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SPD und Bündnis Sahra Wagenknecht: “Lage ist noch weit dramatischer“


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Historiker Behrends
"Da hätte sofort der Riegel vor gehört"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 05.11.2024Lesedauer: 6 Min.
Sahra Wagenknecht mit Oskar Lafontaine: Die BSW-Gründerin betreibt Destruktion, sagt Jan C. Behrends.Vergrößern des Bildes
Sahra Wagenknecht mit Oskar Lafontaine: Die BSW-Gründerin betreibt Destruktion, sagt Jan C. Behrends. (Quelle: Matthias Gränzdörfer/imago-images-bilder)

Deutschland unterstützt die Ukraine mit Waffen, sehr zum Missfallen von Sahra Wagenknecht. Was bezweckt die BSW-Chefin? Und warum lahmt die "Zeitenwende" von Olaf Scholz? Historiker Jan C. Behrends analysiert die Lage.

Deutschland muss sich gegen die Bedrohung durch Russland wappnen, das derzeit einen Krieg in der Ukraine führt. Doch die von Olaf Scholz verkündete "Zeitenwende" kommt kaum voran, gerade in der Kanzlerpartei SPD sind die Widerstände groß. Nun spricht das russlandfreundliche Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in drei ostdeutschen Bundesländern mit SPD und CDU über Koalitionen – und macht Russlands Krieg zum Thema der Landespolitik.

Warum ist das so gefährlich? Weshalb sträuben sich Teile der SPD gegen die "Zeitenwende" und eine kritische Aufarbeitung ihrer jahrzehntelangen Russlandpolitik? Und welche Art der Politik betreibt Sahra Wagenknecht? Diese Fragen beantwortet Jan C. Behrends, Historiker und Osteuropaexperte, im Gespräch.

t-online: Professor Behrends, SPD und BSW verhandeln in Brandenburg über eine Koalition, zuvor hatte man sich darauf geeinigt, "eine diplomatische Lösung des Ukraine-Konflikts" anzustreben. Wird deutsche Außenpolitik nun in Potsdam betrieben?

Jan C. Behrends: Zum Glück nicht. Die Lage ist aber noch weit dramatischer. Denn neben der SPD in Brandenburg macht die CDU in Sachsen und Thüringen das Spiel des BSW mit – und zwar auf Landesebene Fragen der Außenpolitik zu behandeln, die gar nicht in die Kompetenz der Bundesländer fallen. Das ist töricht und wird langfristig lediglich zu Enttäuschungen bei der Wählerschaft führen. Denn ein Friede in der Ukraine wird weder von Potsdam noch Erfurt oder Dresden ausgehen. Diese Vorstellung ist geradezu absurd.

Das Grundgesetz weist die Kompetenz in Sachen Außenpolitik allein dem Bund zu. Warum gab es denn nicht wenigstens ein Machtwort des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Olaf Scholz in Richtung der Brandenburger SPD-Zentrale?

Das ist eine gute Frage. Denn die Politik der Bundesregierung wird effektiv untergraben, wenn man sich auf die Forderungen des BSW einlässt. Da hätte sofort der Riegel vor gehört. Denn sonst könnte das BSW – weiter nach vorne gedacht – mit noch absurderen Forderungen in die nächsten Koalitionsverhandlungen gehen. Landespolitik soll das Leben der Bürger in den betreffenden Bundesländern verbessern, das fällt aber hinten über, wenn stattdessen in Potsdam, Erfurt und Dresden plötzlich über Weltpolitik diskutiert wird. Zentrale Fragen wie die Westbindung Deutschlands, die sollten für SPD wie CDU überhaupt nicht verhandelbar sein. Dass sie hier auf das BSW zugehen, finde ich entsetzlich.

(Quelle: privat)

Zur Person

Jan Claas Behrends, Jahrgang 1969, lehrt und forscht an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Der Historiker ist Experte für die Geschichte Osteuropas und hat die Gewaltkultur in der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart in verschiedenen Projekten untersucht. Gerade hat Behrends das Buch "Deutsch-ukrainische Geschichten. Bruchstücke aus einer gemeinsamen Vergangenheit" mit herausgegeben. Behrends ist Mitglied der SPD.

Olaf Scholz hat im Februar 2022 nach der russischen Vollinvasion der Ukraine die "Zeitenwende" verkündet. Nun sind bereits die Widerstände in seiner eigenen Partei dagegen groß. Fehlt es dem Kanzler an Durchsetzungskraft?

Das grundsätzliche Bekenntnis zur "Zeitenwende" steht weiterhin. Aber sie wird nicht konsequent durchgesetzt. Wer Führung bestellt, würde sie von ihm bekommen, hat Scholz einmal gesagt. Nun, davon ist wenig zu bemerken. Ebenso hat Parteichef Lars Klingbeil die "Zeitenwende" früher vollmundig zu seinem Projekt erklärt: Auch dabei ist herzlich wenig herausgekommen. Insgesamt verkörpern Kanzler und Klingbeil eine Krise politischer Führung in diesem Land.

Bei den Sozialdemokraten gewinnen hingegen eher die Gegner der "Zeitenwende" und Befürworter von "Verhandlungen" mit Russland an Einfluss, selbst wenn dieses gar nicht verhandlungsbereit ist.

So ist es. Man sieht es an den schon erwähnten Vorgängen etwa in Brandenburg, aber auch am Beispiel des neuen SPD-Generalsekretärs Matthias Miersch: Er versucht, seinen früheren Chef, Putin-Intimus Gerhard Schröder, zu "normalisieren" und betreibt seine Rehabilitation in der Partei. Miersch war auch Gast auf der Feier zu Schröders 80. Geburtstag, sein Vorgänger Kevin Kühnert hatte dem Ex-Kanzler hingegen nicht einmal gratuliert.

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Matthias Miersch, der wie Schröder dem Parteibezirk Hannover entstammt, wollte eigentlich mit einer "Kommission zur Bewertung der Ost- und Entspannungspolitik der SPD" Aufklärung betreiben. Wie t-online-Recherchen ergaben, verlief die Sache allerdings im Sande.

Eine kritische Aufarbeitung der Russlandpolitik der SPD ist mit so einem Personal wie Matthias Miersch gar nicht möglich. Erst recht nicht, wenn die "Aufarbeiter" dem SPD-Bezirk Hannover entstammen, der auch als "Moskau-Connection" bezeichnet wird. Tatsächlich wird es keine kritische Auseinandersetzung mit dem sozialdemokratischen "Russland-Komplex" geben, solange dessen Akteure über Posten und Einfluss verfügen. Nach dem russischen Überfall im Februar 2022 herrschte zunächst ein Schock in der Partei, es bewegte sich etwas, aber jetzt richtet man sich in den alten Positionen wieder ein. Derweil schwindet die Zahl der kritischen Stimmen in der Partei. Der renommierte Historiker Ernst Piper hat ja kürzlich nach mehr als fünf Jahrzehnten sein SPD-Parteibuch aus Protest gegen die Vorgänge in Brandenburg und die versuchte Reinwaschung Schröders zurückgegeben. Leider ist das verständlich und kein Einzelfall.

Letztlich laufen alle Probleme der SPD also auf ein Führungsproblem an der Spitze hinaus?

Das ist der entscheidende Punkt. Gibt es überhaupt noch eine Agenda der Parteiführung? Im Moment kann ich in dieser Hinsicht bei Olaf Scholz, Lars Klingbeil und Saskia Esken wenig ausmachen. Sie sind erstaunlich ruhig gewesen in letzter Zeit. Sehr wohl sehe ich aber eine Agenda von SPD-Linken wie Rolf Mützenich und Ralf Stegner, die ihre anti-ukrainischen Positionen offensiv durchsetzen. Eigentlich bräuchte es dringend ein Machtwort von Olaf Scholz, aber es fehlt ihm wohl der Schneid.

"Realitätsverweigerung" haben Sie im letzten März zusammen mit weiteren Historikern wie Heinrich August Winkler Kanzler Scholz und der SPD-Spitze in Bezug auf die von Russland ausgehende Gefahr attestiert. Sind Ihre Worte verhallt?

Ja. Eigentlich ist es noch schlimmer geworden. Es mangelt an Mut zur politischen Führung. Nehmen wir das Beispiel von Brandenburg, Sachsen und Thüringen: Da hätten die staatstragenden Parteien SPD und CDU unisono erklären können, dass die deutsche Westbindung nicht verhandelbar sei, sondern Staatsräson ist. Aber jetzt? Wenn man sich immer nur defensiv verhält, dann setzen andere die Akzente. Das macht nun Sahra Wagenknecht.

Viel war in den letzten Monaten von einer Brandmauer gegen die AfD die Rede. Bräuchte es diese auch gegen das BSW?

Eine Brandmauer gegenüber Sahra Wagenknecht ist genauso notwendig wie gegenüber der AfD. Stattdessen hat man dem BSW von Anfang an die falschen Signale gesendet.

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Seit vielen Jahren wird Sahra Wagenknechts Politik gedeutet und analysiert: Wie würden Sie diese charakterisieren?

Was ihre politischen Positionen angeht, hat sich Wagenknecht ja mehrfach gehäutet. Sie hat einmal angefangen mit der Verehrung von Walter Ulbricht und der kommunistischen Diktatur, aber das ist ein absurder Friedensbegriff, der eigentlich Unterwerfung bedeutet, ihr Aushängeschild. Tatsächlich betreibt Wagenknecht nach meiner Ansicht weniger Politik, sondern Destruktion. Das erklärt sich, wenn man sie im Zusammenhang mit ihrem Mann Oskar Lafontaine betrachtet. Lafontaine hat seinerzeit der SPD maximal geschadet, später haben Lafontaine und Wagenknecht als Duo faktisch die Linkspartei zerstört. Und jetzt machen sie sich an die Zerstörung der CDU und SPD in den neuen Bundesländern und darüber hinaus an die Demontage der deutschen Westbindung. Destruktion ist Wagenknechts Geschäft.

Und SPD und CDU erkennen die Gefahr nicht?

Bislang nicht. Wagenknecht ist sehr gefährlich, hoffentlich wird das noch rechtzeitig erkannt. Das Erstaunliche ist aber die Tatsache, dass der beliebteste Politiker in Deutschland Boris Pistorius ist. Der Verteidigungsminister steht ohne jeden Zweifel für die "Zeitenwende" und natürlich für die Westbindung: In Hinsicht auf Wahlerfolge wäre es vernünftig, seine Linie zu verfolgen. Die SPD starrt nur auf ihre fragwürdige Vergangenheit, statt mutig die Interessen Deutschlands, seiner Verbündeten und der Ukraine zu vertreten. Die Aufgabe, den Verteidigungshaushalt angemessen zu erhöhen und den sicherheitspolitischen Herausforderungen gerecht zu werden, wird auf die nächste Bundesregierung verschoben. Da ist es wieder, das Versagen der politischen Führung.

Tatsächlich ist fraglich, ob die Ampelkoalition überhaupt bis zur nächsten regulären Bundestagswahl durchhalten wird.

Wir werden sehen. Tatsächlich ist es aber ein großes Versäumnis von Olaf Scholz, dass er seit seiner Rede zur "Zeitenwende" im Februar 2022 nicht mehr mit der Bevölkerung konstruktiv und offensiv dazu kommuniziert hat, wie sich die sicherheitspolitische Lage verschärft hat. Das rächt sich bereits und führt zu Unsicherheiten, zur Wankelmütigkeit. Scholz hätte ein Kanzler von historischem Format werden können – diese Chance hat er verspielt. Er ist, bestenfalls, eine Figur des Übergangs.

Die geplante Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland hat Scholz ohne größere Diskussion der Öffentlichkeit präsentiert. Spielen Sie darauf an?

Ja. Die Bevölkerung hat ein Recht darauf zu erfahren, warum derart wichtige Entscheidungen getroffen werden. Russland hat vertragswidrig Raketen auf Kaliningrader Gebiet stationiert, das ist eine Bedrohung für Deutschland. Wenn man nun die Bevölkerung darüber aufklärt und die Notwendigkeit militärischer Abschreckung erklärt, lassen sich auch breite Mehrheiten für die Stationierung neuer Raketen finden. Diese sparsame und unzureichende Kommunikation aus dem Bundeskanzleramt ist aber alles andere als hilfreich. In dieses Vakuum stoßen Wagenknecht und die AfD.

Professor Behrends, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jan C. Behrends via Telefon
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