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Epidemiologe zur Corona-Krise: "Es kann jederzeit eine zweite Welle entstehen"


Epidemiologe zur Corona-Krise
"Die Entwicklung der Pandemie steht durch die Lockerungen auf der Kippe"

InterviewVon Nicole Sagener

Aktualisiert am 13.07.2020Lesedauer: 6 Min.
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Schutz vor Covid-19: Weltweit gehört an vielen Orten der Mund-Nasen-Schutz zum Alltagsbild.Vergrößern des Bildes
Schutz vor Covid-19: Weltweit gehört an vielen Orten der Mund-Nasen-Schutz zum Alltagsbild. (Quelle: Amir Cohen/Reuters-bilder)

Die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland ist aktuell gering. Doch damit ist die Pandemie hierzulande noch nicht überstanden. Nachlässig zu werden, könnte schwere Folgen haben.

Durch die Lockerungen kann die Corona-Pandemie wieder schnell gefährlich an Fahrt aufnehmen, meint der Epidemiologe Markus Scholz. Im Interview mit t-online.de erklärt er, warum ein Ausbruch wie bei Tönnies für das ganze Land fatal sein kann und was uns erwartet, wenn kein Impfstoff gefunden wird.

t-online.de: Professor Scholz, wie schätzen Sie als Epidemiologe die aktuelle Entwicklung der Pandemie in Deutschland ein?

Prof. Markus Scholz: Im Vergleich mit den meisten anderen Ländern ist die Corona-Pandemie bei uns bisher sehr glimpflich verlaufen. Deutschland konnte durch die rechtzeitige Einleitung von Schutzmaßnahmen die Epidemie weitgehend zurückdrängen. Allerdings: Zurzeit steht die Entwicklung der Pandemie durch die Lockerungen auf der Kippe, es kann jederzeit eine zweite Welle entstehen. In anderen Ländern, die ähnlich reagiert haben, ist dieser Fall bereits eingetreten und wir müssen sehr wachsam sein, damit dies in Deutschland nicht auch passiert. Weitere Lockerungen können wir uns deshalb meiner Meinung nach kaum leisten.

Aber wann kann man eigentlich von einer zweiten Welle sprechen?

Das ist eine gute Frage. Ich würde von einer zweiten Welle sprechen, wenn es über zwei, drei Wochen einen exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen gibt. Unsere Modellvorhersagen sprechen dafür, dass sich eine zweite Welle langsamer entwickeln könnte und man somit bessere Reaktionsmöglichkeiten hat als beim ersten Mal. Durch die Entwicklung ist die Bevölkerung ja sensibilisiert, die meisten Menschen halten instinktiv Abstand, geben sich nicht mehr die Hand und so weiter.

Wie gefährlich können lokale Ausbrüche wie die beim Fleischfabrikanten Tönnies werden?

Der Ausbruch bei Tönnies war besorgniserregend, weil er recht spät entdeckt wurde und bereits hohe Infiziertenzahlen vorlagen. Wir hatten hier großes Glück, dass der Ausbruch lokal geblieben ist und das Virus nicht schon in die Bevölkerung getragen wurde. Es war deshalb richtig, zunächst mit einem weitgehenden Lockdown auf Kreisebene zu reagieren. Unsere Modelle zeigen, dass aus solchen Ereignissen eine zweite Welle entstehen kann, wenn diese zu spät entdeckt werden oder nicht adäquat darauf reagiert wird.

Ein lokaler Ausbruch kann also landesweit eine zweite Welle auslösen?

Ja. Wenn ein Ausbruch zu spät entdeckt wird, kann man die Infektionsketten nicht mehr nachvollziehen und das Risiko ist groß, dass das Virus durch Reisende ins ganze Land getragen wird. Wie schnell das gehen kann, sieht man zurzeit an Ländern wie Kroatien oder Israel. Israel etwa hatte die Epidemie durch einen strengen Lockdown fast komplett zurückgedrängt. Aber nach den Lockerungen ist die Situation wieder völlig gekippt. Das lehrt uns: Wir sollten die recht gute Situation in Deutschland nicht durch Unbedachtheit verspielen.

Worin unterscheidet sich Ihre Arbeit von der der Virologen?

Virologen haben vor allem die Biologie des Virus und Mechanismen der Übertragung im Blick. Wir nutzen dieses Wissen sowie Beobachtungsdaten, um die Entwicklung der Pandemie mithilfe mathematischer Modelle zu beschreiben und vorherzusagen.

Prof. Markus Scholz
Prof. Markus Scholz (Quelle: Universität Leipzig)

Prof. Markus Scholz
leitet am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE) der Universität Leipzig eine Arbeitsgruppe zur Genetischen Statistik und Systembiologie. Er beschäftigt sich mit molekularen Ursachen von komplexen Erkrankungen sowie mit deren Modellierung. Seine Arbeitsgruppe betreibt seit 15 Jahren Infektionsforschung und untersucht aktuell auch die Corona-Pandemie.

Wie genau erforschen Sie denn die Dynamik von Pandemien?

Wir schauen uns zum einen an, was im Körper genau durch Covid-19 geschieht, erforschen also, warum die durch das Coronavirus ausgelöste Erkrankung bei manchen Patienten leicht verläuft und bei anderen schwer oder sogar tödlich. Zum anderen erstellen wir mithilfe von Daten epidemiologische Modelle, um vorherzusagen, wie sich die Infizierten- und Todeszahlen in Abhängigkeit der eingeleiteten Maßnahmen entwickeln. Dafür vergleichen wir auch die Entwicklung der Pandemie in verschiedenen Ländern.

Die Corona-Pandemie ist noch jung – wie leicht ist es da überhaupt, Modelle aufzustellen?

Tatsächlich sind längerfristige Aussagen noch schwierig. Und: Dadurch, dass recht früh mehrere Maßnahmen gleichzeitig eingeleitet wurden und auch die Lockerungen häufig parallel erfolgen, können wir die Wirkung einzelner Maßnahmen aktuell schlecht abschätzen. Aus politischer Perspektive war ein möglichst schnelles Einführen oder Zurücknehmen von Einschränkungen aber völlig nachvollziehbar.

Sie haben auf Epidemien einen anderen Blickwinkel als Virologen. Wurde ihr Forschungszweig im Vergleich zur Virologie in der Corona-Krise zu wenig zurate gezogen?

In Deutschland beurteilen vor allem Virologen das Infektionsgeschehen, in manchen Ländern spielen Epidemiologen eine stärkere Rolle in der Beratung der Politik. So wurde zum Beispiel die Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.00 Einwohnern pro Woche eher politisch festgelegt als epidemiologisch motiviert. Trotzdem finde ich, dass die deutsche Politik im Vergleich zu anderen Ländern sehr gut und richtig reagiert hat.

Natürlich will die Politik klare Aussagen und unsere Modellprognosen sind hierfür oft noch zu unsicher. Ich habe aber die Hoffnung, dass sich dies mittelfristig ändern wird und epidemiologische Modellvorhersagen zukünftig stärker in politische Entscheidungsprozesse einfließen.

Wie optimistisch sind Sie, dass bei den gegenwärtigen Lockerungen Infektionsketten noch nachvollziehbar sind?

Die Nachvollziehbarkeit von Infektionsketten ist tatsächlich ein Problem, weil Gesundheitsämter dies im Falle lokaler Ausbrüche mit hohen Infiziertenzahlen kaum realisieren können. Tückisch an SARS-CoV-2 ist auch, dass Infizierte schon vor Beginn der Symptome besonders ansteckend sind. Wenn also jemand durch Symptome auffällig wird, hatte er häufig schon Kontakte mit mehreren Personen, die inzwischen auch schon wieder ansteckend sein könnten. Die Infektionsketten müssen deshalb nicht nur möglichst vollständig, sondern auch möglichst schnell nachvollzogen werden.

Welche Lockerungen bereiten Ihnen besonders Sorge?

Eine große Gefahr geht von den verstärkten Reiseaktivitäten aus. Es gibt ja aktuell viele Kreise, in denen über Wochen keinen neuen Fälle mehr aufgetreten sind. In diesen kann die Epidemie als ausgelöscht betrachtet werden. Theoretisch könnte man in diesen Kreisen also wieder ohne Einschränkungen leben – aber eben nur, wenn diese Regionen isoliert wären. Durch verstärkte Reiseaktivitäten kann es in diesen Kreisen jedoch jederzeit wieder zu neuen Einträgen des Virus kommen, die dann aufgrund der weitgehenden Lockerungen wieder zu neuen Ausbrüchen führen.

Mehrere Bundesländer diskutieren derzeit auch über die Abschaffung der Maskenpflicht. Was ist Ihre Meinung dazu?

Im Vergleich zu anderen Maßnahmen muss man ja sagen, dass die Maskenpflicht eine relativ geringe Einschränkung bedeutet. Und diese Vorsichtsmaßnahme bleibt sinnvoll – gerade, weil sonst schon an vielen Stellen gelockert wurde. Ich denke, wir sollten lieber diese kleinen Einschränkungen hinnehmen, als das Risiko zu vergrößern, dass wir durch viele Neuinfektionen wieder zu einem Lockdown zurückkehren müssen.

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Aus epidemiologischer Sicht wäre es aktuell schon denkbar, auf die Maskenpflicht in Kreisen zu verzichten, in denen über mehrere Wochen keine Fälle aufgetreten sind. Da aber stets Einträge von außen möglich sind, muss man auch weiterhin sehr wachsam sein und sollte deshalb zumindest bei großen Menschenansammlungen, bei denen der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann oder die sich in geschlossenen Räumen befinden, die Maskenpflicht beibehalten.

Können wir in der Corona-Pandemie von früheren Pandemien lernen, etwa von der Pest oder der Spanischen Grippe?

Von anderen Pandemien übernehmen wir vor allem Einsichten bezüglich der Mechanismen der Ausbreitung und der Wirkung von Maßnahmen wie dem "Social Distancing". Dafür ist die Spanische Grippe recht interessant, weil sie wie das Coronavirus alle Länder betroffen hat. Damals gab es aber – auch bedingt durch den Ersten Weltkrieg – in manchen Ländern kaum Maßnahmen zu "Social Distancing", in anderen Staaten wie den USA hingegen schon – jedoch mit unterschiedlicher Intensität. Dabei zeigte sich, dass Regionen, die solche Maßnahmen eingeleitet haben, wirtschaftlich besser aus der Krise gekommen sind.

Was passiert, wenn wir nie einen Impfstoff finden?

Aus meiner Sicht ist ein Impfstoff die einzige wirkliche Hoffnung auf vollständige Rückkehr zur Normalität in absehbarer Zeit. Denn mittlerweile zeigen die Infektionszahlen klar, dass wir eine Herdenimmunität wohl erst in mehreren Jahren erreichen werden. Selbst in Ländern wie etwa Spanien, die bereits stark betroffen waren beziehungsweise in Ländern wie zum Beispiel Schweden, die weniger intensive Maßnahmen ergriffen haben, wurde bei Weitem noch keine Durchseuchung erreicht.

Außerdem deuten neue Daten darauf hin, dass Genesene möglicherweise nicht dauerhaft immun sind. Aber ich bin hoffnungsfroh, dass recht schnell ein Wirkstoff gefunden wird. Ich glaube nicht, dass sich das Virus den gewaltigen Forschungsanstrengungen der Menschheit dauerhaft widersetzen kann.

Vielen Dank für das Gespräch!

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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