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Tagesanbruch: Eine starke SPD wird dringend gebraucht


Was heute Morgen wichtig ist

Von Florian Harms

Aktualisiert am 24.09.2018Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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SPD FahnenVergrößern des Bildes
SPD Fahnen (Quelle: Patrick Seeger/dpa/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Tagelang standen die Großkoalitionäre wegen des Maaßen-Schlamassels am Abgrund – jetzt sind die drei Parteichefs Merkel, Seehofer und Nahles immerhin einen Schritt zurückgetreten: Sie blasen die Beförderung des umstrittenen Verfassungsschutzchefs zum Staatssekretär ab. Stattdessen soll der Mann jetzt “Sonderberater im Bundesinnenministerium“ werden und “europäische und internationale Aufgaben“ koordinieren. Er soll Flüchtlings-Deals mit afrikanischen Staaten und Verträge für die Rückführung von Asylbewerbern aushandeln – kann Merkel also künftig nicht mehr nur verbal, sondern auch tatkräftig mit einer harten Haltung in der Migrationspolitik nerven. Mehr Geld als bisher bekommt er dafür aber nicht. Der bisherige SPD-Staatssekretär Gunther Adler, auf dessen Stellen Maaßen zunächst rücken sollte, darf weitermachen.

Mit diesem Ergebnis haben die Chefs von CDU, CSU und SPD im letzten Moment den Absturz verhindert, die große Koalition hat ihre nächste existenzielle Krise überstanden. Alles gut also? Nein. Die Wunden, die Horst Seehofer, Angela Merkel und Andrea Nahles mit ihrer Hinterzimmermauschelei geschlagen haben, werden noch lange schmerzen – und tiefe Narben hinterlassen: in der Regierung, in den Parteien, in der Bevölkerung. Der Fall Maaßen hat den Bürgern den Kamikazekurs des CSU-Chefs, den Autoritätsverlust der Kanzlerin und den Dilettantismus der SPD-Vorsitzenden vor Augen geführt. Die Strafen dafür werden allerdings unterschiedlich hart ausfallen. Die CSU dürfte bei der Bayernwahl am 14. Oktober eine heftige Niederlage erleiden und wird sich anschließend mühsam wieder hochkämpfen müssen. In der CDU wird die Debatte über Merkels Nachfolge anschwellen. Das wird für Seehofer und Merkel hart und anstrengend, gefährdet aber nicht den Fortbestand der Union.

Die Lage der SPD ist anders, sie kämpft nun ums Überleben. Die älteste Partei Deutschlands leistet sich eine orientierungslose Führung, die kein Gespür für die Stimmung an der Basis besitzt. Da war der Vorstand, der sich für die große Koalition aussprach und dann vom heftigen Widerstand in Teilen der Partei überrascht wurde. Da war der Spitzenkandidat Martin Schulz, der erst herausposaunte, auf keinen Fall in ein Merkel-Kabinett einzutreten – und dann plötzlich Außenminister werden wollte. Da ist Parteichefin Nahles, die erst vollmundig versprach, Verfassungsschutzchef Maaßen werde gehen, dann dessen Beförderung zum Staatssekretär zustimmte und schließlich vom Proteststurm ihrer eigenen Leute überrascht wurde. Da sind die vielerorts ausgebluteten Ortsvereine, deren Veranstaltungen oft Zeitreisen in die Vergangenheit ähneln. Da ist die verwirrende Programmatik, die mal diesem Trend hinterherhechelt, mal jenem. Das SPD-Programm für die letzte Bundestagswahl glich einer Wundertüte: unzählige Forderungen, aber keine Seele. Politik ist auch Kommunikation, und solange es der SPD nicht gelingt, ihr Kernanliegen in ein, zwei klaren Sätzen unterzubringen, die jeder sofort versteht und die ein Bedürfnis breiter Bevölkerungsschichten widerspiegeln, wird sie keinen Erfolg haben. In dieser Verfassung braucht Deutschland die SPD nicht.

Dabei könnte sie es ja. Vor einem Jahr fragte ich Sigmar Gabriel, was der Kern der SPD sei. Seine Antwort: “Die Partei der Freiheit. Freiheit nicht nur von Not und Armut, sondern auch die Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben.“ Ich finde diese beiden Sätze bestechend, aber ich habe ihren Glanz weder im vollgepackten Wahlprogramm noch in den Koalitionsverhandlungen noch in den sechs Regierungsmonaten seit März gesehen. Dabei kann es eigentlich nicht so schwer sein, mit dem Streben nach Freiheit Anhänger hinter sich zu scharen.

Freiheit von Ausbeutung ist auch der Kampf für soziale Gerechtigkeit. Warum schwingt sich die SPD nicht viel vehementer zur Anwältin von Niedriglöhnern und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen auf? Der Mindestlohn war ein erster Schritt, aber eine starke politische Interessenvertretung haben die Kassiererinnen, Pfleger, Kindergärtnerinnen, Hebammen, Paketboten, Zeitarbeiter, Lkw- und Busfahrer bis heute nicht. Da liegt ein großes Wählerpotenzial für die SPD.

Freiheit bedeutet auch Schutz vor der Macht der Digitalkonzerne, die unser Privatleben, unsere sozialen Kontakte und unser Konsumverhalten organisieren und immer stärker auch beherrschen. Facebook, Google, Amazon und Co. müssten viel stärker reguliert werden; da könnte sich SPD-Justizministerin Barley ein Beispiel an EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager nehmen.

Wer frei leben will, braucht außerdem ein sicheres Lebensumfeld. Auch da könnte sich die SPD stärker profilieren. In den Sicherheitsbehörden, bei überarbeiteten Polizisten und in der kleingesparten Bundeswehr regt sich enormer Frust über Kanzlerin Merkel und ihre Flüchtlingspolitik, über Ursula von der Leyen und ihre oft als überheblich empfundene Attitüde. Warum macht die SPD sich dies nicht stärker zunutze, warum gibt sie diesen Menschen keine Stimme?

Ein Beratergremium der SPD-Führung hat kürzlich eine kritische Bestandsaufnahme des desaströsen Bundestagswahlkampfs vorgelegt. Das war mutig und ehrlich. Von der viel beschworenen Neuaufstellung der Partei sieht man bisher aber: nichts. Das mag auch daran liegen, dass sie wohl nicht nur mit einem neuen Programm und besserer Kommunikation, sondern auch mit neuen Gesichtern einhergehen müsste. Funktionären, die sich im Spagat zwischen der Regierungsverantwortung in einer Weiter-so-Groko einerseits und der verunsicherten Basis andererseits eingeklemmt sehen, fällt die Organisation eines Neuanfangs naturgemäß schwer.

Der Aufbruch müsste wohl aus den Bundesländern kommen. Viele Genossen an der Basis sehnen sich nach einer authentischen, kämpferischen Person wie der viel zu früh verstorbenen Berlinerin Regine Hildebrandt. Wenn sie den Mund aufmachte – ob am Infostand in der Fußgängerzone oder am Rednerpult im Landtag – verstand sie jeder. Sie sprach klare, ehrliche Sätze, und sie verstand die Nöte und Hoffnungen der Leute – weil sie ständig unter Leuten war. Der Vergleich mag hinken, aber ich glaube nicht, dass ihr ein Fehler wie Nahles im Fall Maaßen unterlaufen wäre. Sie hätte gespürt, dass diese Kungelei das Empfinden der Menschen für Gerechtigkeit und Anstand verletzt.

Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit – und neue Gesichter: Das könnten Bausteine für die Erfolgsformel einer erneuerten Sozialdemokratie sein. Diese SPD würde in Deutschland dringend gebraucht.

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WAS STEHT AN?

Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:

Wie reagieren die Gremien von Union und SPD auf die Wendung im Fall Maaßen? Ab 9 Uhr tagt das SPD-Präsidium, ab 10 Uhr der SPD-Vorstand und das CDU-Präsidium. Meine Prognose: Sie werden die Einigung akzeptieren, aber die Wunden schwären weiter.

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Heute ist die letzte Bundestagswahl genau ein Jahr her. Suchte man eine musikalische Metapher für den jetzigen Zustand der großen Koalition, klänge sie wohl so.

Der Zollstreit zwischen Amerika und China verschärft sich: Washington bestraft 200 Milliarden Dollar schwere Importe aus der Volksrepublik ab heute mit Zöllen von zehn Prozent. China reagiert mit Vergeltungszöllen auf US-Exporte im Wert von 60 Milliarden Dollar. All das wäre überflüssig, redete man mehr miteinander, statt einander zu bestrafen.

Bei der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten spielten Lügen und manipulierte Nachrichten auf Facebook eine wichtige Rolle. Das hat inzwischen auch der blaue Konzern erkannt, weshalb er versucht, Ähnliches vor den Zwischenwahlen im November zu verhindern: Er hat einen “War Room“ eingerichtet, in dem ab heute rund 20 Mitarbeiter falsche Berichte und Profile löschen sollen. Nähme der Konzern das Problem wirklich ernst, würde er nicht 20 Mitarbeiter darauf ansetzen. Sondern 20.000 – und zwar weltweit.

In Stockholm werden heute Morgen die Preisträger der Alternativen Nobelpreise bekannt gegeben. Die Jury ehrt jedes Jahr Kämpfer für Menschenrechte, Umweltschutz und Frieden. Wahre Helden.

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WAS LESEN?

Der Fall Maaßen ist Ausdruck einer wachsenden Entsolidarisierung: zwischen den Koalitionsparteien, zwischen CDU und CSU, in der Gesellschaft. “Das Trennende und Spaltende hat Konjunktur, nicht das, was verbinden könnte. Eine gefährliche Entwicklung“, schreibt Stefan Braun in der “Süddeutschen Zeitung“ – und stellt die Frage nach der Verantwortung: “Schuld daran sind nicht mehr nur jene rechtsradikalen und rechtsextremen Kräfte, die auf Spaltung und Abgrenzung setzen. Ebenso verantwortlich sind mittlerweile jene, von denen man das Gegenteil erwarten sollte: Die Bundesregierung und die sie tragenden Noch-Volksparteien.“ Eine düstere Analyse unserer Gegenwart. Es gibt allerdings Hoffnung für uns: in Finnland.

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Moment, nur in Finnland? Nein auch in Meißen. In der sächsischen Stadt gibt es einen Mann, der womöglich einen Weg gefunden hat, die Erosion der Demokratie aufzuhalten. Die Kollegen des “Tagesspiegel“ haben ihn getroffen.

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Max Luban und Dirk Plassek wiederum hätten sich wahrscheinlich nie getroffen. Sie leben zwar beide in Berlin, haben aber sonst kaum etwas gemein – vor allem trennen sie ihre politischen Ansichten. Am Sonntag haben sie sich trotzdem kennen gelernt und miteinander diskutiert. Sie machten bei der Aktion "Deutschland spricht" mit, die von t-online.de und vielen anderen Medien getragen wurde. Mein Kollege Johannes Bebermeier war bei ihrem Treffen dabei – und hat überraschend viel Einigkeit erlebt.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Wahlkampf-Werbespots sind oft vorhersehbar, sie rauschen an uns vorbei. Den kurzen Clip, den ich Ihnen heute zeigen möchte, werden Sie allerdings nicht so schnell vergessen. Man sieht zunächst das Übliche aus dem US-Wahlkampf: Leute aus dem Volk, die den gegnerischen Kandidaten kritisieren. Das kann er nicht! Jenes tut er nicht! Der Mann ist ungeeignet für das Amt! Soweit, so bekannt. Bis zu Sekunde 41. Dann. Platzt. Die. Bombe.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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