiment: drei Parteien, 300 Politiker, 22 Arbeitsgruppen, die Konflikte eigenständig klären, ohne Durchstechereien an die Presse. Letzteres wurde hart bestraft: Wenn ein Punkt an die Öffentlichkeit gelangte, musste er neu verhandelt werden. So lautete der neue Ordnungsgeist der Ampel, die meisten hielten sich eisern daran.

Die Tatsache, dass die selbst ernannte "Fortschrittskoalition" ihre Visionen in einer Schriftart – Calibri – niederlegt, die Microsoft schon Anfang des Jahres zum Dinosaurier erklärt hat, ist nicht der einzige Schönheitsfehler. Viel entscheidender sind die riesigen Baustellen, die SPD, Grüne und FDP anscheinend noch immer nicht klären konnten und die den straffen Zeitplan gefährden könnten.

Grüne grummeln über mangelnden Fortschritt

Der Plan lautete bisher:

  • 10. November: Die 22 Arbeitsgruppen reichen ihre Papiere ein und übergeben die Staffel an die Führungsriege
  • Ende November: Der Koalitionsvertrag steht
  • Zweite Dezemberwoche: Olaf Scholz (SPD) lässt sich zum Kanzler wählen und bildet eine neue Bundesregierung

Ob diese Roadmap so hinhaut, ist derzeit fraglich. Vor allem bei den Grünen macht sich das Gefühl breit, in den Verhandlungen nicht ausreichend gepunktet zu haben. Kein Eindruck, der völlig aus der Welt gegriffen ist: Das Sondierungspapier, das Corona-Papier, alles, was von der Ampel bisher zu hören und zu lesen war, trug tatsächlich bisher eher eine sozial-liberale Handschrift als eine grüne.

Entsprechend unruhig wird die Ökopartei. Der grüne Verkehrsminister in Baden-Württemberg, Winfried Hermann, sprach am Montag säbelrasselnd von einem Platzen der Ampelgespräche und sogar von "Neuwahlen", falls man beim Klimaschutz nicht zusammenkomme. Die Fraktionschefin der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, zog kurz darauf nach und ließ den Zeitplan öffentlich wackeln: "Das Ergebnis zählt, nicht das Datum."

Die verbliebenen Minenfelder

Ob die Grünen nur kurz ihre Zähne zeigen wollten oder ernsthaft das Ampelprojekt infrage stellen, darf jeder selbst beurteilen. Es zeigt, dass die Gespräche zwischen SPD, Grünen und FDP nicht so harmonisch ablaufen, wie seit dem Wahlausgang erzählt wurde. Der viel besungene "neue politische Stil" scheint sich eher auf die Außenkommunikation zu beschränken, während es im Hinterzimmer rumort wie zuvor.

Drei große Streitpunkte bleiben:

Klima: Hier knirscht es gewaltig. Der grüne Verhandlungsführer, Fraktionsvize Oliver Krischer, versuchte am Sonntagabend im Fernsehen zwar gute Laune und Optimismus zu versprühen, sagte aber einen Satz, der aufhorchen ließ: "Eine Regierung, die nicht auf den 1,5-Grad-Pfad kommt und die keine angemessene Klimaschutzpolitik macht – da werden Bündnis 90/Die Grünen sich sicherlich nicht dran beteiligen." Wohl nicht zufällig erinnert das an das Lindner-Bonmot von 2017 ("Lieber nicht regieren als falsch regieren."), mit dem der FDP-Chef die Jamaika-Koalition begrub.

Obwohl es in der AG Klima beim 1,5-Grad-Ziel kaum Differenzen gibt, unterscheiden sich vor allem FDP und Grüne in der Frage, wie man am effektivsten Klimaschutz betreibt – mit staatlichen Vorgaben oder durch Marktanreize. Wie frustriert die Grünen offenbar mit den Verhandlungen sind, zeigte zudem ein Brief an Umweltverbände, in dem die grüne Führungsriege darum bat, mehr Druck von außen auf FDP und SPD aufzubauen.

Das Problem für die Ökopartei: Wenn die FDP das Finanzministerium bekommt und Olaf Scholz im Kanzleramt sitzt, könnten sich die Grünen nur in einem großzügig zugeschnittenen Klimaministerium profilieren. Nachdem die Verhandlungskünstler der FDP bereits die Schuldenbremse gerettet, den Verzicht auf Steuererhöhungen durchgesetzt und sogar das Symbolthema Tempolimit abgeräumt haben, müssen die Grünen wenigstens in der Klimapolitik sichtbar bleiben. Diese Hoffnung droht gerade zu zerbröseln.

Finanzen: Eng verknüpft mit der Frage, wie die Energiewirtschaft von morgen aussehen soll, ist das Finanzthema: Der Weg in die Klimaneutralität wird oftmals als die größte industriepolitische Herausforderung in der Nachkriegsära bezeichnet. Dafür muss Geld mobilisiert werden, eine Menge Geld.

Wie das geschehen soll, ist umstritten. Ein grüner Finanzminister Robert Habeck würde wohl häufiger einen großen Schluck aus der staatlichen Pulle nehmen, um klimaneutrale Investitionen zu finanzieren, als ein liberaler Finanzminister Christian Lindner. Letzterer vertraut eher in die transformatorischen Kräfte des Marktes. Die Grünen-Idee, über öffentliche Investitionsgesellschaften Kredite aufzunehmen, um so die Schuldenbremse zu umgehen, nannte Lindner schon mal "undemokratisch". Den Vorschlag, die Corona-Ausnahme für Klimakredite zu nutzen, "nicht seriös".

Der Europaabgeordnete Sven Giegold, der für die Grünen im Verhandlungsteam sitzt, bestätigt auf Anfrage, dass die Baustellen in der AG 22 noch nicht behoben sind: "Wir haben eine Klimaregierung versprochen, und die muss sich in allen Bereichen zeigen: Mobilität, Bauen, Energie, Landwirtschaft und natürlich auch bei den Finanzen. Aber an dem Punkt sind wir noch nicht."

Außen: Auch die AG Außen- und Sicherheitspolitik ist mittlerweile zu einem großen Stolperstein für die Ampelkoalitionäre geworden. Das Problem: Es gibt nicht nur Streit zwischen SPD, Grünen und FDP, sondern die Konfliktlinien ziehen sich auch durch die jeweiligen Parteien.

Für die SPD verhandelt Außenminister Heiko Maas, der im Sinne von Scholz einen eher pragmatischen Ansatz in der Außenpolitik vertritt. Scholz möchte im Prinzip die außenpolitische Linie seiner Vorgängerin Angela Merkel größtenteils fortführen. Das wird ihm von den Grünen teilweise als Arroganz ausgelegt, vor allem angesichts des Afghanistan-Debakels, wie der "Spiegel" aus Verhandlungskreisen berichtet. Demnach soll Maas nicht wie ein Minister verhandeln, der sein Amt schon aufgegeben hat – sondern wie einer, der erneut auf das Außen- oder sogar das Verteidigungsministerium schielt.

Während die Sozialdemokraten auf Kontinuität setzen, erwarten Grüne und FDP teilweise eine Kurskorrektur – vor allem im Umgang mit China oder Russland. Die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hatte sich im Wahlkampf lautstark für eine "wertebasierte Außenpolitik" stark gemacht. Auch FDP-Parteivize Alexander Graf Lambsdorff, der Verhandlungsführer der Liberalen in der AG 20, sprach sich für eine wertebasierte Strategie aus.

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Aber was bedeutet das genau? Diese Forderungen treffen in den Koalitionsverhandlungen momentan auf die Realität. Die nächste Bundesregierung muss ihre Haltung zu China, Russland, den USA und der Nato definieren. Es geht um eine Neubewertung der Bundeswehreinsätze im Ausland nach dem Debakel in Afghanistan und allgemein um Deutschlands Rolle in der Welt.

Die Ampelstreber

Doch nicht in allen AGs knallt es hinter den Kulissen. Wie die "Welt" berichtet, könnten zahlreiche Verhandlungsgruppen ihre Papiere sogar schon vor der Deadline einreichen, weil sie sich frühzeitig einig wurden. Die Ampelstreber sitzen in der AG 1 ("Moderner Staat und Demokratie"), AG 3 ("Innovation, Wissenschaft, Hochschule und Forschung"). Auch in den AGs 14 ("Kinder, Familie, Senioren und Jugend"), 16 ("Innere Sicherheit, Bürgerrechte, Justiz") und 19 ("Flucht und Migration") soll es "fair, ergebnisorientiert und professionell" zugehen.

Tatsächlich dringt aus diesen Gruppen auch kaum etwas nach draußen. Wie ein Sprecher von Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Unterhändlerin in der AG Justiz, t-online sagt: Man halte sich geradezu "religiös" an die Vertraulichkeitsvereinbarung mit den anderen Parteien.

Sprengstoff in den Papieren

Nun beginnt das große Zittern. Die Papiere wurden am Mittwoch an die Hauptverhandler der Parteien weitergereicht, wo dann die noch offenen Fragen geklärt werden. Zunächst an die Generalsekretäre beziehungsweise bei den Grünen der Bundesgeschäftsführer, dann an die oberste Parteiriege. Bei den Grünen sind das unter anderem die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck, bei der SPD der wohl baldige Kanzler Olaf Scholz und die Parteichefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, bei der FDP Parteichef Christian Lindner.

Doch wie es dann in der Führungsetage weitergeht, ist selbst den Unterhändlern noch nicht ganz klar, wie zu hören ist. Faktisch wurden die 22 Arbeitsgruppen am Mittwoch begraben, denkbar ist, dass die AG-Leiter auch weiter in die Verhandlungen involviert werden.

Wie lange der Prozess dann noch dauert, muss sich zeigen. Wahrscheinlich ist, dass die AGs ihre ungelösten Konflikte hinter vagen Formelkompromissen versteckt haben, die die Führungsebene noch eine Weile beschäftigen werden. Es steckt also viel Sprengstoff in den Papieren. Ob Olaf Scholz um Nikolaus zum Kanzler gewählt werden kann, steht derzeit in den Sternen.

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