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Andrij Melnyks letztes Interview: "Deutschland hat auf das falsche Pferd gesetzt"


Melnyk über SPD und CDU
"Deutschland hat auf das falsche Pferd gesetzt"

InterviewVon Carl Exner

Aktualisiert am 16.10.2022Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Auf dem Weg in seine ukrainische Heimat gab Melnyk t-online exklusiv sein letztes Interview als Botschafter. (Quelle: t-online)

Andrij Melnyk prägte wie kein anderer den Diskurs zum Ukraine-Krieg. Mit t-online sprach er über seine Zeit in Deutschland – und attackiert zwei führende Politiker.

Die letzte Woche machte dem ukrainischen Botschafter zu schaffen: Für Andrij Melnyk stand nicht nur der Umzug nach Kiew bevor, sondern er hatte sich auch eine schwere Erkältung eingefangen. Die Umzugskisten packte er noch bis tief in die Freitagnacht. Mit seiner Abreise aus Berlin endet die Amtszeit des wohl umstrittensten ukrainischen Diplomaten. t-online konnte exklusiv das letzte Interview mit Andrij Melnyk in seiner Zeit als Botschafter führen, während er auf dem Weg in seine Heimat war.

t-online: Herr Melnyk, Sie haben in den vergangenen Monaten viel dafür getan, dass die Bundesregierung die Ukraine noch mehr unterstützt. Wie zufrieden sind Sie mit dem, was Berlin leistet?

Andrij Melnyk: Wir sind dankbar dafür, dass die Ukraine schrittweise die geforderten Waffen bekommt. Das beste Beispiel ist natürlich das Iris-T-System für die Luftabwehr, was eine Herzensangelegenheit für mich war, und das kürzlich geliefert wurde. Ich habe mich persönlich wochenlang dafür eingesetzt, dass wir diesen Durchbruch erringen, damit viele Menschenleben gerettet werden können. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass wir weiterhin auf deutsche Kampfpanzer Leopard, Marder, Füchse und viele andere Waffensysteme warten müssen.

Wir wissen, dass die zügige Lieferung seitens der Bundeswehr seit Monaten möglich wäre und auch die Industrie sehr schnell liefern kann. Seit Ende März, Anfang April wären erste Panzer möglich gewesen und das bleibt auf unserer Tagesordnung. Ich hoffe, dass es meinem Nachfolger gelingt, eine positive Entscheidung der Ampel herbeizuführen. Das ist für uns kriegsentscheidend.

Welche Politiker in Berlin Melnyk immer geschätzt hat und welchen historischen Vergleich der scheidende Botschafter zu Putin sieht, sehen Sie oben im Video oder, wenn Sie hier klicken.

Sind Sie enttäuscht über das Zaudern der Bundesregierung?

Ich bin sehr enttäuscht, dass muss man – leider Gottes – auch noch heute so sagen. Die formellen Gründe der Bundesregierung sind bekannt: Das erste Scheinargument ist, dass Deutschland keinen Alleingang bei Panzern machen will. Der zweite Grund, der mir eher glaubwürdiger erscheint, ist, dass man Russland nicht mehr provozieren möchte. Diese Logik nach alten Denkmustern können wir bis heute gar nicht nachvollziehen.

Nach alldem, was in der Ukraine passierte, diese unglaubliche Brutalität und den unsäglichen Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung. Wieso sollte die Lieferung von Leopard-Panzern plötzlich eine rote Linie überschreiten? Putin braucht gar keine Provokation, er agiert aus innerer Überzeugung heraus und baut sich danach seine Welt zurecht. Und deswegen sind die deutschen Argumente für uns nicht schlüssig, sondern künstlich. Wir brauchen dringend die Kampfpanzer noch vor dem Wintereinbruch. Nicht nur im Osten der Ukraine, wo wir zurzeit schnell vorrücken, sondern auch im Süden, damit wir dort schneller Cherson und andere okkupierte Gebiete befreien können, bevor sich das Fenster schließt.

Darum geht es uns, und dagegen hören wir keine Argumente. Und natürlich hätten die Amerikaner als Erstes liefern können. Aber das ist für mich und alle Ukrainer nur eine schlechte Ausrede, Katz-und-Maus-Spiel, um nicht das zu tun, was richtig ist.

Wie erklären Sie sich das zögerliche Verhalten der Bundesregierung?

Die letzten Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung dafür ist, weitere schwere Waffensysteme an uns zu liefern und die Ukraine tatkräftiger zu unterstützen. Das heißt, der Kanzler ginge auch kein Risiko ein, die Menschen vor den Kopf zu stoßen, wenn er diese Waffen liefern würde. Der einzige – aus meiner Sicht plausible – Grund wäre, dass Deutschland das politische Signal nach Moskau senden möchte: Wir sind vielleicht bereit, schnell Gespräche zu führen oder zum Beispiel eines Tages wieder als Vermittler zu agieren.

Aber selbst das kann ich zurzeit nicht erkennen. Denn es laufen aktuell keine Vermittlungsversuche – zumindest nicht von deutscher Seite. Das ist schade, denn Deutschland könnte auch hier helfen, mit dem, was nötig ist. Ich habe nie das Blaue vom Himmel gefordert, sondern nur das, was die Bundesrepublik auch leisten kann. Doch dazu braucht man den politischen Willen. Wir haben gezeigt, dass die Ukrainer fähig sind, besetzte Gebiete rasch zu befreien. Das sollte ein Ansporn oder eine weitere Ermutigung für den Bundeskanzler sein, mehr zu tun, als einfach nur abzuwarten.

Kanzler Scholz hatte kürzlich erklärt, dass Putin Gas als Waffe einsetzen wird, sei ihm schon vorher bewusst gewesen. Was haben Sie gedacht, als Sie das gelesen haben?

Es hat mich, um ehrlich zu sein, schon überrascht. Wir haben ja diese Appeasement-Politik gegenüber Putin seit der Annexion der Krim und dem Einmarsch im Donbass noch sehr gut in Erinnerung. Wie man sich in Berlin eingesetzt hat für Nord Stream 2, versucht hat, sich gegen die US-Sanktionen zu wehren und wie die Groko dem Pipeline-Vorhaben immer starke Rückendeckung gegeben hat.

Ich kann mich noch an viele Gespräche mit den hohen Vertretern der Merkel-Regierung erinnern, die alle unsere Warnungen über Bord geworfen haben. Immer, wenn ich lautstark gegen das Projekt getrommelt habe, wurden uns hinter den Kulissen sogar Konsequenzen für die bilateralen Beziehungen angedroht. Und deswegen, wenn man jetzt das sieht und hört, dann ist man ein bisschen sprachlos, ehrlich gesagt.

t-online erzählten Sie von einem Gespräch mit Finanzminister Christian Lindner (lesen Sie hier mehr dazu). Später nannten Sie es das "schlimmste" in Ihrem Leben. Konnten Sie sich mit Herrn Lindner mittlerweile aussprechen?

Nein, leider nicht. Ich habe das zumindest von meiner Seite versucht, auch in den letzten Monaten. Vor meiner Abreise habe ich auch ein Treffen angefragt, bei Empfängen und Veranstaltungen haben wir uns auch gesehen, aber leider hatten wir keine Gelegenheit diese Sache auszuräumen. Ich habe es zumindest versucht. Auch über gemeinsame Freunde, aber das war leider nicht möglich.

Sie haben in der Vergangenheit einige deutsche Politiker hart kritisiert, wie die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, Manuela Schwesig (SPD), oder Michael Kretschmer (CDU), den sächsischen Ministerpräsidenten. Halten Sie einige deutsche Politiker für untragbar?

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Das sollten die Deutschen selbst entscheiden. Man sieht jetzt, was Sache ist und welche fatale Politik gegenüber Russland jahrzehntelang betrieben wurde. Was mich nicht nur bei den genannten Politikern verwundert, ist, dass trotz dieses barbarischen Krieges gegen die Ukraine, trotz dieser verbrecherischen Aggression, die andauert, gegen unsere Zivilisten, trotz verheerender Folgen, die auch alle Deutschen in der eigenen Geldbörse spüren – dass diese Politiker, wie Kretschmer oder Schwesig, nicht einmal selbstkritisch oder zumindest nachdenklich ihre Entscheidungen betrachten. Alle sehen, dass man auf das falsche Pferd, auf das total falsche Pferd gesetzt hat in diesem Rennen für angeblich billiges Gas.

Sie vermissen also die Einsicht bei manchen Politikern?

Nach alledem, was passiert ist und was die Deutschen jetzt ausbaden müssen, verschlägt es mir die Sprache, wie schamlos diese Politiker sich verhalten. Es waren keine Fehler, es war keine Naivität oder Leichtsinnigkeit, es war eine bewusst und gezielt betriebene Politik, mit der sich Deutschland blauäugig in eine gefährliche Abhängigkeit begeben hat und den Handlungsspielraum massiv begrenzt hat, um auf den Angriffskrieg dezidiert zu reagieren.

Und jetzt ziehen diese und andere Politiker sich aus der Verantwortung, als ob nichts geschehen wäre – das kann ich gar nicht verstehen. Aber das müssen die Wähler in Mecklenburg-Vorpommern, anderen Bundesländern und im Bund entscheiden, ob die Politiker, die ihnen das eine erzählt und das Gegenteil getan haben, nicht beim Urnengang abgestraft werden sollten. Schließlich müssen jetzt alle Deutschen die drei, vier oder zehnmal so hohe Rechnung für dieses Debakel der Russland-Politik bezahlen.

In einem ZDF-Interview meinten Sie, dass Ihr Nachfolger einiges besser machen sollte als Sie. Woran genau denken Sie dabei?

Die Herausforderungen, die vor ihm liegen, sind nicht kleiner, sondern in manchen Bereichen sogar größer als zu meiner Zeit. Zum Beispiel muss er sich auch um den Zusammenhalt in Deutschland sorgen. Dass die Deutschen trotz dieser Energiekrise, Inflation und der Existenzängste, die man buchstäblich spürt, zur Ukraine halten. Trotz dieses hohen Preises, das wäre schon die erste große Aufgabe für meinen Nachfolger. Und natürlich muss er auch schauen, auf welche Art und Weise die Bundesregierung uns noch stärker unterstützt. Wir brauchen zum Beispiel schneller als zuvor neue deutsche Waffen. Ich habe dafür versucht den Grundstein zu legen – auch für Projekte, die erst in Jahren realisiert werden.

Können Sie das konkreter erklären?

Ich habe mich zum Beispiel um die Haubitze RCH-155 von Krauss-Maffei Wegmann bemüht. Das ist die weltweit beste Haubitze, eine wirklich sehr mächtige Waffe. Aber bis die Produktion anläuft, brauchen wir Monate, gar Jahre. Aber es geht doch darum, selbst wenn der Krieg hoffentlich schnell vorbei wäre, dass wir das Abschreckungspotenzial der Ukraine erhöhen müssen. Damit, wenn die Russen den Krieg fortsetzen sollten, dass wir dann viel besser ausgestattet und aufgerüstet sind.

Aus meiner Sicht ist es wichtig, die Weichen langfristig zu stellen, damit wir darauf vorbereitet sind, falls es zu einem neuen, vielleicht viel grausameren russischen Krieg kommt. Wir wollen uns immer mehr in die Nähe des Nato-Standards entwickeln. Denn sonst sind wir nicht überlebensfähig. Und deswegen muss sich die Bundesregierung auch schon heute ernsthafte Gedanken machen, um klug präventiv zu agieren. Wenn die Russen das nächste Mal wissen, dass wir nicht nur ein System, sondern 20 IRIS-T-Systeme haben, dann werden sie vielleicht doch unsicher, ob sie unsere Städte so massiv mit modernen ballistischen Raketen beschießen.

Sie lebten jahrelang in Deutschland: Zuerst arbeiteten Sie in Hamburg und später in Berlin. Fällt Ihnen der Abschied aus Deutschland schwer?

Ja, der Abschied fällt mir sehr schwer. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde "Schwamm drüber. Ich mache mich jetzt auf den Weg und das war es." Deutschland war für mich viel mehr als nur ein Beruf. Das war ein großer Teil meines Lebens. Es war unser Universum. Es ist mir nicht nur egal, weil Deutschland so wichtig für die Ukraine als Verbündeter ist und bleibt. Sondern, weil ich dieses Land schon immer liebgehabt habe.

Sonst hätte ich auch nicht die deutsche Sprache beherrscht, die Geschichte und Kultur kennengelernt und alles, was mich und meine Familie mit diesem Land mittlerweile verbindet. Und das ist auch der Grund, weshalb mir der Abschied so schwerfällt.

Sie kehren jetzt nach Kiew zurück, eine Stadt, die immer wieder bombardiert wird. Wie fühlen Sie sich dabei, jetzt in die ukrainische Hauptstadt zurückzukehren?

Ich freue mich, weil ich gerne nach Hause komme. Ich werde meine Familie sehen, meine Mutter und Schwester, beide Nichten, die die ersten zwei Monate seit Kriegsbeginn bei uns in Berlin verbracht haben und dann zurückgekehrt sind. Mein Schwager, mein Schwiegervater, viele Freunde sind die ganze Zeit in Kiew geblieben und ich freue mich, sie wiederzusehen. Man wird wohl auch einen anderen Blick haben auf das, was in Deutschland geschehen ist. Vielleicht auch einen kritischeren Blick.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Herr Botschafter!

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Interview mit Herrn Botschafter Dr. Andrij Melnyk am 15. Oktober 2022
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