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Infektionen, Inflation, Extremisten – Oh! Das kommt uns bekannt vor


Tagesanbruch
Oh! Das kommt uns bekannt vor

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 14.12.2021Lesedauer: 6 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Tuberkulosebakterium in einer menschlichen Lunge.Vergrößern des Bildes
Tuberkulosebakterium in einer menschlichen Lunge. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

gefährliche Infektionen, rasante Inflation, erstarkende Extremisten: In diesen Tagen kann man den Eindruck bekommen, wir erlebten eine Ausnahmesituation, eine historische Extremphase, in der uns jede Woche und jeden Monat neue Prüfungen zugemutet werden. Diese Sichtweise kann Menschen zermürben. Manche lässt sie abstumpfen, andere treibt sie in blinde Wut. Betrachtet man die "Protestmärsche" gegen die Corona-Politik in ostdeutschen Städten, aber auch in Hamburg und in Wien, sieht man die Angriffe auf Polizisten und liest die Mordaufrufe gegen Politiker auf Telegram, könnte man meinen, all das seien Auswüchse einer Endzeitstimmung, die Teile der Bevölkerung erfasst hat. Das bar jeder Logik, aber im Brustton der Überzeugung vorgetragene Misstrauen gegen die Impfung hat nicht nur etwas Befremdliches, sondern auch etwas Beunruhigendes: Was wird aus diesen Leuten, die sich im "Widerstand" gegen den Staat wähnen, wohin treibt sie ihr Eifer noch?

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Nicht nur der Starrsinn der Impfgegner wirft heikle Fragen auf. Auch manche Regierende wirken angesichts der mannigfachen Herausforderungen unserer Zeit überfordert. Ist es wirklich klug, die Inflation durch eine laxe Geldpolitik immer weiter zu befeuern und in Kauf zu nehmen, dass die Sparguthaben von Millionen Bürgern rasant an Wert verlieren? Nehmen wir die Klimakrise ernst genug, sodass wir die Energieversorgung binnen neun Jahren komplett umkrempeln können? Ist es sinnvoll, wenn die neue Bundesregierung sich nicht nur den größten Umbau der Wirtschaft seit der Industrialisierung auf die Fahnen schreibt – sondern sich gleichzeitig mit China und Russland anlegt, weil man den Autokraten endlich mal zeigen will, wo der Hammer hängt? Kann sich das Corona-gebeutelte Deutschland eine wertegeleitete Außenpolitik, wie sie Frau Baerbock vorschwebt, wirklich leisten, wenn es doch vom chinesischen Absatzmarkt und vom russischen Erdgas abhängig ist?

Man kommt ins Grübeln, wenn man sich solche Fragen stellt, mit einem einfachen Ja oder Nein sind sie kaum zu beantworten. Während man gedanklich von einem Problem zum nächsten springt, mag man dem Eindruck verfallen, die gegenwärtigen Herausforderungen seien beispiellos groß. Sind sie aber nicht. Ohne Zweifel erleben wir prekäre Wochen und Monate. Stellt man sie aber in einen historischen Kontext, relativiert sich die Bedrohung. Dazu genügt es, hundert Jahre zurückzublicken. Auch damals waren die Menschen mit gewaltigen Prüfungen konfrontiert, während das normale Leben weiterlief. Aus heutiger Sicht kommt uns vieles erstaunlich bekannt vor. Denn so sah das aus im Jahr 1921:

Im Januar werden alarmierende Zahlen bekannt: Von 485.000 Berliner Kindern haben fast 30.000 Tuberkulose, 77.000 sind krank und stark unterernährt. Wenig später werden in Frankreich die ersten oralen Impfungen gegen den Erreger verabreicht. Von Beginn an gibt es jedoch starke Widerstände gegen die Impfung. Nur das Wort "Querdenker" gibt es damals noch nicht.

Im Februar kommt es bei der Aufführung von Arthur Schnitzlers Theaterstück "Reigen" zu Krawallen: 500 radikale Aktivisten sprengen die Vorführung und verprügeln die Zuschauer.

Im März kann die SPD einen wichtigen Wahlsieg erringen: Im Landtag von Mecklenburg-Schwerin ist sie nun die stärkste Fraktion, der Erfolg gibt den Sozialdemokraten Rückenwind.

Im April findet die letzte Runde der Schachweltmeisterschaft in Havanna statt. Der 52-jährige Deutsche Emanuel Lasker, seit 1894 ununterbrochen Champion, wird von dem 32-jährigen Kubaner José Capablanca vom Brett gefegt. Nur ein millionenschweres Preisgeld – wie es der Schachweltmeister Magnus Carlsen hundert Jahre später erhält – bekommt er nicht.

Im Mai stimmen fast hundert Prozent der Salzburger Bevölkerung für einen Anschluss an Deutschland – ebenso wie kurz zuvor schon in Tirol. Die alliierten Siegermächte des Ersten Weltkriegs drohen, die Finanzhilfen für das kriegsversehrte Land zu streichen. Die österreichische Regierung muss ab jetzt ständig lavieren und Politik gegen große Teile der eigenen Bevölkerung machen.

Im Juni leidet Deutschland unter einer Hitzewelle. Berlin erlebt mit 34,4 Grad Celsius die höchste Temperatur seit Jahrzehnten. Hundert Jahre später sind solche Temperaturen normal geworden; Europa schlittert immer tiefer in die globale Klimakrise.

Im Juli gelingt es einem kanadischen Forscherteam erstmals, das Bauchspeicheldrüsenhormon Insulin zu isolieren. Es ist der Startpunkt für die Behandlung von Diabetes – eine medizinische Revolution.

Im August ermorden Rechtsextremisten den Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger, der zuvor systematisch verleumdet worden ist. Nationalisten feiern den Mord frenetisch. Reichspräsident Ebert verhängt den Ausnahmezustand und erlässt Notverordnungen zum Schutz der Republik. Bayern akzeptiert die Verordnungen nicht.

Im September stürzt die Deutsche Mark wegen der Inflation an den Börsen ins Bodenlose. Für einen Dollar muss man nun 127 Mark zahlen.

Im Oktober lehnt der Völkerbund – der Vorläufer der Vereinten Nationen – eine Hilfsaktion für Sowjetrussland ab. Dort herrscht nach Dürren, Missernten und Misswirtschaft im Bürgerkrieg eine brutale Hungersnot, die 21 Millionen Menschen bedroht. Die Völkerbundstaaten sagen, die Krise sei vom kommunistischen Regime selbst verschuldet.

Im November kommt es im Münchner Hofbräuhaus zu einer blutigen Saalschlacht. Schlägertrupps der NSDAP gehen dabei besonders brutal vor. Anschließend nennt ihr Chef Adolf Hitler sie erstmals "Sturmabteilung" (SA).

Im Dezember bewilligt der US-Kongress 20 Millionen Dollar Hilfsgeld für die sowjetische Bevölkerung. Die Hungersnot wütet trotzdem noch ein weiteres Jahr weiter, am Ende hat sie fünf Millionen Menschen dahingerafft.

Schlaglichter eines Jahres, das weit zurück liegt, aber plötzlich gar nicht mehr so fern wirkt. Vergleicht man das Damals mit dem Heute, zeigen sich deutliche Unterschiede, aber auch erstaunliche Parallelen. Unterm Strich bleiben zwei Erkenntnisse: Zum einen erscheint unsere heutige Welt stabiler, resilienter, erfahrener – trotz all der Gefahren, Krisen und Extremisten. Zum anderen wäre es riskant, sich auf dieser Stabilität auszuruhen. Deutschland und Europa mögen mehrheitlich von vernünftigen Menschen bevölkert sein, die auch in Krisenzeiten besonnen und friedliebend sind. Aber eine Garantie, dass das so bleibt, gibt es nicht. Radikale Minderheiten können einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche legen. Auch das lehrt die Geschichte.


Mehr Freiheit für Geimpfte?

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Einige Bundesländer praktizieren es bereits: Wer geboostert ist, wird von der Testpflicht befreit. In Baden-Württemberg, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz müssen Dreifach-Geimpfte trotz 2G-Plus-Regel beispielsweise im Fitnessstudio keinen aktuellen Corona-Test mehr vorweisen. Die Begründung: Nach derzeitigem Kenntnisstand ist die Gefahr einer Infektion ebenso wie die einer Übertragung nach drei Impfungen ausgesprochen gering. Zudem werden die Testkapazitäten entlastet, und es wird ein weiterer Anreiz geschaffen, sich boostern zu lassen. Heute will Gesundheitsminister Karl Lauterbach seinen Länderkollegen den Vorschlag machen, diese Regeln bundesweit einzuführen.

Ein paar Details wären dann aber doch noch zu klären. Erstens: Wenn der zusätzliche Booster-Anreiz Wirkung entfalten soll, muss natürlich genügend Impfstoff da sein. Derzeit kommt es immer noch zu Engpässen. Zweitens: Wie gut eine Booster-Impfung gegen die Weitergabe der neuen Omikron-Variante schützt, wird in der Wissenschaft noch debattiert. Ob der Verzicht auf Testpflichten für Geboosterte da vorausschauend ist, erscheint zumindest fraglich. Unterm Strich steht also ein Praxistest für Neu-Minister Lauterbach.


Boris im Gegenwind

Es ist nicht so, dass Boris Johnson nur an einer Front in Bedrängnis wäre: Omikron breitet sich in Großbritannien schnell aus, gestern meldete das Land den ersten Todesfall. Außerdem steht der Premier wegen eines Fotos unter Druck, das ihn mitten im Lockdown mit Kollegen beim fröhlichen Gesellschaftsspiel zeigt. Die Opposition wirft ihm persönliche Verstöße gegen die Schutzverordnungen vor.

In dieser Gemengelage stimmt das britische Parlament heute über schärfere Corona-Regeln ab – und Herr Johnson muss mit starkem Gegenwind aus den eigenen Reihen rechnen. Dutzende Parlamentarier seiner Konservativen Partei haben angekündigt, gegen die Ausweitung der Maskenpflicht und gegen Impfnachweise für die Teilnahme an Großveranstaltungen zu stimmen. Die rebellischen Tory-Abgeordneten fürchten um die Erholung der Wirtschaft. Eine Niederlage dürfte der Regierung trotzdem erspart bleiben: Die Labour-Opposition hat bereits Zustimmung signalisiert.


Person des Tages

Kann es wirklich sein, dass die große Jane Birkin heute schon 75 wird? Die Frau, an deren Lippen Millionen von Männern (und Frauen) hingen, als sie "Je t'aime" hauchte? Doch, ist wirklich so. Joyeux anniversaire!


Was lesen?

Die Radikalisierung der Corona-Proteste darf uns eigentlich nicht überraschen. Denn schon vor Jahren wurden die Weichen dafür gestellt, berichtet unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe.


Freiberg, Chemnitz, Zwönitz: Was steckt wirklich hinter den "Protestmärschen" in Sachsen? Ein Soziologe hat es meiner Kollegin Christiane Braunsdorf erklärt.


Die Ampelparteien freuen sich über ihre neue Macht – doch das Bündnis ist labiler, als es scheint, meint unser Kolumnist Christoph Schwennicke.


In den Weltkriegen waren deutsche U-Boote gefürchtet. Dabei begannen sie ganz klein, zeigt unser Historisches Bild.


Was amüsiert mich?

Eine seltsame Weltsicht haben diese Impfskeptiker.

Ich wünsche Ihnen einen geselligen Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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