Verteidigungsminister Pistorius Eine fast unmögliche Mission
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Boris Pistorius reist ins Baltikum. In der Heimat will er das scheinbar Unmögliche schaffen – und die marode Bundeswehr wieder schlagkräftig machen. Porträt eines Rastlosen.
Es ist der Abend des 7. Februars, als plötzlich alles passt. Die Fragmente fügen sich wie Teile eines Puzzles zusammen und ergeben ein klares Bild. Boris Pistorius, der frisch vereidigte deutsche Verteidigungsminister, steigt an diesem Tag nach zwölf Stunden Fahrt in der Ukraine aus dem Zug. Mehrere Videos zeigen, wie Pistorius durch Kiew geht – und eine Stadt im Krieg sieht.
Sein Blick fällt auf Soldaten und Menschen der Zivilbevölkerung, auf Panzer und eingestürzte Häuser, der Gesichtsausdruck ist versteinert. Dann schüttelt Pistorius den Klitschko-Brüdern die Hand und hat einen Termin mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj. Ein Antrittsbesuch mit allen Ehren.
Ein Aufleuchten, das schnell verglüht?
Doch die eigentliche Nachricht des Tages hat Pistorius nicht sofort verkündet. Erst kurz vor 18 Uhr wird enthüllt: Die Bundesregierung genehmigt die Lieferung von 178 Leopard-1-Panzern an die Ukraine. Damit ist klar: Der neue Verteidigungsminister besichtigt nicht nur die Lage vor Ort. Sondern er bringt auch konkrete Hilfszusagen mit.
In diesem Moment im Februar steht Boris Pistorius als Macher da. Als einer, der so handelt, wie es angemessen wirkt. Dieses Bild gab seine Vorgängerin Christine Lambrecht nie ab. Ab jetzt ist für jeden ersichtlich, welcher Wandel sich an der Spitze des Verteidigungsministeriums vollzogen hat.
Boris Pistorius, 63 Jahre alt, ist seit fast zwei Monaten im Amt, sein Besuch in Kiew ist mittlerweile einen Monat her. Manche in Berlin sagen: Pistorius hatte eben Glück, als richtiger Politiker zur richtigen Zeit zu kommen. Ein kurzes Aufleuchten, das im politischen Alltag schnell verglühen könnte. Andere glauben: Pistorius hat die Chance seines Lebens bekommen – und beweist bereits nach wenigen Wochen, dass er sie nutzen wird. Dass es ihm gelingen könnte, die zusammengesparte Bundeswehr zu einer schlagkräftigen Truppe zu formen. Sie halten ihn für einen politischen Senkrechtstarter auf der Bühne der Bundespolitik.
Die Wahrheit liegt zwischen diesen beiden Polen. Wer Pistorius über die vergangenen Wochen beobachtet hat, für den zeichnet sich das Bild eines Mannes, der fest entschlossen ist, für eine andere Bundeswehr zu kämpfen. Der die benötigte Hemdsärmeligkeit beweist, aber auch viel Durchhaltewillen brauchen dürfte. Und für den es noch schwierig werden könnte.
Pistorius hat ein Ressort übernommen, das erst seit einem Jahr so richtig wichtig geworden ist. Lange stand die Bundeswehr nicht im Fokus – unter den Christdemokraten wurde sogar die Wehrpflicht abgeschafft. Als Verteidigungsministerin sorgte Annegret Kramp-Karrenbauer für kostenlose Zugfahrten für die Truppe. Mancher rümpfte da noch die Nase: Neben Soldaten in Camouflageuniform im ICE sitzen? Bloß nicht.
Die Reibungspunkte sind vorprogrammiert
Doch der Krieg Russlands gegen die Ukraine verschiebt die Regeln. Plötzlich sind die Soldaten gefragt. 100 Milliarden Euro Sondervermögen sollen allein in die Ausrüstung der Truppe fließen. Denn nun ist wichtig, wie viele Panzer Deutschland eigentlich hat. Und wie gut das Land im Zweifel verteidigt werden kann.
Dabei ist das Verteidigungsministerium ein riesiger Apparat. Tausende Beamtenstellen verknüpfen sich hier mit dem streng hierarchisch geführten Militär. Auf der einen Seite eine deutsche Behörde mit Faxgeräten und langen Dienstwegen. Auf der anderen eine Mannschaft, die im Zweifel ihr Leben einsetzen soll, um die Bundesrepublik zu schützen. Für das Jahr 2023 sind diese Gegensätze nicht mehr angemessen.
An der Führung dieses Ministeriums sind schon diverse Karrieren zerschellt. Aber wenige so sehr im Lichte der Öffentlichkeit wie die von Christine Lambrecht. Sie sorgte immer wieder für Pannen, mal ließ sie ihren Sohn im Hubschrauber mitfliegen, mal trat sie in Stöckelschuhen den Soldaten im Wüstensand gegenüber. Und schließlich gab es noch den verunglückten Auftritt von ihr am Silvesterabend. Kurz darauf trat sie zurück.
Boris Pistorius übernahm also ein Ministerium, dessen Bedeutung wichtiger denn je war, dessen öffentliches Bild aber so schlecht wie lange nicht war. Bereits am 17. Januar, als seine Berufung feststand, verkündete er, sich immer vor die Soldaten zu stellen, wenn dies nötig sei. Wie das aussieht, demonstrierte er in den kommenden Tagen. Seine Strategie dabei ist, so viel Klartext wie möglich zu sprechen. Bloß nicht in Worthülsen flüchten. Er sagt zum Beispiel, im Gegensatz zum Kanzler: "Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen." Er findet, das 2-Prozent-Ziel der Nato sei eine Art Untergrenze. Und sogar für eine allgemeine Dienstpflicht zeigt sich Pistorius offen.
Bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar hatte er seinen großen Auftritt vor den internationalen Partnern der Bundesrepublik. Und bei einem Podiumsgespräch hörte ihm die Chefetage seines eigenen Ministeriums zu. Unter anderem ging es um die Frage, wie viel Geld das Verteidigungsministerium eigentlich künftig brauche. Pistorius antwortete: "Ich sag mal so: Die Kohle muss stimmen." Das kam gut an im Ministerium: ein Anwalt für die eigene Sache an der Spitze des Verteidigungsressorts.
Pistorius wirkt bei seinen Auftritten zupackend, aber nicht übereifrig. Verbindlich, aber nicht anbiedernd. Diese Eigenschaften könnten ihm noch bei seinem Mammutprojekt der Bundeswehrreform helfen. Es wirkt, als würde einer wie er gerade in dieses Amt passen.
Ein Sound, der in der Bundeswehr gut ankommt
Der zweite Teil seiner Strategie ist Nähe. Er will die Distanz zwischen dem Behördenapparat und der Truppe möglichst kurz halten. Deshalb fuhr Pistorius nach seinem Amtsantritt zu den verschiedenen Einheiten. Er macht einen Termin beim Heer, inspizierte Boote bei der Marine. Danach stellte er sich vor die Mikrofone und sagte: "Ein sehr eindrucksvoller Tag geht zu Ende". Sogar seine politischen Gegner attestieren Pistorius, sich mit großem Fleiß in sein Amt hineinzuarbeiten.
Pistorius ist auch deshalb so bemüht, weil er nach einem solchen Amt strebte. Schon immer wollte er nach oben. Von 2006 bis 2013 war er Oberbürgermeister von Osnabrück, von 2013 bis zu seinem Wechsel dann Innenminister von Niedersachsen. Langsam schraubte er sich von einem Amt ins nächste und wurde dabei immer mächtiger.
Besonders seine Erfahrungen als Innenminister könnten ihm jetzt zugutekommen. Er war unter anderem für die Polizei zuständig, machte 2017 Schlagzeilen mit dem Satz: "Wir dürfen das Thema Kriminalität von Flüchtlingen weder tabuisieren noch dramatisieren." Es ist ein Sound, den mancher in der SPD als zu konservativ wahrnehmen dürfte, der aber gerade in der Bundeswehr für Anklang sorgt.
Pistorius dürfte trotzdem früher oder später in den Niederungen der Realpolitik ankommen. Er forderte unter anderem zehn Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr im Haushalt. FDP-Finanzminister Lindner steht dem Anliegen zwar wohlwollend gegenüber, doch wie viel zusätzliches Geld es wirklich geben wird, diskutieren die Minister noch aus.
Pistorius ist vorher noch mal losgezogen: Am Montag und Dienstag ist Pistorius in Litauen unterwegs. Um Bundeswehrsoldaten, die dort im Rahmen des Nato-Bündnisses stationiert sind, zu treffen. Der Weg, um die gesamte eigene Truppe für sich einzunehmen, ist selbst für Pistorius weit.
- Eigene Recherche