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Ukraine-Krieg: "Putin zeigt deutliche Anzeichen eines Kontrollverlusts"


"Putin zeigt Anzeichen eines Kontrollverlusts"

Von Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 01.12.2022Lesedauer: 11 Min.
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Wladimir Putin: Russland muss diesen Krieg verlieren, sagt Historiker Timothy Snyder.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russland muss diesen Krieg verlieren, sagt Historiker Timothy Snyder. (Quelle: Mikhail Tereshchenko/TASS)

Russlands Armee scheitert am Widerstand der Ukrainer. Wann wird Wladimir Putin den Krieg beenden? Dazu braucht es vor allem eins, erklärt der Historiker Timothy Snyder im Interview.

Westliche Politiker sehnen ein Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine herbei – und fürchten es zugleich. Denn das riesige Russland mit seinen Atomwaffen könnte selbst im Chaos versinken, wenn Wladimir Putins Macht schwindet, so die Befürchtung. Der Historiker Timothy Snyder, einer der führenden Intellektuellen der USA, sieht das ganz anders: Russland muss diesen Krieg zu seinem eigenen Besten verlieren. Denn sonst könnte sich das Land niemals von seinem imperialen Wahn verabschieden.

Warum der ausdauernde Widerstand der Ukraine die Welt sicherer macht, die westliche Furcht vor Putins Atomdrohungen an Peinlichkeit grenzt und auch der Kreml bei den Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten eine Niederlage erlitt, erklärt Snyder im t-online-Gespräch.

t-online: Professor Snyder, das Jahr neigt sich dem Ende zu, die russische Armee hat in der Ukraine ein Desaster erlebt. Welche Auswirkungen haben die Fehlschläge auf Putins Macht?

Timothy Snyder: Eine Tatsache wird umso deutlicher, je länger der Krieg dauert: Putin beherrscht Russland keineswegs uneingeschränkt. Es gibt andere mächtige Akteure, die ihre Interessen ebenfalls durchsetzen wollen.

Wen genau meinen Sie?

Zum Beispiel den Oligarchen Jewgeni Prigoschin, auch bekannt unter dem Spitznamen "Putins Koch": Er ist Gründer und Finanzier des angeblich privaten Militärunternehmens "Gruppe Wagner", das eigentlich eine Söldnertruppe in Diensten des Kremls ist. Deshalb will Prigoschin, dass der Krieg weitergeht. Für ihn sind die Kämpfe die beste Werbung, er nutzt den Krieg, um sich zu profilieren. In Moskau herrscht ein Konflikt um Macht und Einfluss.

Wer intrigiert gegen wen?

Unser Wissen über das Machtgefüge im Kreml ist leider beschränkt. Aber Prigoschin und seine Söldner konkurrieren mit den Streitkräften.

Der Inlandsgeheimdienst FSB hat zu Beginn des Kriegs ein schlechtes Bild abgegeben: Seine Mitarbeiter sollen der Kremlführung eine prorussische Einstellung in weiten Gebieten der Ukraine vorgeschwindelt haben – was sich dann als Illusion erwies.

Der FSB berichtete Putin das, was Putin hören wollte. So ist das in einer Diktatur, in der sich der starke Mann innerhalb einer Echokammer befindet. Die Informationen basierten offenkundig eher auf Ideologie als auf Fakten.

Wie lange wird der Krieg voraussichtlich noch dauern?

Wenn Putin seine Position im Kreml gefährdet sieht – genau dann wird der Krieg enden. Falls Putin die Bedrohung rechtzeitig erkennt. Viel hängt davon ab, ob er dazu noch das nötige Maß an politischer Sensibilität besitzt. Im Umkehrschluss tun die Ukrainer genau das Richtige, indem sie weiterkämpfen und Territorium für Territorium zurückerobern. Denn das ist das Einzige, was Putin unter Druck setzt: dass die Niederlagen in der Ukraine ihm ein Gefühl der Gefährdung seiner Machtposition in Russland vermitteln. Für ihn ist es schlimm, in der Ukraine zu verlieren. Aber es ist noch weit schlimmer, in Russland zu verlieren.

Timothy Snyder, geboren 1969, lehrt Geschichte an der Yale University im US-Bundesstaat Connecticut und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Snyder ist einer der führenden Intellektuellen der USA, als Historiker hat er vor allem die Geschichte Osteuropas und des Holocaust erforscht. Sein Buch "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin 1933–1945" avancierte zum Bestseller, im Juli 2022 erschien es in einer erweiterten Neuauflage. Es ist eines von sechs Büchern, in denen sich Snyder mit der Ukraine und ihrer Geschichte auseinandersetzt. Zurzeit hält der Historiker eine offene Vorlesung zu diesem Thema, die erste Folge finden Sie hier.

Vor allem ultranationalistische Hardliner üben massiven Druck auf Putin aus, etwa in den russischen Medien.

Richtig. Das Lager der Kritiker ist allerdings gespalten. Auf der einen Seite stehen die Falken, die behaupten, Russland würde den Krieg schon gewinnen, wenn die Armee erst einmal "richtig" zu kämpfen beginnen würde. Auf der anderen Seite stehen jene, die es für unsinnig halten, nun alle verfügbaren Ressourcen gegen die Ukraine aufzuwenden. Sie fürchten um Russlands Zukunft, wenn sich Staat und Armee völlig verausgaben. Zwischen diesen beiden Polen der öffentlichen Meinung muss Putin taktieren.

Im Westen wird angesichts der undurchschaubaren Machtverhältnisse in Russland wieder verstärkt die sogenannte Kreml-Astrologie betrieben. Was halten Sie davon?

Putin zeigt deutliche Anzeichen eines Kontrollverlusts. Anfangs hat er immer nur von einer "militärischen Spezialoperation" gegen die Ukraine gesprochen, das Wort "Krieg" sogar verbieten lassen. Mittlerweile ist der Einsatz auch offiziell zu einem Krieg ausgeartet. Der zweite Fehler betraf die Teilmobilisierung: Die wollte Putin eigentlich unbedingt vermeiden, musste sie angesichts der Rückschläge dann aber doch ausrufen. Das war als Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Fraktionen im russischen Regierungsapparat gedacht, aber es verriet die Schwäche des Präsidenten. Seinen dritten großen Fehler machte Putin Ende September, als er die Separatistenführer von Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson als russische Marionetten die Annexionsverträge unterzeichnen ließ.

Damals verkündete Putin in einer Rede im Kreml, dass diese Gebiete nun auf ewig russisch sein würden.

Und was geschah? Wenige Wochen später stand die ukrainische Armee wieder in der Stadt Cherson. Spätestens seit diesem Ereignis ist klar, dass auch Putin den Zwängen der Realität unterliegt. Nicht so wie 2014, als er sich die Krim nahm und damit durchkam. Jetzt kann jeder sehen, dass Russland die eroberten Gebiete auf Dauer nicht sichern kann und dass Putins Ideologie keinerlei Überzeugungskraft für die Menschen in den besetzten Regionen entfaltet. Unter Druck muss Putin nun jeden Tag Entscheidungen fällen, die er nicht fällen will. Im Moment scheint er zumindest den Donbass unter seine Kontrolle bringen zu wollen, um eine Art Sieg verkünden zu können. Aber ihm fehlen schlichtweg die nötigen Kräfte, um dieses Ziel zu erreichen.

Putin hat dem Westen immer wieder mit den russischen Atomwaffen gedroht. Sind diese Drohungen ernst zu nehmen?

Putins Drohgebärden wird viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als sie verdienen. Ein russischer Atombombeneinsatz ist sehr, sehr unwahrscheinlich.

Warum?

Erstens, weil es relativ wenig militärischen Gewinn verspricht. Zum Zweiten ist vollkommen klar, dass nicht nur der Westen, sondern auch China einen solchen Schritt vehement ablehnt. Und drittens wäre der Einsatz einer Atomwaffe das Eingeständnis, dass der Krieg für Putin verloren ist. Wir müssen zudem seine Persönlichkeit berücksichtigen: Er macht sich große Sorgen darüber, wie sich die Nachwelt einmal an ihn erinnern wird. Auch Putin will keineswegs, dass sein einziges "Vermächtnis" im Einsatz einer Nuklearwaffe besteht. Nicht zuletzt funktioniert die Abschreckung durchaus: Der Westen kann Dinge geschehen lassen, die in Russland sehr unerwünscht wären. Auch ohne selbst mit Nuklearwaffen reagieren zu müssen.

Putins Atomdrohung ist also schlichtweg ein psychologischer Trick – und nicht einmal ein besonders einfallsreicher –, um etwa Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden von Hilfsleistungen für die Ukraine abzuhalten. Eigentlich ist diese gesamte Diskussion darüber im Westen beschämend.

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Wie meinen Sie das?

Auch hier gibt es mehrere Gründe. Erstens führt diese Darstellung der Ereignisse dazu, dass wir eine offensichtliche und überaus wichtige Folge des ukrainischen Widerstands gegen Russland übersehen. Und zwar die unbestreitbare Tatsache, dass dadurch das Risiko eines Atomkriegs zu unseren Lebzeiten ernsthaft verringert wurde. Erinnern wir uns, was die kleinen und großen Szenarien eines möglichen Nuklearkrieges vor Beginn des Krieges waren. Ersteres bestand in einem russischen Angriff auf ein europäisches Land, der eine Reaktion der Nato nach sich gezogen hätte – und dann in eine wirklich bedrohliche Eskalation gemündet wäre. Die Ukrainer haben ein solches Szenario aber in naher Zukunft so gut wie unmöglich gemacht. Warum? Weil sie einen Großteil der russischen Armee zerstört und deren Schwächen offengelegt haben.

Das zweite Szenario betrifft wahrscheinlich den Konflikt zwischen der Volksrepublik China und Taiwan?

Genau. Als Hauptszenario wurde eine chinesische Invasion in Taiwan befürchtet, die dann eine amerikanische Reaktion nach sich ziehen würde. Aber wieder einmal hat der ukrainische Widerstand ein solches Szenario viel unwahrscheinlicher gemacht. Die Chinesen sehen jetzt, dass der Westen zu einem sinnvollen Sanktionsregime fähig ist. Und vor allem sehen sie, wie schwierig eine solche Offensivoperation für sie wäre. Im weitesten Sinne hat der Widerstand der Ukraine die Welt viel sicherer gemacht. Aber kaum jemand würdigt diese Tatsache, weil wir viel über uns selbst und unsere momentanen Ängste nachdenken. Aus den genannten Gründen ist es sehr peinlich für uns im Westen, dass wir uns als Opfer dieses Krieges positionieren.

Was Wladimir Putin mit seinen Atomdrohungen durchaus in die Hände spielt.

Leider, ja. Genau diese von ihm geschürte Furcht vor einem möglichen Atomschlag gegen den Westen führt dazu, dass wir uns selbst als Opfer der russischen Aggression betrachten. Dabei sind nicht die Amerikaner und nicht die Briten, Franzosen oder Deutschen die Opfer dieses Krieges, sondern die Ukrainerinnen und Ukrainer. Bei uns im Westen gibt es keinen Vernichtungskrieg, wie ihn Russland gegen die Ukraine führt. Stattdessen sollte uns bewusst sein, dass wir im Westen durch Waffenlieferungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, dass dieser Konflikt beendet wird.

Auch schwere Waffen wie Kampfpanzer?

Selbstverständlich. Wenn es hilft, die russische Armee schnell zu besiegen. Die Ukrainer benötigen dringend auch Langstreckenwaffen, um alle russischen Stellungen in der Ukraine angreifen zu können. Das ist der Weg, diesen Krieg so schnell wie möglich mit möglichst wenigen Opfern zu beenden.

Zu Beginn des Krieges rechneten westliche Politiker und Experten hingegen mit einem schnellen russischen Sieg. Wie ist es der ukrainischen Armee gelungen, den Invasoren so erfolgreich zu widerstehen?

Unsere Wahrnehmung dieses Krieges basierte auf tiefliegenden, unausgesprochenen Annahmen über die beiden Länder Russland und Ukraine. Zu lange Zeit haben zu viele Menschen im Westen das russische Geschichtsnarrativ bedauerlicherweise ernst genommen, dass die Ukraine irgendwie keine richtige Nation sei. Daher waren wir im Westen zunächst nicht in der Lage, die wahren Stärken zu erkennen, die die Ukraine in den letzten dreißig Jahren entwickelt hat: Eine davon ist die beeindruckende Zivilgesellschaft, die das Land heute auszeichnet. Nun führt die russische Armee einen Angriffskrieg gegen diese Ukraine – und einen solchen Krieg zu führen, ist keineswegs einfach: Man kämpft auf fremdem Gebiet, die Verteidiger wehren sich mit allem, was sie haben, und die Zivilbevölkerung ist feindlich eingestellt.

Die ukrainische Zivilgesellschaft unterstützt die Armee zudem auf beeindruckende Weise.

Dass die ukrainische Zivilgesellschaft nach wie vor intakt ist, ermöglicht diesen effektiven Rückhalt der Soldaten durch die Bürgerinnen und Bürger. Da der ukrainische Staat zudem dezentralisiert ist, konnten lokale Kommandeure immer wieder die Initiative ergreifen. Dazu kommen die operative Intelligenz und die hohe Kampfmoral der ukrainischen Streitkräfte. Ich betone nochmals: Die politische und militärische Führung der Ukraine erhält immer noch nicht genug Anerkennung für das, was sie vollbracht hat. Wenn die Ukraine siegt, würde das Russland langfristig sogar helfen.

Wie das?

Nur eine militärische Niederlage kann in Russland die dringend notwendigen Reformen anstoßen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Russland diesen Krieg verliert. Die russische Geschichte zeigt, dass vor allem nach Niederlagen Veränderung möglich wurde: So war es nach dem verlorenen Krimkrieg 1856, so war es nach der Niederlage gegen Japan 1905. Warum also nicht auch nach einem verlorenen Krieg gegen die Ukraine 2023 oder 2024? Dies ist eine grundlegende Erkenntnis der modernen europäischen Geschichte: Die erfolgreichen rechtsstaatlichen Demokratien in Europa, beginnend mit Deutschland selbst, entstanden nach eindeutigen militärischen Niederlagen, die sie in imperialen Kriegen erfahren haben.

Wären Reformen in Russland überhaupt möglich, wenn Putin an der Macht verbleibt?

Das ist nicht die richtige Frage, denke ich. Denn Putin hat sich mit Kriegsbeginn der Logik des Schlachtfelds ausgeliefert. Wenn er dort verliert, muss er sich der Macht des Faktischen ergeben. Und wie Putin müsste es auch die russische Bevölkerung tun. Nehmen wir Deutschland im Jahr 1942: Damals führte Ihr Land einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Niemand hätte es damals für möglich gehalten, dass wenige Jahrzehnte später ein wiedervereintes Deutschland die wichtigste europäische Demokratie sein würde. Wie war das möglich? Weil Deutschland den Zweiten Weltkrieg nicht nur verloren hat, sondern die Deutschen diese Tatsache auch akzeptiert haben. Nur so war der demokratische Wandel möglich.

Lässt sich das Nachkriegsdeutschland wirklich mit dem Russland von heute vergleichen?

Es gibt durchaus Parallelen. Wenn wir die eigentlich aussichtslose Lage Deutschlands in den Kriegsjahren 1943, 1944 und sogar noch 1945 betrachten, ist es erstaunlich, wie viele Deutsche damals noch an Adolf Hitler und an einen Sieg glaubten. Es war tatsächlich die verheerende Niederlage, die den Bann brach. Und diese Niederlage, das betone ich, erlitt Deutschland in einem Kolonialkrieg.

Den Deutschland mit äußerster Brutalität auch auf dem Gebiet der damals sowjetischen Ukraine führte.

Genau. Die Deutschen vergessen gerne, worin Hitlers Hauptziel bestand – nämlich die Kontrolle über die ukrainische Lebensmittelversorgung zu erringen. Hitler machte damals einen ähnlichen Fehler wie Putin heute: Aufgrund ideologischer Vorannahmen kam er zu dem Fehlschluss, dass der gegnerische Staat, in diesem Fall die Sowjetunion, schnell zusammenbrechen würde. Nun hat sich Deutschland seiner verbrecherischen Vergangenheit in einem bemerkenswerten Ausmaß gestellt – und tut das heute noch. Russland hingegen hat sich niemals ausführlich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinandergesetzt. Deshalb verhält sich Putin bis heute als brutaler Kolonialist: Er betrachtet die Ukraine als Objekt seiner kolonialen Gewaltphantasien. Damit muss Schluss sein.

Letztlich muss Russland also ein postkolonialer Staat werden, der sich den Schattenseiten seiner eigenen Geschichte stellt?

Was der Amateurhistoriker Putin übersehen hat, ist die Tatsache, dass die Geschichte aufseiten der Ukrainer steht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlitten die USA eine Niederlage in Vietnam, die Franzosen wurden in Algerien geschlagen: Mächtige Staaten wurden von kleinen besiegt. So wird es nun auch Russland in der Ukraine aller Wahrscheinlichkeit nach ergehen. Es kann in Russland weder ein Rechtsstaat noch eine lebendige Zivilgesellschaft entstehen, solange alles der Wiederrichtung des Imperiums untergeordnet und dem verlorenen Kolonialreich nachgetrauert wird. Solange die öffentlichen Debatten, mit den Kremlmedien an der Spitze, nur davon handeln, wie verachtenswert der Westen und die Ukraine seien, wird kein Wandel möglich sein. Und erst recht keine Demokratisierung.

Wie der Westen sich im Ukraine-Krieg weiter verhält, hängt vor allem von den USA ab. Dort waren die Kongresswahlen für die Republikaner und insbesondere für Donald Trump enttäuschend.

Es war aber ohne jeden Zweifel auch ein schlechter Tag für Putin. Er hatte sich von einer republikanischen Mehrheit im Kongress selbstverständlich eine Reduzierung oder gar eine Einstellung der US-Militärhilfe für die Ukraine erhofft. Stattdessen wurde es ein guter Tag für die Demokratie. Es hat sich gezeigt, dass Menschen wie Donald Trump, die die Ergebnisse freier Wahlen leugnen, in den USA doch eher unbeliebt sind.

Nun hat Trump allerdings seine Kandidatur bei der nächsten Präsidentschaftswahl angekündigt. Trauen Sie ihm eine weitere Amtszeit im Weißen Haus zu?

Trumps Karriere dürfte beendet sein, er will es nur nicht wahrhaben. Die Midterms haben den Republikanern deutlich gezeigt, wie schwierig es im Moment für sie wäre, eine nationale Wahl zu gewinnen. Sie haben in vielen Bundesstaaten nur deshalb noch so gut abgeschnitten, weil sie das Wahlsystem in ihrem Sinne zuvor verzerrt haben.

In Florida hat der republikanische Gouverneur Ron DeSantis einen hohen Sieg eingefahren, Trump ätzt nun über den potenziellen Rivalen im Präsidentschaftswahlkampf. Hätte der als "Trump mit Hirn" titulierte DeSantis Chancen, das Weiße Haus im Jahr 2024 zu erobern?

Die Republikaner sehen, dass Trump eine nationale Wahl nicht gewinnen kann. Für jeden von ihnen würde es 2024 schwer werden, aber für Trump wäre es viel schwieriger als für einen anderen Kandidaten. Davon gehe ich nach den Ergebnissen der Zwischenwahlen aus.

Falls aber doch ein Republikaner Präsident werden sollte: Würden sich die USA dann wieder stärker von Europa abwenden?

Das wird sich zeigen. Es kommt darauf an, welcher Republikaner es 2024 wäre. Der Fairness halber muss ich aber betonen, dass nicht wenige Republikaner durchaus eine überaus vernünftige Position zu diesem Konflikt bezogen haben. So oder so: Hoffen wir, dass die Ukraine den Krieg bis dahin gewonnen hat.

Sie selbst engagieren sich stark für die Ukraine, sammeln Geld für ein Abwehrsystem, mit dem russische Drohnenangriffe zukünftig abgewiesen werden sollen. Wegen Ihrer Profession als Historiker werden Sie deswegen bisweilen kritisiert.

Historiker zu sein gibt mir nicht das Recht, bei einem Völkermord wegzusehen. Es wäre ein unverzeihliches moralisches Versagen von mir, nichts zu tun – nur weil meine eigentliche Aufgabe darin besteht, etwa über Deportationen, Todesgruben und Filtrationslager zu schreiben. Ich kann Menschen nicht verstehen, die glauben, dass ihr Beruf sie von offensichtlichen moralischen Verpflichtungen entbindet. Im Jahr 2020 habe ich auf der Grundlage meiner historischen Arbeiten vorausgesagt, dass Donald Trump einen Putschversuch unternehmen werde. Wie es dann am 6. Januar 2021 auch geschehen ist. Ich hatte Recht – und es war wichtig, dass ich diese Warnung ausgesprochen habe. Hätte ich schweigen sollen, weil ich Professor bin? Selbstverständlich nicht. 2014 konnte ich richtig voraussagen, dass Russland in die Ukraine einmarschieren werde. Hätte ich auch da dann schweigen sollen? Nein!

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Historikern eine besondere Verantwortung für die Gegenwart obliegt?

Das ist so. Die erste Hälfte dieses Jahres habe ich in einem Gefängnis unterrichtet. Sollte ich mich etwa nicht in dieser Form für die Zivilgesellschaft engagieren, weil es kein Vorlesungssaal gewesen ist? Sollen meine Kollegen, die sich für eine Gefängnisreform in den USA einsetzen, dies nicht tun, weil sie wissenschaftliche Experten auf diesem Gebiet sind? Das ist Unsinn. Insbesondere die Geschichte Deutschlands zeigt überaus deutlich, dass kritische Zeiten eine tiefgreifende Berufsethik erfordern. Diese wiederum als Entschuldigung dafür zu nehmen, bei einem Völkermord wegzuschauen oder sich einer passiven Konformität hinzugeben, ist meiner Ansicht nach falsch. Gerade Historiker, die Entstehung und Verlauf von Völkermord und Massengewalt erforschen, tragen eine besondere Verantwortung dafür zu sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholen kann.

Professor Snyder, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Timothy Snyder via Videokonferenz
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