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Heiko Maas vor der Europawahl: "Wir Politiker sind insgesamt manchmal zu selbstfixiert"


Außenminister Heiko Maas
Herr Maas, erreicht die Regierung die Menschen noch?

InterviewVon Tatjana Heid und Florian Harms

Aktualisiert am 25.05.2019Lesedauer: 8 Min.
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Außenminister Heiko Maas (Quelle: Yorck Maecke)

Kurz vor der Europawahl sagt Heiko Maas: Die Politik erreicht nicht mehr genügend Menschen. Ein Gespräch über unbequeme YouTuber, den Klimawandel und die Gefahr durch Rechtspopulisten.

Die Stimmung vor der Europawahl am Sonntag ist angespannt: SPD und Union müssen deutliche Verluste befürchten, junge YouTuber haben dazu aufgerufen, die Regierungsparteien ebenso wie die AfD bei der Wahl zu boykottieren, und im Europaparlament könnten rechtspopulistische Parteien eine noch stärkere Fraktion bilden als bisher schon.

Was sind die Gründe dafür? Unter anderem kommunikative Fehler, findet Außenminister Heiko Maas (SPD). "Viele von uns haben noch nicht erkannt, dass sie auch die Art, wie heute kommuniziert wird, digital und über soziale Medien, für die Politik nutzen können und müssen", sagt er. t-online.de hat mit ihm über die Europawahl und Europas Rolle in der Weltpolitik gesprochen:

t-online.de: Herr Maas, sollten die Grünen am Sonntag vor der SPD liegen, wie lange sind Sie dann noch Außenminister?

Heiko Maas: Es gibt viele gute Gründe, am Sonntag SPD zu wählen. Daher setze ich darauf, dass das nicht passiert. Im Übrigen ist das Ende der Legislaturperiode im Jahr 2021.

Anders gefragt: Was ist Ihre größte Sorge, wenn Sie auf die Wahl gucken? Ist es das Abschneiden der SPD oder das der AfD?

Meine größte Sorge ist, dass rechtspopulistische und nationalistische Parteien im Europäischen Parlament so stark werden, dass sie anfangen können, die Funktionsfähigkeit des Parlaments von innen zu gefährden. Angesichts der Probleme, die die EU ohnehin mit sich rumschleppt, hätte das gravierende Auswirkungen.

Haben Sie den Eindruck, dass die Menschen, die Sie mit Ihrem Wahlkampf ansprechen wollen, das verstehen?

Natürlich nicht alle. Aber vielen ist klar, dass es bei dieser Wahl um sehr viel geht. Es geht um das Für oder Gegen Europa. Es geht um die Zukunft der Europäischen Union.

Wenige Tage vor der Wahl schlägt das Video des YouTubers Rezo große Wellen, es wurde schon mehr als sieben Millionen Mal abgerufen, erreicht mehr Menschen als viele Wahlkampfformate der Parteien. Rezo wirft den großen Regierungsparteien vor: Alles, was ihr macht, ist falsch. Was denken Sie da?

Das beschäftigt mich natürlich. Auch wenn wir nicht alle Argumente teilen: Der größte Fehler ist, YouTuber oder auch die "Fridays For Future"-Demonstranten pauschal zu verunglimpfen oder ihnen das Recht abzusprechen, sich einzubringen. Im Gegenteil: Es zeigt doch, wie groß das Interesse vieler junger Menschen an Politik ist. Darüber sollten wir froh sein. Wir sollten sie und ihr Engagement sehr ernst nehmen.

In Rezos Video geht es vor allem um Klimapolitik. Der Vorwurf: Die großen Regierungsparteien sind nicht in der Lage, schnell die richtigen Antworten zu geben. So sehen das auch die "Fridays For Future"-Demonstranten. Warum schafft Deutschland es nicht, seine Klimaziele einzuhalten?

Weil wir permanent über den vermeintlichen Gegensatz von Klima, Wirtschaft und Industrie diskutieren. Dabei müssen wir es zusammen betrachten. Der ökologische Umbau der Industrie geht nicht schnell genug. Wir leben in Zeiten, in denen alle Herausforderungen – Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Migration – eines gemeinsam haben: Dass sie grenzenlos sind. Und in solchen Zeiten müssen wir weiträumig und langfristig denken. Wo ich übrigens mit Rezo einer Meinung bin: Bei der Klimainitiative von Macron hätte die Kanzlerin nicht abseits stehen dürfen, wir sollten bei denen sein, die aufs Tempo drücken.

Aber Sie sind doch Teil der Politik, der Bundesregierung. Sie könnten doch aufs Tempo drücken!

Ja, na klar, als Außenminister setze ich mich auch für das globale Denken ein. Ich habe etwa das Thema 'Klimawandel und Sicherheit' zu einem Schwerpunkt unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gemacht. Um auch denen auf der Welt klarzumachen, die das noch immer nicht so richtig wahrhaben wollen: Der Klimawandel ist real, er wirkt global. Und: Der Klimawandel wird immer mehr zur Gefahr, auch für den Frieden.

Haben Sie den Eindruck, dass Sie die Menschen mit der Politik der Bundesregierung überhaupt noch erreichen?

Wir erreichen nicht so viele, wie ich es für notwendig halte. Das hat auch was damit zu tun, wie wir Politik vermitteln – nämlich sehr konventionell, sehr althergebracht. Viele von uns haben noch nicht erkannt, dass sie auch die Art, wie heute kommuniziert wird, digital und über soziale Medien, für die Politik nutzen können und müssen. Und für noch kritischer halte ich, dass Rechtspopulisten in diesem Bereich teilweise besser aufgestellt sind. Wir müssen uns deutlich professioneller gegen die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen aufstellen.


Wie können die anderen Parteien, zum Beispiel Ihre SPD, diese kommunikativen Probleme in den Griff kriegen?

Es geht dabei gar nicht nur um eine einzige Partei. Wir Politiker sind insgesamt manchmal zu selbstfixiert. Parlamentarier machen Gesetze, man sucht sich Mehrheiten in der Partei, in der Fraktion, dann innerhalb der Regierung und dem Parlament. Dann wird das Gesetz beschlossen. Das war es dann, nächstes Gesetz. Das ist ein zu geschlossenes System. Für das, was wir tun, sollten wir immer auch um gesellschaftliche Akzeptanz werben. Dafür müssen wir offener und moderner kommunizieren.

Alles deutet darauf hin, dass Rechtspopulisten bei der Europawahl hinzugewinnen werden. Was bedeutet das für die europäische Zusammenarbeit?

Wenn die Rechtspopulisten und Nationalisten im Europäischen Parlament zu stark werden, sind sie in der Lage, Beschlüsse und Gesetzgebungsprozesse zu verhindern. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir dürfen nicht den gleichen Fehler machen wie viele Briten, als sie nicht zur Brexit-Abstimmung gegangen sind. Zu welchem Chaos das geführt hat, sehen wir ja gerade. Also: Wer Europa nicht den Nationalisten und Spaltern überlassen möchte, der muss am Sonntag zur Wahl gehen.

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Welche Schuld tragen die großen Parteien daran, dass die Rechtspopulisten überhaupt so stark werden konnten?

Da sollten wir schon selbstkritisch sein. Nehmen wir das Beispiel Italien: Wir haben Italien in Flüchtlingsfragen viel zu lange alleine gelassen. Die Diskussionen, die dadurch entstanden sind, haben den Rechtspopulisten dort sicher nicht geschadet.

Welche Probleme sollte die EU als erste nach der Wahl angehen?

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Wir werden unmittelbar nach der Wahl eine strategische Agenda auf den Weg bringen. Die legt die Schwerpunkte der kommenden Jahre fest: Digitalisierung, Klimawandel, Migration. Für mich gehört das soziale Europa ebenso zu den größten Herausforderungen – auch als Lehre aus dem erstarkten Rechtspopulismus. Die Menschen dürfen nicht den Eindruck haben, in der EU geht es nur um grenzenlose Warenströme, Bankenrettung und Großkonzerne. Wir müssen uns um einen europäischen Mindestlohn kümmern, um gemeinsame Standards bei der Mitbestimmung und bei den Arbeitnehmerrechten. Wenn wir neue Emotionen für Europa wecken wollen, müssen alle spüren: Der Mensch und nicht der Markt steht im Mittelpunkt unseres gemeinsamen Handelns.

Braucht Europa mehr Leidenschaft?

Ja, klar.

Naja, Sie haben eben „strategische Agenda“ gesagt...

... unter anderem ...

... das ist furchtbar technisch. Wer versteht das? Deswegen die Frage: Braucht Europa mehr Leidenschaft?

Ich nehme mal mich als Beispiel. Ich bin 1966 geboren, in Westdeutschland aufgewachsen. Nichts von dem, was mein Leben lebenswert macht – Demokratie, Rechtsstaat, Bürgerrechte –, musste sich meine Generation im Westen erkämpfen. Vielleicht sind viele von uns deswegen etwas bequem geworden. Doch jetzt werden all diese vermeintlichen Selbstverständlichkeiten bedroht, und zwar massiv. Wer in einer Welt der Selbstverständlichkeiten lebt, kämpft nicht mit Leidenschaft. Wenn wir Leidenschaft für Europa wecken wollen, müssen wir deutlich machen, was auf dem Spiel steht. Wir müssen uns klarmachen: Bei Europa geht es um unsere Freiheit und Demokratie.

Warum ist die Antwort der Bundesregierung dann so verhalten ausgefallen, als der französische Präsident Macron Anfang März seinen leidenschaftlichen Appell für einen Neubeginn Europas veröffentlicht hat?

Diese Frage höre ich in Deutschland oft: Warum reagiert ihr nicht offensiver? Im europäischen Ausland wird mir das Gegenteil gesagt. Da heißt es: Ihr wollt uns bevormunden. Ihr macht, was ihr wollt. Wir müssen euch folgen. Wenn wir Reformen in der EU durchsetzen wollen – und dafür hat Macron wertvolle Impulse gesetzt – dann sollten wir Deutschen nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit einer ausgestreckten Hand durch Europa laufen.

Sie selbst werben ja für ein starkes Europa. Wie sähe das denn aus?

Wir leben in einer Konkurrenz der Großmächte, vor allem zwischen den USA und China, aber auch Russland. Kein einziges europäisches Land ist groß und bedeutend genug, in diesem Wettbewerb eine Rolle zu spielen. Das können wir nur gemeinsam als Europäer. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir zum Spielball von anderen. Deswegen brauchen wir ein starkes, einiges Europa, das selbstbewusst und souverän unsere Interessen vertritt.

Gibt es überhaupt noch eine beständige Zusammenarbeit mit den USA? Man hat den Eindruck: eine Twitter-Nachricht von Donald Trump – und die EU kommt ins Rotieren.

Ganz so dramatisch ist es nicht. Wir arbeiten nach wie vor gut mit dem State Department zusammen. Mike Pompeo wird kommende Woche in Berlin sein. Die USA haben schon immer auch Entscheidungen getroffen, die wir nicht richtig fanden. Früher haben wir allerdings intensiver miteinander darüber gesprochen. Heute erfahren wir manches erst aus Trumps Tweets. Und bisweilen scheint es so, dass nicht nur internationale Partner davon überrascht werden, sondern auch Mitglieder seiner eigenen Regierung.

Den Eindruck haben wir auch. Nun planen Trump, Bolton und Pompeo möglicherweise einen Militärschlag gegen den Iran. Was würde das für den Nahen Osten bedeuten?

Sowohl die USA als auch der Iran versichern, dass sie keinen Krieg wollen. Beide Seiten wissen, was das bedeuten würde: Es würde eine lange, schreckliche Auseinandersetzung, die zu einem Flächenbrand in der gesamten Region führen könnte. Die größte Gefahr im Moment besteht darin, dass die Spannung so groß ist.

Also die Gefahr eines „Krieges aus Versehen“?

Die Lage ist deswegen so brandgefährlich, weil auch unvorhergesehene Ereignisse zu einer Eskalationsspirale führen können. Wir haben bereits einzelne Sabotageakte erlebt. Das kann in der momentan angespannten Situation zu einer weiteren Eskalation und einem militärischen Konflikt führen. Deswegen bemühen wir uns, sehr intensiv mit allen Seiten zu reden, und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir schnell Kommunikationskanäle haben, wenn irgendetwas Unvorhergesehenes passiert. Deeskalation ist jetzt nötiger denn je. Das erwarten wir von allen Beteiligten.

Aber wie groß ist der Einfluss der europäischen Außenpolitik in einem solchen Konflikt überhaupt noch?

Je mehr wir gemeinsam als Europäer agieren, desto höher ist unsere Durchsetzungskraft. Und wir stehen beim Atomabkommen als Europäische Union sehr geschlossen zusammen. Deswegen können wir dem Iran gemeinsam unsere klare Erwartung verdeutlichen: Gerade weil wir dem Iran misstrauen, werden wir Europäer daran arbeiten, das Abkommen zu erhalten.

Ist das Atomabkommen noch zu retten?

Wir müssen das sehr realistisch sehen: Ein Jahr nach dem Ausstieg der USA wird es nicht einfach sein, das Abkommen zu retten. Die wirtschaftlichen Vorteile, die sich der Iran durch das Abkommen versprochen hat, werden nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten nur sehr schwer zu erreichen sein. Wir werden dennoch dafür kämpfen. Die Welt ist mit diesem Abkommen sicherer als ohne. Wir Europäer erfüllen unsere Verpflichtungen, erwarten das aber ganz genauso vom Iran.

Wenn das Atomabkommen scheitert, wäre das der Punkt, an dem sich die EU ihre eigene Schwäche eingestehen müsste?

Das finde ich überhaupt nicht. Es wird ja viel über die Uneinheitlichkeit von Europa gesprochen, aber das Atomabkommen hat gezeigt, dass die EU sehr geschlossen ist, und zwar unter außerordentlich schwierigen Bedingungen. Selbst wenn das Abkommen scheitern sollte, werden wir auf diese europäische Geschlossenheit aufbauen können.


Zum Schluss noch einmal zurück nach Europa: Warum sollten Bürger am Sonntag wählen gehen?

Europa ist die Antwort auf alle großen Herausforderungen unserer Zeit. Ob Klimawandel, Migration oder Digitalisierung – das kann kein Land in Europa allein gestalten. Das schaffen wir nur gemeinsam. Es geht auch um die Art und Weise, wie wir zusammenleben, es geht um unsere Grundwerte. Die sind die Grundlage der Europäischen Union. Und ich will nicht, dass diese beschädigt werden. Wir dürfen Europa nicht den Nationalisten und Angstmachern überlassen. Deswegen hoffe ich, dass viele Menschen zur Wahl gehen. Es geht um nicht weniger als die Zukunft Europas.

Herr Außenminister, vielen Dank für das Gespräch.

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