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EU-Beitritt der Ukraine? Macht jetzt bloß keinen folgenschweren Fehler!


EU-Beitritt der Ukraine
Macht jetzt bloß keinen folgenschweren Fehler!

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 13.06.2022Lesedauer: 4 Min.
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Ursula von der Leyen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: Die EU-Kommissionschefin besuchte Kiew schon zwei Mal.Vergrößern des Bildes
Ursula von der Leyen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: Die EU-Kommissionschefin besuchte Kiew bereits zum zweiten Mal. (Quelle: ZUMA Press/imago-images-bilder)

Die Ukraine will im Schnellverfahren in die Europäische Union aufgenommen werden. Dieser Wunsch ist angesichts der dramatischen Lage zwar verständlich. Trotzdem dürfen wir ihn auf keinen Fall erfüllen.

Wenn sich Ursula von der Leyen einer Sache annimmt, dann ist in der Regel Gefahr im Verzug, mindestens aber Wachsamkeit geboten. Die deutsche EU-Kommissionspräsidentin hat in ihrem Auftritt und Handeln stets einen Hang zum Bombast und Superlativ.

Es ist ein bisschen wie bei Goethe im Angesicht der Kanonade von Valmy, einer vergleichsweise unwichtigen Schlacht zu Zeiten der Französischen Revolution, der er dennoch in seiner Autobiografie "Dichtung und Wahrheit" die Bedeutung einer Epochenwende zuschrieb. Weil er eben zugegen war und dem Ereignis kraft seiner Person Größe verlieh.

Die Ukraine will auf die Überholspur

Die Dinge, um die sich von der Leyen kümmert, sind ebenfalls schon deswegen extraordinär, weil sie sich um sie kümmert. Green Deal, Corona-Fonds, Ukraine-Hilfe – alles wird groß unter ihren Händen. Alles ist immer größer, bedeutender, epochaler, wenn sie Regie führt.

Christoph Schwennicke ist Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Corint Media. Er arbeitet seit mehr als 25 Jahren als politischer Journalist, unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung" und den "Spiegel". Zuletzt war er Chefredakteur und Verleger des Politmagazins "Cicero".

Daher gab es Anlass zur Sorge – und dann aber auch für eine gewisse Erleichterung –, als die Kommissionspräsidentin nach Kiew reiste, um dort mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj über den Aufnahmeantrag des Landes in die Europäische Union zu sprechen. Die Ukraine wünscht sich einen Beitritt im Eilverfahren, eine Aufnahme auf der Überholspur, vorbei an der Kolonne all jener, die schon seit Jahren darauf warten, in den Kreis der 27 Staaten der EU aufgenommen zu werden.

Dieser Wunsch der Ukraine ist grundsätzlich verständlich, erst recht in der furchtbaren Lage, in der sich das Land durch den Aggressor Russland befindet. Und trotzdem: Es darf diesem Wunsch nicht stattgegeben werden.

Durchwoben von Korruption und Oligarchentum

Dem Land gebührt jedwede mögliche Unterstützung des Westens, der Nato und der EU. Es ist auch selbstverständlich, auf welcher Seite man als demokratisches Land oder Länderverbund mit Respekt vor der territorialen Integrität von Staaten in diesem Krieg steht.

Der Umstand, dass die Ukraine auf das Fürchterlichste angegriffen wird, dass Tod, Leid, Zerstörung und Vertreibung über sie gekommen sind, macht sie aber nicht zu einem Musterland von pluraler Demokratie, Freiheit und funktionierender Marktwirtschaft. Das riesige Land mit seinen über 40 Millionen Einwohnern ist größer als Frankreich und ebenso wie Russland durchwoben von Korruption und Oligarchentum.

Die Ukraine ist zunehmend europäisch ausgerichtet und affiner gegenüber dem Westen als dem Osten. Die Tapferkeit und der Behauptungswille des Landes sind bewundernswert. Sie wurzeln aber auch in einem Nationalismus, der mit einem supranationalen Gebilde wie der EU leicht in Konflikt geraten kann.

Die lange Schlange der Wartenden

Selenskyj weiß genau um diese nicht ganz so angenehmen Seiten seines Landes. Als Schauspieler hat er in der Präsidenten-Persiflage "Diener des Volkes" all das witzig auf den Punkt gebracht. Bei der realen Ukraine kann man über diese Eigenschaften aber weder lachen noch hinwegsehen.

Um beim Nationalismus zu bleiben: Es ist jetzt schon so, dass sich die EU mit jüngeren osteuropäischen Mitgliedern wie Polen und Ungarn, teilweise auch Tschechien, schwertut. Sie möchten die Vorzüge des Bündnisses zwar mitnehmen, ihr Nationalismus ist aber nicht bereit, zum Nutzen aller hier und da eigene Interessen hintanzustellen und den strategischen Mehrwert des Wertekerns der Staatengemeinschaft zu erkennen.

So sehr und so vergeblich man sich wünschte, dass dieser Tage die Schweiz und Norwegen an die Tür in Brüssel klopften wie Schweden und Finnland an die Tore der Nato, so lang ist stattdessen die Schlange der bereits Wartenden. Sie halten von diesen Problemen für das Bündnis ebenfalls einige bereit.

Es wäre eine völlig andere EU

Der Zufall fügte es, dass Bundeskanzler Olaf Scholz zeitgleich mit von der Leyens Kiew-Trip zu den Wartenden auf den Westbalkan reiste, um mit mehreren Ländern dort über eine realistische Beitrittsperspektive und die noch zu machenden Hausaufgaben zu sprechen.

Die Region ist aber derart von ethnischen Spannungen und Nationalismen durchtränkt, dass die Reise zu scheitern drohte, weil sich Bulgarien und Nordmazedonien spinnefeind sind – und Serbien nicht daran denkt, sich der brüderlichen Umarmung Russlands zu entziehen und die EU-Sanktionen mitzumachen.

Allein die Aufnahme dieser teilweise über ein Jahrzehnt wartenden Länder würde der EU eine weitere Schlagseite geben, die nicht im Sinne ihrer Gründer ist. Käme dann noch eine Ukraine im Expressverfahren dazu oder diesen Ländern möglicherweise zuvor, wäre es für das Bündnis kaum mehr möglich, die jetzt schon zerrenden inneren Fliehkräfte im Zaum zu halten. Es wäre eine völlig andere EU. Wenn es noch eine wäre.

Daher war es beruhigend, dass Ursula von der Leyen ihrem Hang zum Bombast und Superlativ nicht erlag, sondern ihrem Gastgeber vor Augen führte, dass noch ein längerer Weg mit einer langen "To-do-Liste" vor dem kriegsgeplagten Land liegt.

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Zehn Jahre wären noch immer ambitioniert

Aber noch während von der Leyen in Splitterschutzweste durch die ukrainische Hauptstadt eilte, meldete sich der stets auf Gefälligkeit achtende Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber, zu Wort. Sinngemäß sagte er, dass der Ukraine doch Sonderkonditionen eingeräumt werden sollten. Auf den in dieser Hinsicht ebenso notorischen Außenminister Luxemburgs, Jean Asselborn, wird man diesbezüglich vermutlich auch nicht lange warten müssen.

Es ist daher gut, dass sich demnächst eine hochrangige Delegation der Realisten auf den Weg nach Kiew macht, um dort über diese und andere Fragen zu sprechen. Bundeskanzler Scholz, der italienische Ministerpräsident Mario Draghi und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben sich als gemeinsame Besucher angemeldet. Es ist Macron hoch anzurechnen, dass er von Beginn der Debatte an überschießende Hoffnungen eingedämmt hatte und von einem Zeitraum von zehn Jahren gesprochen hat.

Das wäre, gemessen an der Dimension eines Beitritts der Ukraine, immer noch enorm schnell und ambitioniert.

Hier finden Sie alle Kolumnen von Christoph Schwennicke.

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