Acht Punkte Brosius-Gersdorfs Verzichtserklärung im Wortlaut

In einer langen Erklärung hat Frauke Brosius-Gersdorf ihren Verzicht auf eine weitere Kandidatur als Verfassungsrichterin dargelegt. Der Text zum Nachlesen.
Die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf hat ihren Verzicht auf eine Kandidatur als Verfassungsrichterin erklärt. Ihren Rückzug erklärte sie in einer Stellungnahme, die über ihre Rechtsanwälte Redeker Sellner Dahs verschickt wurde. Lesen Sie hier die gesamte Stellungnahme im Wortlaut.
Verzicht auf Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts
1. Nach reiflicher Überlegung stehe ich für die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zur Verfügung. Mir wurde aus der CDU/CSU-Fraktion – öffentlich und nicht öffentlich – in den letzten Wochen und Tagen sehr deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist. Teile der CDU/CSU-Fraktion lehnen meine Wahl kategorisch ab. Zudem droht ein Aufschnüren des "Gesamtpakets" für die Richterwahl, was die beiden anderen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht gefährdet, die ich schützen möchte. Auch muss verhindert werden, dass sich der Koalitionsstreit wegen der Richterwahl zuspitzt und eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, deren Auswirkungen auf die Demokratie nicht absehbar sind.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bis zuletzt an mir festgehalten. Sie stand uneingeschränkt vor und hinter mir. Für sie ist es eine Prinzipienfrage, dem Druck unsachlicher und diffamierender Kampagnen nicht nachzugeben. Großen Zuspruch und Rückendeckung habe ich auch von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen sowie von der Bundestagsfraktion Die Linke erhalten.
2. Nach dem TV-Gespräch mit Markus Lanz hat sich die Berichterstattung in den Medien deutlich versachlicht und wurde sie ganz überwiegend inhaltlich geführt. Der CDU/CSU-Fraktion ist es dagegen nicht gelungen, sich mit meinen Themen und Thesen inhaltlich auseinanderzusetzen. Eine Einladung in eine Fraktionssitzung hat sie bis zuletzt nicht ausgesprochen. Stattdessen wurde mir vorgehalten, dass ich im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch folgenden Satz geschrieben habe: "Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt." Abgesehen davon, dass dieser Satz Ausdruck wissenschaftlicher Freiheit ist, die durch meine Nichtwahl sanktioniert wird, wurde die Begründung für diesen Satz nicht zur Kenntnis genommen.
Nochmals zum Dilemma: Da die Menschenwürdegarantie nach herrschender Meinung nicht abwägungsfähig ist, wären bei Geltung der Menschenwürdegarantie für den Embryo ab Nidation Konflikte mit den Grundrechten der Schwangeren nicht lösbar. Ein Schwangerschaftsabbruch wäre dann unter keinen Umständen rechtmäßig, auch nicht bei Gefährdung des Lebens der Frau. Es ist aber bestehende Rechtslage, dass ein Abbruch bei medizinischer (§ 218a Abs. 2 StGB) und kriminologischer (§ 218a Abs. 3 StGB) Indikation legal ist. Die verfassungsrechtliche Lösung kann denklogisch nur sein, dass entweder die Menschenwürde abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt.
3. Die ablehnende Haltung von Teilen der CDU/CSU-Fraktion wegen meiner Position zum Schwangerschaftsabbruch steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag. Es ist paradox, jemanden wegen einer Position abzulehnen, die man selbst vertritt. Da der Koalitionsvertrag von Kostenübernahme "durch die gesetzliche Krankenversicherung" spricht, bezieht sich die vereinbarte Erweiterung der Kostenübernahme nicht auf eine Verbesserung der finanziellen Unterstützung durch die Länder für sozial bedürftige Frauen. Eine Erweiterung der Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung setzt aber voraus, dass der Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase der Schwangerschaft rechtmäßig, d.h. legal ist. Der Koalitionsvertrag geht also selbst von einer Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten Wochen der Schwangerschaft aus.
4. Medien, insbesondere Leitmedien, sind Eckpfeiler unserer demokratischen Ordnung. Zum professionellen Journalismus gehören sachlich fundierte, auch in zugespitzter Form geführte Kampagnen; Desinformation und Diffamierung hingegen nicht. Erstaunlich ist, dass im Politik-Teil (nicht: im Feuilleton) eines Qualitäts- und Leitmediums einzelne Journalisten (nicht: Journalistinnen) zunächst "Speerspitze" eines ehrabschneidenden Journalismus waren. So wurde im Blatt das Narrativ einer "ultralinken" "Aktivistin" geprägt, obwohl die Verantwortlichen wissen mussten, dass hiermit ein wirklichkeitsfremdes Zerrbild gezeichnet wird. Der Kampagnencharakter manifestierte sich auch in Artikeln über meine Position zum Schwangerschaftsabbruch.
Obwohl die Verantwortlichen – teilweise Juristen – wissen müssen, dass es in der Rechtswissenschaft nicht nur um Ergebnisse, sondern vor allem auch um die Argumentation und Begründung geht, haben sie – zumal teils unvollständig bzw. falsch – lediglich Ergebnisse dargelegt („Menschenwürde erst ab Geburt“), nicht hingegen die dafür genannte rechtsdogmatische Begründung und das rechtswissenschaftliche Dilemma. Dies kann nicht dem Anspruch eines Qualitätsmediums entsprechen, das gerade in Juristenkreisen Verbreitung und Wertschätzung genießt. Die veränderte Berichterstattung im Blatt in der letzten Zeit könnte Ausdruck einer entsprechenden Selbstreflexion sein. Die Medien tragen besondere Verantwortung für das Gelingen und die Erhaltung der Demokratie.
5. Dass die diskurserweiternden und demokratiestärkenden Möglichkeiten des Internets mitunter zur Verbreitung von Fake News und Schmähungen missbraucht werden, ist nicht neu. Neu und bedrohlich ist jedoch, dass sich in sozialen Netzwerken organisierte und zum Teil KI-generierte Desinformations- und Diffamierungskampagnen Bahn brechen zur Herzkammer unserer Demokratie, dem Parlament. Von politisch verantwortlichen Funktionsträgern wie Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, die für bürgerliche Werte wie Anstand, Respekt und Verantwortungsbewusstsein stehen, darf und muss man erwarten, dass Grundlage ihrer Entscheidung nicht ungeprüfte Behauptungen und Stimmungen, sondern Quellen- und Faktenanalysen sind. Die Politik muss gegenüber von bestimmten Seiten geführten Kampagnen "Resilienz" zeigen.
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6. Lässt sich die Politik auch künftig von Kampagnen treiben, droht eine nachhaltige Beschädigung des Verfahrens der Bundesverfassungsrichterwahl. Die fachliche Kompetenz als zentrales Entscheidungskriterium darf nicht von öffentlichen Diskussionen über vermeintliche politische Richtungen oder angebliche persönliche Eigenschaften überlagert werden, zumal wenn diese ohne Tatsachenbezug erfolgen. In Zukunft sollte das Verfahren der Richterwahl mit mehr Verantwortungsbewusstsein praktiziert werden.
7. Mein Verzicht auf die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts wird viele Menschen enttäuschen, die mir geschrieben und mich – bis zuletzt – zum Durchhalten aufgefordert haben, weil sich unsachliche und diffamierende Kampagnen nicht durchsetzen dürfen. Durchhalten macht aber nur Sinn, wenn es eine reelle Wahlchance gibt, die leider nicht mehr existiert.
8. Mein großer Dank gilt allen, die mich in den letzten Wochen nachdrücklich unterstützt haben. Die SPD-Bundestagsfraktion stand fest an meiner Seite. Das Gleiche gilt für die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen und für die Bundestagsfraktion Die Linke. Auch einzelne Vertreter der Unionsfraktion sind mir fair, sachlich und respektvoll gegenübergetreten und haben mir den Rücken gestärkt. Sehr gefreut hat mich die Solidarität von vielen Kolleginnen und Kollegen. Besonders berührt haben mich Tausende von Mails aus allen Teilen der Gesellschaft im In- und Ausland, die mir auf sehr persönliche Weise zugesprochen und beigestanden haben. Ihnen allen sei versichert, dass ich mich weiterhin für die Werte unseres wunderbaren Grundgesetzes einsetzen werde.
- Rechtsanwälte Redeker Sellner Dahs