Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Deutschland bewaffnet sich bis an die Zähne

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Gewalt gebiert Gegengewalt. Erst recht im Nahen Osten, wo das Gesetz des Alten Testaments die Geschicke bestimmt: Wie du mir, so ich dir. Das iranische Regime hat gestern Abend US-Militärbasen in Katar und im Irak beschossen, um den Angriff der Amerikaner auf die iranischen Atomanlagen zu vergelten. Diese Angriffe hatte Washington gestartet, um Israel zu unterstützen, das in Teheran seinen mächtigsten Feind sieht, der wiederum die Terrorbanden Hamas und Hisbollah aufgerüstet hat. Hamas-Terroristen hatten im Oktober 2023 mehr als tausend Israelis massakriert und Dutzende als Geiseln genommen, um sich für die Unterdrückung der Palästinenser zu rächen.
So geht es Schlag auf Schlag, und die Hiebe kommen immer schneller. Längst ist auch Europa in den Konflikt involviert: Deutsche, französische und britische Diplomaten sind im Dauereinsatz, um eine Notbremse zu suchen, mit der sie die Gewalt stoppen oder wenigstens drosseln können. Vordergründig wirkten diese Bemühungen vergeblich. Jeden Morgen wandert der besorgte Blick aufs Handy – und wieder scheint die Lage schlimmer geworden zu sein. Doch wer genauer hinsieht, erkennt, dass dem nicht so ist. Sogar der aussichtslos erscheinende Konflikt im Nahen Osten gehorcht Regeln und folgt den Motiven der Akteure – und dabei stehen die Zeichen derzeit nicht auf maximale Konfrontation.
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So haben die Iraner vor ihrem gestrigen Angriff die Amerikaner offenbar vorgewarnt. Teheran habe zwar die Notwendigkeit verspürt, einen symbolischen Gegenschlag gegen die USA auszuführen, zitiert die "New York Times" iranische Diplomaten. Man habe jedoch beiden Seiten eine Möglichkeit offenlassen wollen, die Kämpfe zu beenden.
Prompt nahm Donald Trump das Angebot an und bedankte sich sogar bei den Mullahs: Die Vorwarnung habe es möglich gemacht, Tote und Verletzte zu verhindern; die Raketen seien abgefangen worden. Er hoffe, dass es jetzt "keinen weiteren Hass" gebe. Und weiter: "Vielleicht kann der Iran jetzt zu Frieden und Harmonie in der Region übergehen, und ich werde Israel enthusiastisch ermutigen, dasselbe zu tun." Kurz nach Mitternacht deutscher Zeit kündigte Trump dann eine Waffenruhe und das anschließende Kriegsende zwischen Israel und dem Iran an. Man sollte nicht alles für bare Münze nehmen, was dieser Mann von sich gibt, aber das will etwas heißen. Der Iran signalisierte zwar Bereitschaft zur verkündeten Waffenruhe. In der Nacht gab es zunächst aber weitere Angriffe.
Auch Israels Ministerpräsident Netanjahu tauscht seine martialische Rhetorik gegen versöhnliche Töne aus. Es gehe ihm darum, "die beiden konkreten Bedrohungen unserer Existenz zu beseitigen: die nukleare Bedrohung und die Bedrohung durch ballistische Raketen", verkündet er. "Wir kommen diesen Zielen Schritt für Schritt näher. Wir sind kurz davor, sie zu erreichen." Jerusalemer Regierungskreisen zufolge strebt Netanjahus Kabinett das Kriegsende bis Ende dieser Woche an.
Genau an diesem Punkt kommen die europäischen Diplomaten ins Spiel, die sich in den vergangenen Tagen von vielen Kommentatoren Spott anhören mussten: Sie hätten im Nahen Osten keinerlei Einfluss, seien nur wichtigtuerische Papiertiger. Militärisch können die Europäer tatsächlich nicht mit den Amerikanern und Israelis mithalten. Aber Diplomatie beherrschen sie. Und genau die braucht es noch viel stärker, sobald die Waffen schweigen: Wie soll das Teheraner Regime davon abgehalten werden, seine Atomanlagen wieder zu ertüchtigen? Wie kann die israelische Bevölkerung sicher leben und auch die Einwohner Gazas endlich in Frieden leben lassen? Welche Sicherheitsgarantien braucht es in der explosiven Region, damit nicht in wenigen Wochen der nächste Krieg ausbricht?
Antworten auf diese Fragen sind unendlich kompliziert. Deshalb seien die Amerikaner durchaus dankbar für europäische Hilfe, ist aus der Bundesregierung zu hören. Zumal Trump es sich nicht leisten kann, seine isolationistische MAGA-Basis mit einem langen Militäreinsatz zu verprellen. "Sollte er US-Soldaten in den Iran entsenden, bekäme er ein gewaltiges Problem", sagt der Historiker Quinn Slobodian im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke. "Dieses Risiko wird Trump wohl nicht eingehen."
Das ist die Lage, wenn heute Abend in Den Haag der wohl wichtigste Nato-Gipfel der jüngeren Geschichte beginnt. Generalsekretär Mark Rutte hat alles versucht, um dem wichtigsten Teilnehmer zu schmeicheln: Er ließ die Veranstaltung radikal zusammenkürzen, um Trumps notorisch kurze Aufmerksamkeitsspanne nicht überzustrapazieren und einen Eklat zu vermeiden. So treffen sich die Staats- und Regierungschefs heute Abend nur zu einem Gala-Dinner mit dem niederländischen Königspaar, bevor morgen Vormittag eine einzige Arbeitssitzung auf dem Programm steht. Speisen, sprechen, fertig.
Letztgültige Sicherheit, dass der Amerikaner mitspielt, haben die Europäer trotzdem nicht. "Trumps ständiger Vertreter der USA bei der Nato, Matthew Whitaker, deutete zuletzt an, dass es nach dem Gipfel in Den Haag wohl zu einer Neubewertung der US-Truppenpräsenz in Europa und zu einer Truppenreduzierung kommen werde. Für Berlin ist das potenziell ein Horrorszenario, je nachdem, was genau abgezogen wird", schreiben unsere Reporter Johannes Bebermeier, Bastian Brauns und Daniel Mützel. Über dem Gipfel schwebt also ein Damoklesschwert.
Das erklärt die gewaltigen Anstrengungen, die die europäischen Nato-Länder unternommen haben, um rechtzeitig ihre Versprechungen zu erfüllen: Wie von Trump gefordert, verpflichten sie sich, künftig fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung und verteidigungsrelevante Infrastruktur zu investieren, um Putins Terrorregime abzuschrecken.
Das sind enorme Summen, auch für ein wohlhabendes Land wie Deutschland. Wie aus dem Haushaltsentwurf und der Finanzplanung der schwarz-roten Bundesregierung hervorgeht, sollen die Rüstungsausgaben bis 2029 auf 153 Milliarden Euro verdreifacht werden. Hinzu kommt ein hoher zweistelliger Milliardenbetrag für Bunker, panzertaugliche Brücken und Straßen.
Hält man sich vor Augen, dass sich der Bundeshaushalt derzeit auf rund 500 Milliarden Euro beläuft, wird klar: Das Geld, das künftig ins Militär fließt, wird an anderen Stellen fehlen. Denn mit Schulden allein lassen sich diese riesigen Beträge nicht aufbringen. Noch mag kein Regierungspolitiker die bittere Wahrheit aussprechen, aber das bedeutet aller Wahrscheinlichkeit nach in den kommenden Jahren weniger Sozialwohnungen, weniger sanierte Schulen und Kitas, weniger Artenschutz, weniger humanitäre Hilfe, wenig Spielraum für Rentenerhöhungen und andere Wohltaten.
Dieser Nato-Gipfel ist historisch. In Den Haag werden für Deutschland auf Jahre hinaus die Weichen gestellt. Das Land mag dadurch sicherer werden, aber es wird auch sozial kälter. Falls Sie jemanden brauchen, dem Sie das vorwerfen wollen: Er sitzt in Moskau.
Klingbeils erster Haushalt
Es ist eine Woche der Wahrheit für Lars Klingbeil, die am Freitag auf den SPD-Parteitag zuläuft: Dort soll Arbeitsministerin Bärbel Bas zur Nachfolgerin der scheidenden Co-Vorsitzenden Saskia Esken gekürt werden, und auch Klingbeil selbst muss sich zur Wiederwahl stellen. Nach der historischen Niederlage bei der Bundestagswahl im Februar, mehreren umstrittenen Personalentscheidungen und Zugeständnissen an den Koalitionspartner CDU/CSU rechnen Beobachter damit, dass das Ergebnis nicht gerade triumphal ausfällt.
Heute aber ist der Vizekanzler zunächst in seiner Eigenschaft als Finanzminister gefragt: Klingbeil will sich den Etat für 2025 und die Eckwerte für 2026 vom Kabinett absegnen lassen, außerdem das Gesetz für das 500 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz einbringen. Bei der Schuldenplanung kann zarten Gemütern durchaus schwindelig werden: Allein im Kernhaushalt für dieses und das kommende Jahr will der Minister Kredite von 170 Milliarden Euro aufnehmen. Die Zinsen werden unsere Kinder und Enkel berappen müssen.
Verboten oder nicht?
Vor rund einem Jahr hatte die damalige SPD-Innenministerin Nancy Faeser "Compact" verboten. Das rechtsextreme Magazin richte sich "gegen die verfassungsmäßige Ordnung" und verbreite "antisemitische, rassistische, minderheitenfeindliche, geschichtsrevisionistische und verschwörungstheoretische Inhalte". Doch in einem Eilverfahren setzten Leipziger Bundesrichter das Verbot vorläufig aus. Heute steht die endgültige Entscheidung im Hauptsacheverfahren an. Dabei müssen die Richter die schwierige Frage beantworten, ob bestimmte Aussagen des Medienunternehmens noch als Meinungsäußerungen durchgehen und durch die Pressefreiheit gedeckt sind – oder ob sie verfassungsfeindlich sind und eine konkrete Gefährdung darstellen. Wir werden auf t-online über die Entscheidung berichten.
Die gute Nachricht
Der Multimilliardär Bill Gates spendet beinahe sein gesamtes Vermögen für den Kampf gegen Armut und Krankheiten. Die von ihm unterstützte Impfallianz Gavi hat in den vergangenen 25 Jahren mehr als eine Milliarde Kinder geimpft und 19 Millionen Menschenleben gerettet. "Das ist eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit", schreibt Gates in einem Gastbeitrag für das "Redaktionsnetzwerk Deutschland". Ich habe mich gestern mit ihm unterhalten und meine: Recht hat er.
Lesetipps
Raketen, Drohungen, Beschwichtigungen: Das gefährliche Machtspiel zwischen den USA und dem Iran kann auch schiefgehen, schreibt unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.
Macht der Krieg gegen den Iran alles nur noch schlimmer? Nicht unbedingt, findet unser Kolumnist Uwe Vorkötter. Dieser Krieg kann die Welt besser machen.
Die Klub-WM findet unter Ausschluss weiter Teile der Fußballfans statt. Viele unserer Leser sehen deshalb den gesamten Sport in Gefahr.
Ohrenschmaus
In Zeiten wie diesen braucht es mehr Liebe. So wie in diesem wunderbaren Ohrwurm.
Zum Schluss
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.