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Ukraine-Krieg: Die Achillesferse der ukrainischen Armee – Nato: Lage ist problematisch


Mangellage bei der Bundeswehr
Gefährliches Zögern


Aktualisiert am 15.02.2023Lesedauer: 5 Min.
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Olaf Scholz und Boris Pistorius: Wann kommen die Großbestellungen bei der Rüstungsindustrie? (Quelle: IMAGO/Thomas Trutschel/photothek.de)

Der Ukraine-Krieg geht in eine entscheidende Phase: Moskau hat gerade eine neue Offensive begonnen, Kiew will sich mit allen Mitteln wehren. Doch es gibt ein Problem.

Kurz vor dem Jahrestag des Beginns des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine schlägt der Nato-Generalsekretär Alarm: Der Verteidigungskampf der ukrainischen Armee gegen die russischen Truppen verschlinge enorme Mengen an Munition, warnte Jens Stoltenberg am Montag. Die Munitionsbestände der Nato-Länder schwinden und können den Bedarf nicht decken. Der Ukraine drohe die Munition in der gerade begonnenen russischen Offensive auszugehen.

Wie groß die Munitionsmisere im Westen ist, zeigen auch die Aussagen eines westlichen Diplomaten. Der Nachrichtenagentur Reuters sagte er: "Sollte Europa gegen Russland kämpfen müssen, würden einige Länder binnen Tagen ihre Munition verbraucht haben." Auch der Nachschub sei gefährdet: Wer heute großkalibrige Munition bestelle, müsse zweieinhalb Jahre auf die Lieferung warten, so Jens Stoltenberg.

Das Munitionsproblem wollen deshalb jetzt die Nato-Verteidigungsminister angehen. Vor einem Treffen am Dienstag und Mittwoch forderte Stoltenberg die Verbündeten dazu auf, ihre Produktion hochzufahren, und betonte, die Nato stehe der Ukraine zur Seite, "solange es nötig ist."

Doch kommt der Appell zu spät? Wie viel kann der Westen derzeit liefern? Und hat die Ukraine genug Geschosse, um die gerade beginnende russische Offensive abzuwehren? Der Überblick.

Wie problematisch ist die Lage?

Der russische Angriffskrieg bringt die ukrainischen Munitionsdepots und die der Nato-Unterstützerstaaten an ihre Grenzen. Die Ukraine kann ihren Bedarf an Munition selbst nicht decken: Massenweise Munition wurde bereits verschossen, hinzu kommt, dass Russland regelmäßig ukrainische Munitionsfabriken und -depots zerstört. Und für die gelieferten westlichen Waffen kann das angegriffene Land teils gar keine Munition selbst herstellen.

Allein zwischen 3.000 und 5.000 Artilleriegranaten verschießt die ukrainische Armee Schätzungen zufolge – täglich. Zum Vergleich: Die russische Armee kommt US-Angaben zufolge sogar auf 20.000 Artilleriegranaten pro Tag. Neben Artilleriegeschossen braucht Kiew Munition für mehrere Panzermodelle, Flugabwehr, Raketenwerfer und Kleinwaffen. Der Bedarf der Ukraine ist so groß, dass er auch die Munitionsbestände von 30 Nato-Staaten an ihre Grenzen bringt.

Die rund 90.000 Artilleriegranaten, die die Ukraine monatlich verschießt, können nur zur Hälfte aus der laufenden Produktion in den USA und Europa gedeckt werden, so die "New York Times" unter Berufung auf westliche Regierungsvertreter.

Dabei sei das Geschehen hochdynamisch, sagt Verteidigungsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) zu t-online. Die Ukraine müsse haushalten: Bei viel Beschuss müsse sie entsprechend viel zurückschießen, aber auch sparen, wo es nur möglich ist. Die Lage ändere sich permanent. Zuletzt habe Russland weniger verschossen, ob aus taktischen Gründen oder als Sparmaßnahme, wisse man aber nicht, so Mölling.

Welche Munition braucht die Ukraine am dringendsten?

Kiew betont stets, dass sie alle Arten von Waffensystemen inklusive der dazugehörigen Munition benötigen. Die Prioritäten ändern sich jedoch nach Kriegslage: So ist beispielsweise Russland im Herbst 2022 dazu übergegangen, systematisch zivile Infrastruktur in der Ukraine zu zerstören. Um ukrainische Städte vor den russischen Raketen und Kamikazedrohnen zu schützen, hat sich der Bedarf an Flugabwehrsystemen und der entsprechenden Munition erhöht. Deutschland schickte beispielsweise das Luftverteidigungssystem Iris-T, das Raketenabwehrsystem Patriot sowie den Flugabwehrpanzer Gepard nach Kiew.

Für Letzteren hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nun eine neue Munitionslieferung für den Sommer angekündigt. Mit dem Rüstungsunternehmen Rheinmetall sei final vereinbart worden, neue 35-Millimeter-Munition zu fertigen. Laut der "Süddeutschen Zeitung" soll es um 300.000 Schuss gehen, die von Juli an in die Ukraine ausgeliefert werden sollen – mehr als ein Jahr nach Lieferung der ersten Gepard-Panzer.

In der aktuellen Phase des Abnutzungskriegs braucht die Ukraine jedoch vor allem Nachschub an Artilleriemunition. Auch wenn gerade eine neue russische Offensive im Donbass beginnt, ist der Krieg in weiten Teilen der Front ein Stellungskrieg: Ukrainische und russische Truppen haben sich hinter ihren jeweiligen Linien eingegraben und beschießen sich aus der Ferne mit Granaten und Raketen.

Zudem: Die Munition muss das richtige Kaliber haben. Nicht jedes Geschoss passt in jedes Rohr. Für die gelieferten westlichen Systeme, etwa die gezogene US-Haubitze M777 oder die deutsche Panzerhaubitze PzH 2000, benötigt Kiew Artilleriegranaten im Kaliber 155 Millimeter.

Da das ukrainische Militär in der Vergangenheit hauptsächlich alte Sowjethaubitzen einsetzte, die 152-Millimeter-Geschosse verschießen, gibt es kaum heimische Munitionsfabriken für die 2022 gelieferten Kanonen aus dem Westen. Daher haben allein die USA seit Kriegsbeginn rund eine Million 155-Millimeter-Granaten an die Ukraine geliefert, Deutschland rund 18.500 Geschosse.

Wie lässt sich der Munitionsmangel erklären?

Russlands Einmarsch in die Ukraine hat viele überrascht. Insbesondere europäische Regierungen und ihre Rüstungsindustrien waren jahrzehntelang auf Friedenszeiten ausgerichtet. Waffenbestände und Produktionskapazitäten wurden verkleinert, auch die Landesverteidigung vernachlässigt. Und auch wenn Russlands Krieg schon rund 12 Monate dauert, hat die Politik in vielen Ländern Europas ihre Rüstungspolitik nicht substanziell geändert.

Wie schwer sich die Staaten tun, sich auf die neue Lage einzustellen, sieht man am Beispiel Deutschlands. Kurz nach Kriegsbeginn verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz ein riesiges Bundeswehr-Sondervermögen, 100 Milliarden Euro extra für die Streitkräfte. Doch das Geld ist nicht für die laufende Munitionsproduktion oder Ersatzteile gedacht, sondern für ältere Projekte, die endlich realisiert werden sollen, um die Bundeswehr schlagkräftiger zu machen.

Doch auch dabei hakt es. Der Geschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, Hans Christoph Atzpodien, kritisiert im Deutschlandfunk (DLF), dass die Bundesregierung bislang kaum Bestellungen bei den Industrieunternehmen aufgegeben habe. Auf die sind die Rüstungsfirmen aber angewiesen: Kriegswaffen dürfen in Deutschland nur mit offiziellem Auftrag produziert werden. Wenn die Politik nun schnell Munition, Waffen und Ausrüstung bestelle, sagte Atzpodien, dann könne die deutsche Rüstungsindustrie auch deutlich hochgefahren werden. Davon könnte letztlich auch die Ukraine profitieren.

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In Vorleistung können Rüstungsfirmen zwar gehen und gewisses Material vorproduzieren, um nach Bestelleingang schnell liefern zu können. "Bildschirme für Panzer zum Beispiel sind erlaubt", aber eben keine direkt einsatzfähigen Kriegswaffen, sagt Verteidigungsexperte Christian Mölling. In Vorleistung seien Unternehmen bereits gegangen, sagte Lobbyvertreter Atzpodien dem DLF, "unendlich" ginge das aber nicht.

Welche Lösungen stehen im Raum?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Die Verbündeten der Ukraine können Militärexperte Mölling zufolge nun ihre eigene Munitionsproduktion hochfahren oder Munition auf dem Weltmarkt einkaufen. Russland hat es dabei schwerer, durch den Angriffskrieg sind ihm Partner verloren gegangen. "Es ist aber auch eine politische Entscheidung", sagt Mölling, Staaten müssten entscheiden, wie viel sie von eigenen Beständen abgeben wollen und wie viel sie zur eigenen Sicherheit zurückhalten wollten.

Die USA gehen auch andere Wege: So hat das Pentagon kürzlich ein bisher kaum bekanntes Munitionsdepot in Israel angezapft, berichtete die "New York Times" im Januar. Die Munition sei eigentlich dafür da gewesen, in möglichen Konflikten im Nahen Osten eingesetzt zu werden, so die Zeitung. Rund die Hälfte von rund 300.000 Artilleriegranaten, die für die Ukraine bestimmt sind, seien bereits dorthin geliefert worden. Auch aus einem US-Depot in Südkorea hat Washington bereits Munition umgeleitet. US-Offizielle warnen allerdings, dass auch die US-Auslandsdepots irgendwann erschöpft seien.

In Deutschland fordern Rüstungslobbyisten angesichts des desolaten Zustands der Bundeswehr insgesamt deutlich mehr Geld als das beschlossene Sondervermögen. Und auch der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, sagte t-online: "Die 100 Milliarden Euro reichen nicht. Wir müssen verstehen, dass unsere Sicherheit kostspielig ist."

Verteidigungsminister Boris Pistorius hat auch deshalb nach "Spiegel"-Informationen eine Aufstockung des Wehretats um zehn Milliarden Euro im Blick. Bei einem Gesamtvolumen von dann 60 Milliarden Euro solle es die nächsten Jahre bleiben, berichtet das Magazin. Andernfalls sei die von Kanzler Olaf Scholz angekündigte Modernisierung der Bundeswehr nicht zu schaffen, so die regierungsinterne Argumentation.

Doch ob das reicht, um nicht nur die Bundeswehr ausreichend auszurüsten, sondern auch die Ukraine mit Nachschub an Munition zu versorgen, ist fraglich.

Verwendete Quellen
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