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Tagesanbruch: Donnerschlag in der Union und Oliver Bierhoffs Zukunft


Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.07.2018Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Angela Merkel und Horst SeehoferVergrößern des Bildes
Angela Merkel und Horst Seehofer. (Quelle: Matthias Balk/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

heute beginnt eine dramatische politische Woche. Deshalb vorab ein Hinweis: Alle "Tagesanbruch"-Ausgaben finden Sie auf dieser Seite; dort erscheint an jedem Werktagmorgen um 6 Uhr auch die aktuelle Ausgabe. Und nun der Kommentar zum Drama:

WAS WAR?

Ein politischer Donnerschlag hallt am späten Sonntagabend durch Deutschland. Abgefeuert hat ihn Horst Seehofer. Er bietet seinen Rücktritt als Bundesinnenminister und CSU-Vorsitzender an. Begründung: Kanzlerin Merkel komme ihm im Asylstreit nicht weit genug entgegen, unterstütze die CSU im bayerischen Landtagswahlkampf nicht ausreichend. Nach dem Mord an Susanna F. hätte die Bundesregierung nicht zur "Tagesordnung" übergehen dürfen. "Das kann ich als neuer Bundesinnenminister nicht verantworten."

Später in der Nacht sagt Seehofer dann, er wolle es doch noch einmal versuchen: "Ich habe ja gesagt, dass ich beide Ämter zur Verfügung stelle, dass ich das in den nächsten drei Tagen vollziehe". Als "Zwischenschritt" werde man an diesem Montag aber ein erneutes Gespräch mit der CDU führen. Das sei ein Entgegenkommen von ihm an die Kanzlerin. "Sonst wäre das heute endgültig gewesen."

Während der Donnerschlag noch nachhallt, knallt gleich der nächste durchs Land: CSU-Landesgruppenchef Dobrindt lehnt Seehofers Rücktrittsangebot ab: "Das ist eine Entscheidung, die ich so nicht akzeptieren kann."

Kurz zuvor hat die Bundeskanzlerin aus Berlin gen München gedonnert und die Forderung nach Abweisung registrierter Flüchtlinge an den deutschen Grenzen abgelehnt: "Wenn wir trotz der letzten Erfolge in Brüssel jetzt zurückweisen, dann muss ich mich auf europäischer Ebene nicht mehr blicken lassen." Ende der Durchsage. Merkels General(sekretärin) Kramp-Karrenbauer übersetzt das Zitat in einer Ansprache in gedrechselte Politsprache: "Einseitige Zurückweisungen wären das falsche Signal an unsere europäischen Gesprächspartner. Getroffene Abkommen sind eine gute Grundlage für die wirksame Reduktion der Sekundärmigration." Und so weiter.

Ein dramatischer politischer Showdown, der sogar die wilden Koalitionsverhandlungen in den Schatten stellt. Aber auch ein Schauspiel. In der CSU regiert die blanke Angst vor einer krachenden Niederlage bei der Bayernwahl im Herbst; jede Stichelei der AfD, jedes neue Umfragetief lässt die Parteioberen aufjaulen wie ein verwundetes Wild. Weil bisher kein Abwehrmanöver hilft – nicht das Kruzifix, nicht der Geldsegen, nicht das Polizeigesetz – fährt die CSU in der Flüchtlingspolitik einen Scharf-rechts-Kurs, um der AfD keine Angriffsfläche mehr zu bieten. Dazu gehören das öffentliche Drama, die Donnerschläge, das demonstrative Mit-sich-Ringen des Parteivorsitzenden. Die Botschaft an die Wähler soll sein: Wir machen es uns nicht leicht, wir quälen uns, wir ringen um die Sache.

Um die geht es in Wahrheit aber kaum noch. Asylstreit ist ein viel zu kleines Wort für den offenen Kampf in der Union. Die in den vergangenen Jahren stabilste politische Kraft Deutschlands, die außer der Kanzlerin zahlreiche Ministerpräsidenten und überall im Land Abgeordnete, Landräte, Bürgermeister stellt, die so eng wie keine andere Partei mit Dax-Konzernen und mittelständischen Betrieben verbandelt ist – diese politische Kraft leistet sich einen existenzbedrohenden Kamikaze-Konflikt.

Eine Ursache dafür liegt in der von Merkel betriebenen "Sozialdemokratisierung" der Union, die auf der rechten Flanke Platz für die AfD gemacht hat. Ähnliches erlebte auf der anderen Seite SPD-Kanzler Schröder, als er die Hartz-Reformen durchsetzte und zum Geburtshelfer der Linkspartei wurde. Aber auch die Auszehrung von CDU und CSU durch zwölfeinhalb Regierungsjahre trägt dazu bei – und, vielleicht am wichtigsten, das zerstörte Vertrauensverhältnis der beiden Parteivorsitzenden. Wer die Fotos von Angela Merkel und Horst Seehofer aus den vergangenen Monaten ansieht, wer die beiden regelmäßig auf politischen Terminen erlebt, wer ihnen zuhört, wenn sie übereinander sprechen, wurde Zeuge einer schleichenden Entfremdung. Seehofer wirkt zutiefst frustriert von Merkels Politikstil der kleinen Schritte und ihrer teflonartigen Kommunikation. Merkel wirkt heftig genervt von Seehofers permanenten Querschüssen und seinem schlechten Stil. Unvergessen, wie er sie auf dem CSU-Parteitag 2015 mit einer minutenlangen Standpauke demütigte. Eine ständige Provokation, wie er immer wieder entscheidende Sitzungen schwänzt, zuletzt während Merkels Regierungserklärung zum EU-Gipfel.

Die Union hat sich selbst in eine existenzbedrohende Krise manövriert, und die Mehrheit der Deutschen findet das überhaupt nicht witzig. Die Umfragewerte der drei Regierungsparteien bröckeln (die SPD wird bei dem Konflikt in Geiselhaft genommen), die persönlichen Zustimmungswerte von Merkel, Seehofer, Söder rauschen in den Keller. Die Deutschen haben es gern harmonisch. Die Regierenden sollen geräuschlos ihren Job machen, die anstehenden Probleme lösen. Deshalb haben die Bürger in diesen wirtschaftlich erfolgreichen Zeiten immer wieder so gewählt, dass dabei große Koalitionen herauskamen.

Die Probleme beginnen aber dann, wenn die Bundesbürger den Eindruck haben, die Regierenden hätten die Lage nicht mehr Griff. So war es in der Flüchtlingskrise 2015/16, so ist es nach den Gewalttaten von Flüchtlingen wie dem Mord an der 14-jährigen Susanna F. Zu spät, von der AfD getrieben und die bayerische Landtagswahl vor Augen hat die CSU erkannt, dass sie mehr tun muss, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit als Law-and-order-Partei erhalten und ihre Chancen auf ein 40-Prozent-Plus-Ergebnis im Herbst wahren will. Deshalb der immense Druck auf Merkel, deshalb der Alleingang in der Asylpolitik. Man muss sich das noch einmal vor Augen führen: Der Bundesinnenminister notiert seine Vorstellung von einer guten Asylpolitik, nennt das Ganze großspurig "Masterplan", hält diesen aber wochenlang unter Verschluss, statt ihn im Bundeskabinett vorzustellen. Nur engste Vertraute und die Kanzlerin durften das Papier lesen, über das ganz Deutschland rätselte. So fördert man Politikverdrossenheit.

Die in die Enge getriebene Merkel kam der CSU weit entgegen. In einem Kraftakt mobilisierte sie die EU-Partner und erhielt dabei bemerkenswert große Unterstützung. Das Ergebnis des Brüsseler Migrationsgipfels lässt sich in vier Worte fassen: Europa mauert sich ein. Merkel opferte ihre liberale Flüchtlingspolitik der Stabilität ihrer Regierung, schwenkte weit nach rechts, um den Orbans, Kurzens, Contes entgegenzukommen. Weniger Augenmaß und Klugheit leiteten sie dabei als Hektik und Druck. Nur so ist zu erklären, dass mit großem Tamtam "Ausschiffungsplattformen" in Afrika und "Asylzentren" in Europa als Heilsbringer für die jahrelang kurzsichtige Migrationspolitik gepriesen werden, ohne dass auch nur ansatzweise zu erkennen ist, wie diese Einrichtungen praktisch umgesetzt werden sollen. Bislang erklärt sich kein einziger Staat dazu bereit, solche Plattformen und Zentren aufzubauen – weder in Nordafrika noch in Europa. Es wird sehr viel Geld brauchen, um das zu ändern. Deutsches Geld.

Ob dann noch eine CDU-Kanzlerin und ein CSU-Innenminister darüber entscheiden? Heute Morgen ab 8.30 Uhr will die CSU ihre in der Nacht unterbrochene Krisensitzung fortsetzen und ab 17 Uhr den letzten Einigungsversuch mit der CDU unternehmen. Dramatische Zeiten.

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WAS STEHT AN?

Das Drama in der Union wird Deutschland auch heute beschäftigen. In Berlin treffen sich die Fraktionen der Bundestagsparteien, Seehofer will doch noch mal mit Merkel sprechen, es wird ein heißer Tag, auch politisch, und es ist nicht auszuschließen, dass wir weitere Donnerschläge hören werden. Meine Kollegen aus unserem Politikteam werden auf t-online.de fortlaufend für Sie berichten.

Bei der ganzen Aufregung gerät allerdings leicht aus dem Blick, dass Flüchtlinge für Deutschland keinesfalls nur eine Belastung sind, ganz im Gegenteil: Will die Bundesrepublik wirtschaftlich stark bleiben, braucht sie Zuwanderung – auch aus Ländern außerhalb der Europäischen Union. Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld hat präzise erklärt, warum das so ist. Falls Sie heute außer dem "Tagesanbruch" nur Zeit für einen einzigen weiteren Text haben: Es sollte dieser sein.

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Während Deutschland auf das Polit-Drama in der Union starrt, spielt sich in Syrien ein echtes Drama um Leben und Tod ab. Unterstützt von iranischen Milizen und russischen Kampfjets erobern Einheiten von Diktator Assad die Rebellengebiete um die Stadt Daraa im Süden des Landes, wo der Aufstand gegen das Regime vor sieben Jahren begann. Mehr als 120 Menschen sind seit Beginn der Offensive getötet worden, laut UN sind in der Region mehr als 60.000 Menschen auf der Flucht. Die Nachbarstaaten Jordanien und Israel haben ihre Grenzen zugesperrt und wollen niemanden aufnehmen. Jordanien schickt aber Lastwagen mit Wasser und Lebensmitteln, Israel Krankenwagen. Ich wünschte, die Regierenden hierzulande würden sich ebenso für die Auslöser von Flucht und Vertreibung interessieren wie für ihre Folgen an den deutschen Grenzen.

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Tag fünf nach dem Aus der deutschen Nationalelf bei der WM in Russland. Noch immer wartet die Fußballwelt gespannt auf die Entscheidung von Joachim Löw: Bleibt er Bundestrainer oder tritt er zurück? Die Kritik am Auftritt des Teams hat längst auch die Spitze des Verbandes erreicht. Teammanager und DFB-Direktor Oliver Bierhoff werden der missratene Umgang mit der Erdogan-Affäre, die verfehlte Quartierwahl in Russland, die zunehmende Entfremdung von Fans und Journalisten und die selbstherrliche Haltung der DFB-Delegation in Russland vorgeworfen. Starker Tobak. Und Stoff genug für meine Kollegen Heiko Ostendorp und Florian Wichert: Im "Zweikampf der Woche" diskutieren sie, ob Bierhoff seinen Posten räumen sollte.

Das Management des DFB infrage zu stellen, ist sicher berechtigt – eines sollte man dabei aber nicht vergessen: Die Gründe für die Blamage in Russland liegen auch in der deutschen Bundesliga: "Sie ist an einem absoluten Tiefpunkt", analysiert unser WM-Reporter Benjamin Zurmühl. "Auch dort braucht es dringend einen Umbruch."

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WAS LESEN?

Der erste Lesetipp kommt heute von einem Gast: Jenni Thier ist Chefin vom Dienst bei der "Neuen Zürcher Zeitung". Sie schreibt: "Die Schweizer Nationalspieler Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri haben ihre WM-Tore gegen Serbien mit dem albanischen Doppelkopfadler bejubelt, den sie mit ihren Händen formten. Beide haben einen kosovarischen Hintergrund – wie viele andere junge Menschen, die in den Wirren der Balkankriege in die Schweiz flüchteten. Meine Kollegen Andreas Babst, Stefanie Hasler, Tobias Ochsenbein und Simon Tanner haben fünf von ihnen aufgesucht und ihre Geschichten vom Leben zwischen unterschiedlichen Identitäten erzählt."

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Und auch ich habe noch einen Lesetipp für Sie: Regierungskrise in Deutschland, Trump trifft Kim, WM in Russland – da ist der Iran zuletzt ein wenig aus den Schlagzeilen verschwunden. Dabei ist brisant, was sich in dem mächtigen Land politisch abspielt, auch der Konflikt um das Atomabkommen nimmt wieder an Schärfe zu. Meine Kollegen Dietmar Seher und Jonas Mueller-Töwe haben die Schlagzeilen Schlagzeilen sein lassen und sich genauer angesehen, was hinter den Kulissen geschieht. Die Ergebnisse ihrer Recherche sind beunruhigend: Der Iran arbeitet trotz des immer noch geltenden Atomabkommens an einem Arsenal hochfliegender und wohl kernwaffenfähiger Raketen. Er versucht in unverändertem Umfang, sich auf illegalem Weg in Deutschland dafür Bauteile und Technologie zu beschaffen. Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern glauben nun, Beweise dafür gefunden zu haben. Hier ist die ganze Geschichte.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Zum Abschluss habe ich heute eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die gute zuerst: Wenn Sie in Berlin wohnen, können Sie sich über ein Gesetz zum Ausbau der Radwege freuen. 100 Kilometer neue Radwege und 100.000 Fahrradstellplätze sollen es werden. Interessantes Detail: Wenn Sie in Berlin wohnen, orientiert sich der Ausbau der Radwege an einem großen Vorbild – dem Flughafen BER. Zur Zeit dauert das Aufmalen eines neuen Fahrradstreifens nämlich ab Beginn der Planungsarbeiten drei Mona ... nein, kleiner Scherz. Es dauert drei Jahre. Das ist die schlechte Nachricht.

Lassen Sie sich bitte von der schlechten Stimmung in der Politik nicht anstecken und genießen Sie den heutigen Sommertag.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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