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Brexit-Abstimmung: Theo Waigel ohne Sorgen um EU-Fortbestand


Ex-Finanzminister im Brexit-Interview
Lösen die Briten eine Kettenreaktion aus?

Von t-online
Aktualisiert am 21.06.2016Lesedauer: 6 Min.
Ex-Finanzminister Theo Waigel: "Ihr schadet Euch selbst"Vergrößern des BildesEx-Finanzminister Theo Waigel: "Ihr schadet Euch selbst" (Quelle: Imago / Müller-Stauffenberg)
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Verlassen die Briten die Europäische Gemeinschaft? Zerbricht die EU? Und wer ist dafür verantwortlich? Fast zehn Jahre war Theo Waigel (CSU) Bundesfinanzminister unter Helmut Kohl. Er erschuf den Euro, war Miterbauer der EU und stemmte mit Kohl die Wiedervereinigung. t-online.de sprach mit Waigel über die Gefahren für die EU - und die Rolle seiner CSU.

Herr Waigel, wie ist Ihnen zumute, wenn Sie die EU in ihrem derzeitigen Zustand sehen?

Natürlich könnte es besser sein. Aber ich habe in der EU schon alle Situationen erlebt. Es war natürlich leichter, eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit sechs oder neun oder zwölf Mitgliedern zu haben, als eine mit fast 30.

Heute gibt es an allen Ecken und Enden Streit. Müssen wir uns Sorgen um das Fortbestehen der EU machen?

Nein. Den Streit hatten wir früher auch, nur nicht innerhalb der EWG, sondern wir hatten ihn in Europa und in der Welt. Die Ost-West-Auseinandersetzung der 60er, 70er und 80er Jahre ist heute gewichen - einem nicht immer harmonischen Zusammensein, aber doch von der Form her einer sachlicheren Auseinandersetzung als damals. Insofern ist es heute schwierig, eine so große Gemeinschaft zu führen. Trotzdem erfüllt sie ihren Zweck.

Und der wäre?

Das Allerwichtigste ist: Frieden in Europa zu schaffen. Das hat sie bisher geschafft. Das Zweite: In den Ländern, wo es bis vor 20 Jahren noch keine Demokratie gab, demokratische Verhältnisse herzustellen. Und: Als gebündelte Kraft in der Welt wahrgenommen zu werden.

Jetzt gibt es aber sehr viele, die das alles nicht mehr anerkennen wollen. In Großbritannien wird diese Woche über den Austritt aus der EU abgestimmt. Haben Sie einen Tipp für uns, wie es ausgeht?

Seit Sonntag glaube ich, dass es eine knappe Mehrheit gegen den Brexit gibt. Ich kenne die britische Situation zu wenig. Aber es wundert mich nicht ganz. Man muss die Vorgeschichte kennen und wissen, dass Winston Churchill 1946 bis 1950 dafür war, dass Großbritannien an einer europäischen Gemeinschaft teilnimmt. Später hat er das etwas relativiert. Insofern wundert es mich aber, dass sich Boris Johnson (der Anführer der Austritts-Kampagne, Anm.) immer seiner bemächtigt.

Was würden Sie den Briten sagen, die trotzdem aus der EU herauswollen?

Ich würde ihnen sagen: Ihr schadet Euch selbst. Und ich würde ihnen auch noch sagen: Es ist ein großer Verlust für Europa – auch ein Verlust für Deutschland, wenn ich das sagen darf, denn die Briten waren Stabilitätspartner. Sie haben zwar bei der Einführung der gemeinsamen europäischen Währung nicht mitgemacht. Aber am Gerüst und der Konstruktion haben sie maßgeblich mitgearbeitet.

Woher kommt der besondere britische Argwohn gegen die EU?

Es gibt zwei Traumata. Das erste: Als sie nach dem Scheitern der EFTA (die Europäische Freihandelsassoziation - eine 1960 gegründete Gegen-Organisation zu den entstehenden Europäischen Gemeinschaften, Anm.) zur EWG wollten, hat De Gaulle sein Veto eingelegt. Und ein Zweites: Als sie Anfang der 90er Jahre dem Europäischen Währungssystem beigetreten sind, haben sie das mit einem zu hohen Pfund-Kurs gemacht und mussten dann aufgrund der Spekulationen am Markt wieder aussteigen. Das hat zu einer ganz großen Verletzung der britischen Seele geführt. Das alles spielt heute in der Brexit-Diskussion noch mit.

Fürchten Sie eine Kettenreaktion, wenn die Briten austreten? Beispielsweise den Austritt der Niederlande oder Dänemarks?

Nein nein, da habe ich überhaupt keine Sorgen. Die sind sich alle sehr wohl dessen bewusst, was die EU für alle bedeutet und dass alle große Vorteile haben. Die würden ja dann sofort gegenüber dem Euro und den anderen Ländern eine untergeordnete Rolle spielen und eigentlich aus der Ferne, in Einzelverhandlungen akzeptieren müssen, was die Gemeinschaft vorher beschlossen hat.

Umfragen zeigen aber: Wenn man Franzosen und andere - durchaus auch Deutsche - fragen würde, dann würde es womöglich auch Spitz auf Knopf stehen. Woher kommt diese EU-Verdrossenheit Ihrer Meinung nach?

Bei einer solchen Entwicklung, wie sie heute stattfindet - also in der Globalisierung, mit offenen Märkten, was ja nicht mehr reversibel ist - da gibt es natürlich Gegenkräfte, die sagen: "Wir haben es doch früher übersichtlicher geregelt. Lasst uns zu Grenzen und nationalen Bestimmungen zurückkehren, dann seid Ihr wieder näher an der Entscheidung dran."

Was kann man denen antworten?

Man kann ihnen klipp und klar sagen, welche Nachteile entstehen: Wenn heute Deutschland aus der Währungsunion ausscheiden würde, dann hätten wir am nächsten Tag eine Aufwertung der D-Mark, die es dann wieder gäbe, um 20 bis 30 Prozent. Da kann sich jeder mal vorstellen, was das für unseren Export bedeuten würde, für den Arbeitsmarkt oder für den Bundeshaushalt.

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Rechtspopulisten verunglimpfen die EU als "Diktatur". Viele scheinen geneigt, solche Sprüche ernst zu nehmen. Was müssen Politiker tun, damit die EU nicht mehr so schlecht dasteht?

Ich glaube, dass die Politiker in allen Ländern zu wenig sachlich und positiv über die EU berichten. Zum Beispiel: Dass die Hilfsprogramme in Irland, in Spanien, in Portugal und in Zypern Erfolg hatten und diese Länder sich heute wieder am Kapitalmarkt bedienen können, nimmt kaum jemand zur Kenntnis. Oder die positiven Effekte, wenn man sich vorstellt, dass Deutschland heute trotz der Riesenlasten, die wir in der Vergangenheit durch die deutsche Wiedervereinigung und andere Faktoren getragen haben, ökonomisch wie politisch das stärkste Land in der EU ist: Wir stehen mit unserem Wachstum, unserem Arbeitsmarkt, mit der Jugendbeschäftigung glänzend da und sind das attraktivste und interessanteste Land für Investoren und für junge Leute.

Das scheint manchen nicht zu reichen.

Das müssen Politiker halt auch sagen. Wenn man die EU aber nur für alles Schlechte auf der Welt verantwortlich macht und dann in einer Minute sagt: "Aber dazu gibt es keine Alternative" - das überzeugt die Menschen nicht. Ich bin zum Beispiel ziemlich enttäuscht von der Jungen Union, der Jugendorganisation meiner Partei. Die haben sich seit Jahren überhaupt nicht mehr um Europa gekümmert, um alles Mögliche in der Welt, aber nicht mehr um Europa.

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Wo wir gerade davon sprechen: In der CSU gibt es auch viele, die Europa für alles Mögliche verantwortlich machen – angefangen beim Esperanto-Geld-Vorwurf in den 90er Jahren. Sehen sie da nicht eine Mitverantwortung?

Das mit dem "Esperanto-Geld" kam von Gauweiler. Gauweiler ist ein Solitär, der ist immer seinen individuellen Weg gegangen. Das kritisiere ich nicht, aber das war nie die Linie der Partei. Auch nicht zu dem Zeitpunkt, als er stellvertretender Parteivorsitzender war. Die CSU hat immer alle wichtigen Entscheidungen für Europa mitgetragen.

Sie sehen kein bisschen anti-europäischen Populismus bei der CSU?

Das hat es bei dem einen oder anderen gegeben. Aber insgesamt hat sowohl die Landesgruppe im Bundestag als auch die Staatsregierung im Bundesrat verantwortlich mitgearbeitet und Angela Merkel in ihrem Kurs unterstützt.

Wo sehen Sie die EU in weiterer Zukunft – sagen wir in 20 Jahren?

Ich halte nichts von den ganz großen Plänen. Das erste, was jetzt geplant werden muss, ist die Stabilisierung.

Also keine politische Einigung?

Bei der Forderung, die da von Frankreich oder woher auch sonst immer wieder erhoben wird, jetzt endlich die Vereinigten Staaten von Europa zur gründen - da sage ich: Dafür ist die Zeit nicht reif. Was man machen muss, ist das Gerüst, das bereits hergestellt wurde, zu festigen. Die Europäische Union ist eine Vertragsgemeinschaft. Es geht jetzt vor allem im Währungsbereich darum, die Regeln wieder einzuhalten, das Vertragsbündnis wieder zu festigen. Dann entsteht auch wieder Vertrauen und dann haben wir auch wieder eine andere Performance. Ich glaube, die Europäische Union müsste eine große Reformaufgabe angehen: Mit unabhängigen Sachverständigen zu überlegen, wo die Union einer Stärkung bedarf – beispielsweise in der Außen- oder Sicherheitspolitik. Zum anderen muss man aber auch realistisch die Frage angehen, wo man Kompetenzen wieder an die Mitgliedsstaaten zurückgeben kann.

Beispielsweise wo?

Zum Beispiel in der Agrarpolitik und in der regionalen Strukturpolitik. Wenn die EU einen Waldlehrpfad im Allgäu fördert, finde ich das großartig, aber das muss nicht die EU machen. Das soll der bayerische Wirtschaftsminister machen.

Die Fragen stellte Christian Kreutzer

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