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Covid-19-Fehlalarm?: Zu viele Leute glauben den Corona-Verharmlosern


Was heute wichtig ist
Corona-Fehlalarm?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.09.2020Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Polizisten im Stuttgarter Nahverkehr kontrollieren die Einhaltung der Maskenpflicht.Vergrößern des Bildes
Polizisten im Stuttgarter Nahverkehr kontrollieren die Einhaltung der Maskenpflicht. (Quelle: Sebastian Gollnow/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Ein Kontinent, zwei Gesichter: 10.000 neue Corona-Fälle meldet Frankreich – pro Tag. "Wir verlieren den Überblick über die Neuinfektionen", warnen Ärzte in einem Brandbrief. In Spanien haben die Behörden an einem Tag mehr als 12.000 Fälle gezählt – die höchste Zahl seit Beginn der Pandemie. Auch Österreich schlägt Alarm, die Hauptstadt Wien entwickelt sich zum Hotspot der Seuche. Kanzler Kurz bereitet die Bevölkerung auf eine erneute Kehrtwende vor: Seit gestern gilt eine generelle Maskenpflicht, Veranstaltungen werden wieder eingeschränkt. Auch in anderen hochentwickelten Ländern droht die Pandemie außer Kontrolle zu geraten, allen voran Israel: Ab kommenden Freitag gilt dort ein landesweiter Lockdown, die Bürger dürfen sich nur noch 500 Meter außerhalb ihrer Wohnung bewegen. Ein dunkler Schatten der Unsicherheit liegt über diesen Staaten.

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Ganz anders die Lage in Deutschland, wo immer noch die helle Sorglosigkeit des Sommers scheint. Auch hier ist die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf rund 1.400 gestiegen, doch die meisten betreffen junge Menschen, die nur leichte oder gar keine Symptome aufweisen. Die Intensivstationen sind nicht überlastet, die Totenzahlen sind gering.

Umso mehr Aufmerksamkeit erhalten jene Stimmen, die die Gefahr des Virus‘ gänzlich abstreiten und die Schutzregeln für überflüssig oder sogar schädlich halten. Sucharit Bhakdi und Karina Reiss gehören dazu, deren Buch "Corona Fehlalarm?" seit Wochen ganz oben auf den Bestsellerlisten steht. Es kommt im Mäntelchen der Wissenschaft daher und gaukelt seinen Lesern vor, es liefere unbestechliche Fakten. Doch die Informationen sind überwiegend Monate alt, zum Teil manipulativ kombiniert und sparen viele entscheidende Studienergebnisse aus. Es ist ein seltsames Gebräu aus Polemik, Ahnungen und Behauptungen, auf das sich Zigtausende Leser da einlassen.

Gut sechs Monate nach Beginn der Corona-Krise in Deutschland müssten eigentlich alle schlauer sein. Politikern kann man beinahe täglich dabei zusehen, wie sie Positionen räumen und Entscheidungen korrigieren. Das ist richtig so. Sie sind in dieser Pandemie ebenso Lernende wie wir alle. Unumstößliche Wahrheiten gibt es nicht; wer anderes behauptet, macht sich unglaubwürdig. "Ich verstehe vollkommen, dass mit dem Wissen von heute die Entscheidungen von vorgestern hinterfragt werden. Das ist normal", sagt Jens Spahn (CDU).

Mit dem Wissen von heute hätte der Lockdown im Frühjahr nicht so drastisch ausfallen müssen, räumt der Gesundheitsminister ein. Solche Aufrichtigkeit ist erfrischend. Und wichtig, um die Glaubwürdigkeit der Politik zu wahren. Appelle allein genügen nicht mehr, um die kommenden Herbst- und Wintermonate durchzustehen. Die Regierenden in Bund und Ländern sollten noch transparenter erklären, auf welcher Basis sie ihre Entscheidungen treffen und warum sie diese gegebenenfalls revidieren.

Aber nicht nur Politiker sind in den kommenden Monaten gefordert. Auch jeder Bürger sollte sich täglich der Verantwortung bewusst sein, dem sein Handeln in dieser Krise zugrunde liegt. Halbwahrheiten aus dem Internet oder aus Bestsellern nachzuplappern, ist ja so einfach: Das Virus ist nicht gefährlicher als eine normale Grippe! Die Maske ist völlig nutzlos! Ein Impfstoff ist brandgefährlich! In vielen Kreisen gelten diese Parolen mittlerweile als "Allgemeinwissen". Bei genauerer Betrachtung entpuppen sie sich als Unfug. Ob das Herunterfahren des Landes im Frühjahr angemessen oder übertrieben war, wird man erst in der Rückschau beurteilen können, wenn die Pandemie ausgestanden und aufgearbeitet worden ist. Den handelnden Politikern jetzt überstürztes Handeln vorzuwerfen, ist unredlich. Sie haben angesichts der verfügbaren Erkenntnisse und der vorliegenden Zahlen nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Und natürlich standen auch sie – wie alle – unter dem Eindruck der beklemmenden Bilder aus Norditalien, dem Elsass und New York.

Deutschland ist bisher vergleichsweise gut durch die Seuche gekommen. Es hat schnell, entschlossen und diszipliniert gehandelt. Hygieneregeln durchsetzen, Geldschleusen öffnen, Solidarität hochhalten: Das hat uns trotz der gravierenden ökonomischen und gesellschaftlichen Schäden einen Vorteil verschafft, der uns bis heute hilft. Die Krankenhäuser sind nicht überlastet, die Zahl der Corona-Toten liegt unter 10.000, die Wirtschaft läuft langsam wieder an – während Länder wie Spanien, Frankreich und Israel in die zweite Welle taumeln, noch bevor sie die Folgen der ersten verkraftet haben. Ganz zu schweigen von Indien, Brasilien und den USA, wo die Seuche nach wie vor unkontrolliert wütet.

Wir alle hierzulande – die Politiker, Virologen und Journalisten ebenso wie alle anderen Bürger – mögen seit März manches falsch gemacht haben. Aber unterm Strich wird Deutschland für seinen Umgang mit der Corona-Krise weltweit Anerkennung gezollt. Und das zurecht. Wenn wir weiterhin einen kühlen Kopf bewahren und uns nicht von den Fabulanten und Provokateuren aus dem Takt bringen lassen, dann könnte unser Land im kommenden Jahr sogar gestärkt aus der globalen Krise hervorgehen: als Anker der Stabilität in einer wankenden Welt. Kühlen Kopf bewahren: Das ist im Herbst und Winter doch eigentlich gar nicht so schwer, oder?


WAS STEHT AN?

Seit Jahren schauen Europas Regierungspolitiker zu, wie auf der griechischen Insel Lesbos gestrandete Menschen in Dreck und Not hausen. Das sei Absicht, sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus: "Das ist eine Politik der Abschreckung." Je schlechter es den Geflüchteten in Europa gehe, desto weniger fühlten sich ermutigt nachzukommen. Mit dieser menschenverachtenden Haltung versuchen die Staats- und Regierungschefs zu kaschieren, dass sie sich bis heute nicht auf Migrationsregeln mit verbindlichen, am Arbeitsmarkt orientierten Zuwanderungsquoten und eine transparente Asylpolitik mit schnellen Verfahren einigen können. Stattdessen lassen sie sich seit Jahren von den Folgen der Konflikte im Nahen Osten, in Nordafrika und in Asien treiben. Folglich geraten sie auch jetzt ins moralische Schlingern, wenn es gilt, ein paar tausend Menschen aus der Not zu retten.

Dabei gäbe es einen Weg: EU-Vorreiterstaaten wie Deutschland, Frankreich und die Niederlande könnten die Flüchtlinge von Lesbos aufnehmen und ihnen schnelle Asylverfahren ermöglichen: Anerkennung oder Abschiebung? Parallel könnten sie die Zäsur des Dramas auf Lesbos nutzen, um endlich klare Prinzipien für eine europäische Migrationspolitik zu definieren. Die deutsche Ratspräsidentschaft bietet eine historische Gelegenheit dafür, kein Land genießt in der EU mehr Autorität.

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Auch in der Bundesregierung beginnt man zu begreifen, dass es mit Wegschauen allein nicht mehr getan ist. Die SPD-Chefin Saskia Esken gibt den Ton vor und erhöht den Druck auf Merkel, Seehofer und Co. Heute werden den ganzen Tag über Gespräche zwischen CDU, CSU und SPD laufen. Und morgen wollen sie dann verkünden, wie viele Menschen sie noch aufzunehmen gedenken. Bleibt zu hoffen, dass sie bis dahin ihr Rückgrat wiederfinden.


Politik ist ein hartes Geschäft – auch deshalb, weil Politiker permanent unter Beobachtung stehen. Vor allem von uns, den Journalisten. Wir berichten, analysieren und kommentieren von morgens bis abends, und manchmal persiflieren wir auch. Das gehe oft zu weit, meint Andreas Rödder. Der Historiker lehrt an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und gilt als konservativer Vordenker. Er sagt: Wenn Umfragewerte, Hochglanzbilder aus Herrenchiemsee und einzelne Sätze aus Talkshows mehr als Taten zählen und jede sachliche Debatte zum Streit skandalisiert wird, gerät unsere Demokratie in Gefahr. Ich finde diese These so spannend, dass ich Professor Rödder gebeten habe, seine Gedanken für uns aufzuschreiben. Hier ist sein Gastbeitrag, den ich Ihnen heute ans Herz lege (und allen meinen Journalistenkollegen auch).


Wie weit ist die Forschung an Impfstoffen gegen Corona, und welche Firma erhält wie viel von den 750 Millionen Euro Fördergeld des Bundes? Das wollen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) und Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, heute erklären.


Die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain unterzeichnen heute im Weißen Haus eine Vereinbarung zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel. Was auch immer man von Herrn Trump und den Ölscheichs hält: Das Abkommen ist ein großer diplomatischer Erfolg. Seltsam nur, dass es so kurz vor der US-Wahl kommt...


Was denken die Menschen in Deutschland und anderen Industriestaaten über die USA und deren Präsidenten? Das Forschungsinstitut Pew veröffentlicht heute in Washington seine jährliche Umfrage. Ich ahne das Ergebnis.


Mehrere Hilfsorganisationen stellen den Weltrisikobericht 2020 vor und erklären uns, wo in der Welt die Krisen von morgen lauern.


Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ermordeten die Nazis in Gardelegen in Sachsen-Anhalt auf einem "Todesmarsch" mehr als 1.000 KZ-Häftlinge. An der Gedenkstätte ist nun ein Dokumentationszentrum errichtet worden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet es heute.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

Israel ist weltweit das erste Land, das wegen des Coronavirus schon zum zweiten Mal einen Lockdown verhängt. Warum sind die Infektionszahlen dort so hoch – und was macht Deutschland besser? Meine Kollegin Sandra Simonsen erklärt es Ihnen.


Die USA seien eine Demokratie, heißt es. Jeder Bürger habe bei den Wahlen eine Stimme, und alle zählten gleich viel, heißt es. Das ist falsch. Schauen Sie sich bitte diese ZDF-Dokumentation an, dann verstehen Sie, warum die Präsidentschaftswahl am 3. November so problematisch wird.


Neonazis vernetzen sich immer stärker und stacheln Gesinnungsgenossen zu Terror und Mord an. Ganz vorn dabei sind die Extremisten der "Atomwaffendivision". Unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe verfolgt die Spuren der Gruppe schon länger. Nun hat er Neuigkeiten.


WAS AMÜSIERT MICH?

Was der liebe Mario Lars zeichnet, amüsiert mich täglich. Aber manchmal bleibt mir das Lachen im Halse stecken.

Trotz all dem Zynismus in der Welt: Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Genießen Sie den Spätsommer.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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