Die Alle-Optionen-offen-Kanzlerin Merkels Verwirrspiel um eine Minderheitsregierung
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bisher hat Angela Merkel sich klar gegen eine Minderheitsregierung ausgesprochen. In einem Interview fallen jedoch Sätze, die skeptisch machen. Oder meint Merkel etwas ganz anderes?
In der SPD herrscht Chaos, in der CDU wächst die Unzufriedenheit über den ausgehandelten Koalitionsvertrag, der der Union schmerzliche Machtverluste zumuten würde. Dazu ist längst nicht sicher, wie der SPD-Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag ausfällt. Ein Scheitern der großen Koalition ist immer noch möglich. Eine mögliche Alternative: eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten. Bisher hielt Angela Merkel nichts davon, könnte nun aber ihre Meinung geändert haben.
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Im ZDF-Interview bei "Berlin direkt" am Sonntag erklärte die Bundeskanzlerin, auf ein mögliches Scheitern von Schwarz-Rot angesprochen: "Dann gehe ich zum Bundespräsidenten und dann kommt wieder der Artikel 63 der Verfassung ins Spiel und dann muss er jemanden vorschlagen. Und dafür stehe ich zur Verfügung." Ein klares Ja der Kanzlerin zu einer Minderheitsregierung? Nicht unbedingt. Merkel hält sich mit ihren Aussagen wie so oft alle Optionen offen. Die möglichen Szenarien:
Wie es zu einer Minderheitsregierung kommen könnte
Sollte die große Koalition scheitern, ist erneut der Bundespräsident gefragt. Frank-Walter Steinmeier könnte versuchen, Union, FDP und Grüne zu "Jamaika 2.0" zu bewegen. Vor allem von den Liberalen kamen jedoch klare Ansagen, dass sie dafür nicht zur Verfügung stehen. Damit wären alle Optionen für Koalitionen erschöpft und es blieben nur noch die Optionen Neuwahlen oder Minderheitsregierung.
Merkel selbst kann nicht zurücktreten. Sie ist derzeit keine gewählte Kanzlerin, sondern nur geschäftsführend im Amt. Damit ist es ihr auch nicht möglich, Neuwahlen über die Vertrauensfrage zu erzwingen.
Der von Merkel angesprochene Artikel 63 sieht vor, dass der Bundespräsident einen Kandidaten zur Kanzlerwahl vorschlägt. Das könnte eigentlich nur Merkel sein, denn in Artikel 63 steht auch, dass der Bundespräsident einen Kandidaten vorschlagen soll, "der mehrheitsfähig ist". In der ersten Wahlphase ist die absolute Mehrheit oder Kanzlermehrheit erforderlich – die Merkel verpassen dürfte.
In der zweiten Wahlphase schlägt der Bundestag eine Kandidatin oder einen Kandidaten vor. Da nur eine Partei oder Fraktion, die mindestens ein Viertel der Abgeordneten stellt, ein Vorschlagsrecht hat, kann der Vorschlag nur von der Union kommen. Dafür haben CDU und CSU 14 Tage Zeit und hier kommt ebenfalls eigentlich nur Merkel infrage. Auch im zweiten Wahlgang ist die Kanzlermehrheit erforderlich, die Merkel wieder verpassen dürfte.
Es folgt die dritte Wahlphase und hier kann es richtig spannend werden. Sollte ein Kandidat in der dritten Wahlphase überraschend doch die Kanzlermehrheit erhalten, muss der Bundespräsident ihn zum Bundeskanzler ernennen. Im dritten Wahlgang genügt aber auch die relative Mehrheit. Gewählt ist also, wer – von allen Kandidatinnen, sollte es mehr als eine sein – die meisten Stimmen bekommt. Das dürfte sicher Angela Merkel sein, die dann von Steinmeier mit der Bildung einer Minderheitsregierung beauftragt werden könnte.
Was Merkels Aussagen auch bedeuten können
Man kann Merkels Aussagen jedoch auch ganz anders deuten. Sie hat nicht gesagt: "Dann bilde ich eine Minderheitsregierung". Sie hat nur gesagt: Sie stünde zur Verfügung, wenn Steinmeier sie vorschlägt. Sollte Merkel in der dritten Wahlphase mit der relativen Mehrheit gewinnen, muss Steinmeier sie nicht zwangsweise mit der Bildung einer Minderheitsregierung beauftragen.
Sollte Merkel klarmachen, dass sie das nicht will oder Steinmeier die Erfolgsaussichten einer solchen Regierung als zu gering ansehen, kann er immer noch Neuwahlen ausrufen. In Artikel 63 heißt es dazu für die dritte Wahlphase: "Erreicht der Gewählte nur die relative Mehrheit, hat der Bundespräsident ein auf sieben Tage befristetes Wahlrecht zwischen der Ernennung des Gewählten als Minderheitskanzler oder der Auflösung des Bundestages."
Merkel könnte sich also von Steinmeier und der Union nominieren lassen, damit es am Ende zu Neuwahlen kommt.
Risiko und Vorteile einer Minderheitsregierung
Die Minderheitsregierung ist ein deutlich labileres Konstrukt als eine Koalition, müsste für die Union aber nicht nur Nachteile mit sich bringen. Die Union kommt auf 246 Sitze im Bundestag. Die Mehrheit im neuen Bundestag liegt bei 355 Stimmen, der Union fehlen also bei jedem Gesetzesvorhaben mindestens 109 Stimmen, die sie sich bei wechselnden Partnern beschaffen müsste – wenn sie sich dafür entscheidet, die Minderheitsregierung allein zu stellen. Prinzipiell wäre das aber auch mit einem Partner möglich, etwa den Grünen oder der FDP als Koalitionsminderheit.
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Sollte die Union alleine antreten, bekäme sie zwar alle Ministerposten, müsste aber bei jeder Entscheidung mindestens 109 Abgeordnete aus anderen Parteien überzeugen. Immer wenn die SPD geschlossen mitstimmen würde, hätte die Union die erforderliche Mehrheit. Auch wenn FDP und Grüne mitstimmen, kann die Union ihre Vorhaben durchbringen. Das wären sozusagen Groko und Jamaika "light".
In einer Minderheitsregierung ist die Union auf Deals angewiesen
Zu erwarten ist, dass die Union mit den Partnern verschiedene Deals aushandelt, um sich deren Stimmen zu sichern. Bei Fragen der Europapolitik könnten sich CDU und CSU sicher mit der SPD einigen – müssten im Gegenzug den Sozialdemokraten aber etwas anbieten: zum Beispiel Unterstützung bei der Reduzierung der sachgrundlosen Beschäftigungen.
Beim Thema Digitalisierung dürfte kaum eine Partei widersprechen, wenn die Bundesregierung mehr Geld in die Infrastruktur investieren möchte. Schwieriger dürfte es zum Beispiel bei Ausweitungen, Verlängerungen oder Neuanträgen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr werden. Hier müsste die Union um Zustimmung werben – und könnte natürlich mit einem Vorhaben auch mal scheitern.
Probleme könnten durch die AfD entstehen, wenn die Regierung ein Projekt nur mit den Stimmen der AfD durchbringen könnte – obwohl Merkel eine Zusammenarbeit mit den Rechtspopulisten kategorisch ausgeschlossen hat.
Minderheitsregierungen in Europa
Minderheitsregierungen sind sicher nicht das bevorzugte Modell für Politiker, die auf Sicherheit und Kontinuität setzen. Sie sind aber nicht unmöglich und auch nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das zeigt ein Blick ins europäische Ausland. In Spanien, Portugal und Skandinavien sind Minderheitsregierungen nichts Ungewöhnliches.
Allerdings treten zum Beispiel in Norwegen die Oppositionsparteien nicht ausschließlich als Gegner, sondern oft auch als feste Partner der Regierungspartei auf. In Dänemark und Schweden gibt und gab es immer wieder Minderheitsregierungen, die oft aus bis zu drei Parteien bestehen und durchaus konstruktiv arbeiten.
Auch wenn es in Deutschland auf Bundesebene noch nie eine Minderheitsregierung gab, könnte das Konstrukt eine durchaus positive Alternative zu Neuwahlen sein. Denn auch mit Neuwahlen ist nicht gesichert, dass sich am Ende andere Mehrheitsverhältnisse ergeben als jetzt. Merkel – die erfahrene Taktikerin – hat in ihrem Interview nicht ausgesprochen, dass sie nun für eine Minderheitsregierung zu haben ist. Sie hat sie aber auch nicht explizit ausgeschlossen. Sie hat am Ende wieder nichts Konkretes gesagt und lässt sich so alle Optionen offen.