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Erdoğan und der Israel-Krieg: Die Wut in der Türkei gerät außer Kontrolle


Erdoğan und der Israel-Krieg
Die Wut gerät außer Kontrolle

Von Patrick Diekmann

19.10.2023Lesedauer: 5 Min.
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Recep Tayyip Erdoğan: Der türkische Präsident muss im Zuge des Nahostkonfliktes eine Eskalation der innenpolitischen Lage in der Türkei fürchten. (Quelle: Mustafa Kamaci/Anadolu Agency/Getty Images)

In der Türkei eskalieren die Proteste. Aber die Menschen gehen nicht gegen den Hamas-Terror auf die Straße, sondern gegen Israel und die USA. Recep Tayyip Erdoğan steckt in einem Dilemma.

Straßenschlachten, Tränengas, Wasserwerfer. In Istanbul eskaliert die Gewalt. Eine Menschenmenge versucht am Dienstagabend, das israelische Konsulat im Zentrum der türkischen Metropole zu stürmen. Es kommt zu Ausschreitungen mit der Polizei. Das Ergebnis: 63 Menschen werden verletzt, darunter 45 Polizisten. Ein 65-jähriger Mann kommt laut Angaben der Regionalregierung ums Leben, infolge einer Herzattacke.

Die radikalislamische Hamas griff am 7. Oktober Israel an und tötete 1.300 Menschen, größtenteils Zivilisten. Seither ist das Land im Kriegszustand, und die israelische Armee greift aus der Luft und mit Artillerie Stellungen der Terroristen im Gazastreifen an. Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium, das von der Hamas kontrolliert wird, starben dabei bisher knapp 3.500 Menschen. Unabhängig geprüft werden können die Zahlen nicht, aber der Raketenanschlag auf ein Krankenhaus in Gaza am Dienstag brachte die Wut in der Türkei trotzdem zum Überkochen.

Mit jedem weiteren Tag des Leides für die palästinensische Zivilbevölkerung gerät die Lage in türkischen Städten zunehmend außer Kontrolle. Recep Tayyip Erdoğan steckt in einem Dilemma: Der türkische Präsident verurteilte den Terrorangriff der Hamas nicht, forderte ein Einstellen der Kämpfe und bot sich als Vermittler an. Doch der Druck wird immer größer, eine neutrale Position aufzugeben. Denn die türkische Volksseele kocht.

Erdoğan wettert gegen Israel

Die türkische Führung reagiert auf den zunehmenden Missmut in der Bevölkerung. "Der Angriff auf ein Krankenhaus mit Frauen, Kindern und unschuldigen Zivilisten ist das jüngste Beispiel für israelische Angriffe, denen die grundlegendsten menschlichen Werte fehlen", schrieb Erdoğan am Dienstag auf dem sozialen Netzwerk X (vormals Twitter). "Ich lade die gesamte Menschheit ein, Maßnahmen zu ergreifen, um dieser beispiellosen Brutalität in Gaza ein Ende zu setzen." Am Mittwoch verkündete er eine dreitägige Staatstrauer für die palästinensischen Opfer.

Erdoğan hatte zuvor selbiges nicht für die israelischen Opfer getan. Den Angriff der Hamas hatte er nicht als Terror verurteilt. Stattdessen hatte der Präsident die Gewalt auf beiden Seiten kritisiert und wahrscheinlich gehofft, sich mit einer neutralen Position aus der Affäre ziehen zu können. Das scheint aber nicht zu funktionieren, der Krieg in Israel wird auch für die Türkei immer mehr zur Zerreißprobe.

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Das Ziel der türkischen Führung war eigentlich eine Position des Gleichgewichts, ähnlich wie im Zuge des Ukraine-Kriegs. Erdoğan hatte zwar schon intensive politische Konflikte mit Israel, aber zuletzt hatten sich die Beziehungen massiv verbessert. So traf er den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im September persönlich in New York. Dabei hofft die krisengebeutelte türkische Wirtschaft auf Energiegeschäfte mit Israel.

Iran triumphiert auch in der Türkei

Vom Israel-Krieg profitieren nun vor allem die Kräfte im Nahen und Mittleren Osten, die auch eine türkisch-israelische Annäherung verhindern wollten: islamistische Terrorgruppen wie die Hamas und Länder wie der Iran. Schon jetzt haben die Islamisten dieses Ziel erreicht, denn der Terrorangriff der Hamas und dessen Folgen werden zum Spaltpilz zwischen Israel und der muslimischen Welt.

In der Türkei wird das besonders sichtbar. Fast täglich gehen Menschen mit palästinensischen Flaggen auf die Straße. Im Zuge dieses Konfliktes wirbt der Iran um die Einheit der Muslime. Die türkische Gesellschaft kann sich dem nicht entziehen. Schon jetzt sind bei Demonstrationen in der Türkei auf großen Bannern Forderungen zu lesen, die man eigentlich vor allem aus Teheran kennt: "Nieder mit den USA und Israel." Bei diesen Protesten wird Israel verdammt und es herrscht der Glaube vor, dass Muslime gemeinsam den israelischen Staat zerstören müssten.

Diese Narrative sind in der Türkei keine Seltenheit. Immer, wenn der Nahost-Konflikt eskaliert, zeigt sich im Land die Solidarität mit dem palästinensischen Kampf für einen eigenen Staat. Das Feindbild "Israel" ist weit verbreitet.

Vorkämpfer für die muslimische Sache

Deshalb ist eines klar: Erdoğan wird sich dem gesellschaftlichen Druck nicht lange entziehen können. Er wird sich im Zweifel hinter die palästinensische Sache und auch hinter die Hamas stellen. Schon jetzt wird dem türkischen Präsidenten Untätigkeit vorgeworfen, und er versucht dem entgegenzuwirken, indem er Hilfsgüter für die palästinensische Bevölkerung nach Ägypten schickte. Doch das wird auf Dauer wahrscheinlich nicht ausreichen, um den gesellschaftlichen Frieden im Land zu wahren.

Erdoğan kämpft mit dem Problem, dass seine Kernwählerschaft momentan auf den Straßen demonstriert: Konservative Muslime, die sich eine starke Türkei als Vorkämpfer für die muslimische Sache in Abgrenzung zum Westen wünschen. Also das Bild eines Landes, das Erdoğan selbst von der Türkei zeichnet, seit er an der Macht ist.

In der Vergangenheit inszenierte sich der 69-Jährige oft als Kämpfer für die muslimische Sache. Ob für den Kampf der Palästinenser, die Uiguren in China oder gegen Koranverbrennungen in Schweden. Dabei hatte der türkische Präsident nie Berührungsängste gegenüber islamistischen Terrorgruppen in Syrien oder eben der Hamas. Nicht ohne Grund: Erdoğan sieht die Türkei als Nachfolger des Osmanischen Reiches und den Glauben als Basis seines regionalen Führungsanspruches.

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Erdoğan versucht sich wegzuducken

Es hat also innen- und geopolitische Gründe, warum sich die türkische Führung selbst im Zuge des Hamas-Terrors nicht mit Israel solidarisieren kann. Damit ist die Türkei in einem ähnlichen inneren Konflikt wie viele andere muslimisch geprägte Staaten derzeit. Mit einem Unterschied: Das Land ist Nato-Mitlglied und somit sicherheitspolitisch Teil des Westens.

In den vergangenen Jahren hatte der türkische Präsident eigentlich kein Problem damit, sich mit dem Westen anzulegen und das Militärbündnis zu lähmen. Doch seit seiner Wiederwahl im Frühling 2023 zielt seine Politik auf eine Verbesserung der schlechten wirtschaftlichen Situation in der Türkei ab. Deswegen die Gespräche mit Israel, deswegen eine Annäherung an den Erzfeind Griechenland. Erdoğan ist wahrscheinlich froh darüber, dass er im Zuge seiner Pendeldiplomatie mit Russland nicht größeren Druck aus dem Westen bekommt.

Letztlich kommt also der Krieg in Israel für den türkischen Machthaber in einer Zeit, in der er Konflikte eigentlich nicht gebrauchen kann.

Aber im kommenden Jahr sind wichtige Kommunalwahlen in der Türkei. Deswegen zieht die Opposition in der aktuellen Krise Erdoğan die Daumenschrauben an: Auch nationalistische und islamistische Kräfte in seiner Regierung fordern von ihm eine klarere Position gegen Israel. Vom Selbstverteidigungsrecht Israels spricht Erdoğan nach dem Angriff der Hamas nicht. Das liegt vermutlich daran, dass in der Türkei eine solche Position nicht mehrheitsfähig ist.

Noch belässt es der türkische Präsident bei markigen Verurteilungen der israelischen Angriffe und setzt öffentlichkeitswirksame Zeichen: So demonstrierten sein Sohn und Schwiegersohn am vergangenen Wochenende in Istanbul gegen Israel. Doch wenn erst die israelische Bodenoffensive beginnen sollte, steht Erdoğan wahrscheinlich innenpolitisch das Wasser bis zum Hals. Dann wäre die Türkei das nächste Pulverfass, das in der Region zu explodieren droht.

Verwendete Quellen
  • zdf.de: Erdogan zwischen allen Stühlen
  • stern.de: Mehr als 60 Verletzte bei Proteste gegen Israel in Istanbul
  • tagesschau.de: Wie umfassend ist die Vermittlerrolle der Türkei?
  • reuters.com: Fury grows in Turkey against Israel, fresh protests staged (engl.)
  • fr.de: Erdogan fordert Frieden für Gaza
  • politico.eu: Erdoğan warns Sunak: Don’t stoke Israel-Hamas crisis (engl.)
  • rnd.de: Der türkische Staatschef zwischen den Fronten
  • timesofisrael.com: Son of Turkish President Erdogan joins pro-Palestinian march in Istanbul (engl.)
  • welt.de: Hamas-Unterstützer oder Vermittler? Die Schlüsselrolle der Türkei
  • zeit.de: Israel bombardiert Hamas-Ziele, Türkei verhandelt über Geiseln
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