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Ein Geschwür lähmt unseren Staat


Tagesanbruch
Wir ersticken an der Bürokratie

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 30.03.2021Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Impfzentrum in Chemnitz.Vergrößern des Bildes
Impfzentrum in Chemnitz. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

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Selbst gefesselt

Wenn die Hütte brennt, darf man nicht lange fackeln. Anpacken, Eimer holen, löschen. Wer stattdessen darüber diskutiert, ob das Wasser zuerst in die Küche oder ins Schlafzimmer soll, ob er die Tür zur Wohnstube einschlagen darf und falls ja, wer denn bitteschön hinterher den Schaden bezahlt, der hat schon verloren. In einer Notlage zählen Schnelligkeit und Pragmatismus.

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Hierzulande haben wir pragmatisches Handeln früher ziemlich gut beherrscht. Ohne ihre hemdsärmelige Anpacker-Mentalität hätte die Nachkriegsgeneration das Land nicht so erfolgreich wiederaufgebaut. Leider haben wir diese Fähigkeit verlernt, heute ist Deutschland gefesselt von Bedenkenträgern und Bürokraten. Gute Ideen sterben im Paragrafenhagel, neue Impulse werden so lange mit kleinlichen Vorschriften bombardiert, bis nur noch Trümmer übrig sind. So stirbt die Kreativität, so werden einfache Lösungen zerredet statt ausprobiert. Sogar ein Macher wie Helmut Schmidt hätte es heute wohl schwer, sich gegen das Geschwür aus Verordnungen, Verfügungen und Erlassen durchzusetzen, das unseren Staat lähmt. Klare Kante zeigen heute nur noch wenige, und wenn die Kanzlerin im Fernsehen mal ein paar etwas weniger verschwurbelte Sätze sagt, werden die von Journalisten gleich zum "Machtwort" hochgejazzt. Dabei war das höchstens ein Macht-doch-bitte-mal-was-Wort.

Wir haben uns selbst gefesselt, und in einer Weltkrise wie Corona rächt sich das bitter. Es macht uns behäbig, verhindert schnelle Hilfe, kostet Menschenleben. Die Corona-Warn-App ist ein zahnloser Tiger, weil sie zu wenig Daten erfasst, sonst könnten ja Datenschützer aufjaulen. Auf Facebook breiten die Leute ihr halbes Leben aus, aber wenn der Staat sich mal selbst ins digitale Neuland wagt, kuscht er schon vor dem ersten Stoppschild. Noch immer verstauben Tausende Impfdosen in den Regalen, weil Berechtigte ihre Termine sausen lassen und die Vergabe sich starr nach den – Achtung – "Priorisierungsvorgaben der Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2" zu richten hat. Wehe, ein Jüngerer bekommt zu früh seine Spritze, das wäre der Super-GAU in unserem ordnungsliebenden Land! Unkomplizierte Lösungen wie in Amerika, wo im Supermarkt geimpft und übrig gebliebene Dosen an die nächstbesten Passanten vergeben werden? Undenkbar in der deutschen Paragrafendiktatur. Es könnte sich ja jemand beschweren oder, schlimmer noch, dagegen klagen.

Wochenlang wurde darüber disputiert, ob man Hausärzten das Impfen gestatten soll: Sie könnten ja klammheimlich jemanden bevorzugen! Das Misstrauen gegen die eigenen Mitbürger ist ein Meister aus Deutschland. Nachdem die Regierung sich endlich hat breitschlagen lassen, dürfen die Ärzte nun bald mitmachen, müssen sich dafür aber durch einen 26-seitigen Dokumentations-Dschungel kämpfen und die Impfdaten akribisch ans Robert Koch-Institut melden – mancherorts auf handschriftlichen Zetteln, die dann beim RKI fein säuberlich abgetippt und ins Meldesystem eingespeist werden. Damit alles seine liebe Ordnung hat. Wäre er noch unter uns, der große Loriot könnte bestimmt einen grandiosen Sketch über das deutsche Bürokratistan drehen. Denn das Corona-Management ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Ob im Straßenverkehr, am Arbeitsplatz oder im heimischen Vorgarten: Überall wimmelt es von Regeln, und wehe, sie werden verletzt. Wenn der Bäcker um die Ecke Verstärkung braucht und auf einem Schild vor seinem Laden eine Aushilfe sucht, dabei aber das (m/w/d) für "männlich/weiblich/divers" vergisst, riskiert er ein saftiges Bußgeld.

"Gutes Recht ist eine tragende Säule für Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand, Wettbewerbsfähigkeit und politische Stabilität in Deutschland", schreibt die Bundesregierung in ihrem Programm mit dem wohlklingenden Namen "Bürokratiebremse". "Recht muss einfach, verständlich und zielgenau ausgestaltet werden." Davon sind wir kilometerweit entfernt. Wir haben uns selbst mit unzähligen Vorschriften gefesselt und zappeln nun hilflos herum wie Bleichgesichter am Marterpfahl. Wir ersticken an unserer eigenen Bürokratie, auch das ist ein Grund für das deutsche Corona-Missmanagement.

"Ein Problem von Perfektionisten ist, dass sie keine Prioritäten setzen", hat die Kollegin Friederike Haupt in der "FAZ" geschrieben. Ein Satz, den sich die Politiker und Beamten im Kanzleramt, in den Ministerien und Staatskanzleien eingerahmt über die Schreibtische hängen sollten. Wer bei einem Hausbrand nicht weiß, was als Erstes zu tun ist, steht bald vor einem Haufen Asche. Wenn wir es nicht so weit kommen lassen wollen, müssen wir uns schnell von unser Bürokratiehörigkeit befreien.


Stille Nacht

Mehrere Kommunen haben sie schon, Brandenburg hat sie auch, sogar Tübingen mit seinem Sonderweg hat sie nun: Die nächtliche Ausgangssperre mausert sich zum vermeintlichen Allheilmittel, um die hochschnellenden Corona-Zahlen einzudämmen. Aber taugt sie wirklich dafür? Apologeten wie der Dauermahner Karl Lauterbach meinen: Ob Portugal, Spanien oder Großbritannien – kein anderes Land, in dem die britische Mutante grassiert, kam ohne die Sperre aus. Doch diese Länder haben eine andere Kultur, das öffentliche Leben spielt sich zu einem Großteil am Abend ab. Wird es unterbunden, ist der Effekt recht groß. Im Corona-gebeutelten Deutschland dagegen scheinen eher Schulen, Fabriken und Büros die Hauptinfektionsherde zu sein. Deshalb gehen meine Kollegen Melanie Weiner, Tim Kummert und Marc von Lüpke der Frage nach, wie effektiv eine bundesweite Ausgangssperre überhaupt wäre. Die meisten Bürger haben sich ihre Meinung offenkundig aber schon gebildet, wie meine Kollegen von Statista zeigen:


Jetzt wird’s ernst

Schlechtes Corona-Management, Maskenskandal, verlorene Landtagswahlen: Die Lage der CDU ist ernst. Innerhalb von zwei Wochen ist sie mitsamt ihrer Schwesterpartei CSU in Umfragen so massiv abgestürzt, dass angesichts gleichzeitiger Gewinne der Grünen plötzlich sogar eine Ampelkoalition möglich scheint. Nun rückt auch noch das geplante Zeitfenster für die Kanzlerkandidatenkür ("zwischen Ostern und Pfingsten") näher – und es häufen sich konträre Meinungsäußerungen aus der Partei, wer denn am besten antreten soll: Während Thomas Strobl aus Baden-Württemberg Armin Laschet das Rote Teppichle ausrollt, halten mehrere Mitglieder der CDU-Bundestagsfraktion CSU-Chef Markus Söder den Mantelsaum. Für Herrn Laschet ist das riskant: Als Chef der größeren Partei muss er das angestammte Recht auf die Kandidatur verteidigen. Macht er allerdings mit seinem Corona-Schlingerkurs so weiter und verspielt auch noch die letzten Sympathien in der breiten Bevölkerung, kann er sich bald darauf einstellen, wie weiland 2002 Angela Merkel dem CSU-Chef die Kandidatur beim Frühstück anzutragen. Noch aber ist es nicht so weit, noch kämpft er: Heute will der CDU-Vorsitzende im Konrad-Adenauer-Haus erklären, mit welchen Schwerpunkten die Union in den Bundestagswahlkampf startet. Nicht nur seine Freunde werden dabei jedes Wort auf die Goldwaage legen.

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Zweimal Recht

Eigentlich wünscht man sich ja die Militärjunta in Myanmar vor das Weltstrafgericht. Heute geht es dort aber um einen älteren Fall: Der kongolesische Warlord Bosco Ntaganda wurde bereits vor zwei Jahren wegen schwerster Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Weil er Berufung einlegte, muss heute neu entschieden werden. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe wiederum hat heute über Revisionen im Prozess um Waffenlieferungen des deutschen Herstellers Heckler & Koch nach Mexiko zu entscheiden. Von 2006 bis 2009 waren mehr als 4.000 Sturmgewehre und Zubehör durch erschlichene Genehmigungen in mexikanische Krisenregionen gelangt. Das Landgericht Stuttgart verurteilte zwei frühere Mitarbeiter zu Bewährungsstrafen und verpflichtete die Rüstungsfirma dazu, den kompletten Gewinn des illegalen Geschäfts an die Staatskasse abzudrücken. Ob es dabei bleibt, wird mit Spannung erwartet.


Was lesen?

Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen vor sechs Wochen von der drohenden Rückkehr des "Islamischen Staats" berichtete? Nun ist es so weit – allerdings nicht in Syrien, sondern in Mosambik: Kämpfer der Terrormiliz haben dort eine Küstenstadt erobert und ein fürchterliches Massaker angerichtet. In einer spektakulären Aktion konnten Tausende weitere Menschen in letzter Minute von Schiffen gerettet werden.


Die Zahl der Covid-Erkrankten wächst, die Situation auf vielen Intensivstationen wird wieder kritisch. Die "Süddeutsche Zeitung" liefert uns einen Lagebericht aus einer Münchner Klinik.


Auch mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist es für die Forschung ein Rätsel, wer warum wie stark an Covid-19 erkrankt. Allerdings können Fachärzte die Patienten inzwischen in drei Gruppen unterteilen. Meine Kollegin Sandra Simonsen hat sich von zwei Chefärzten erklären lassen, wo die Unterschiede liegen – und warum die Langzeitwirkungen der Seuche so riskant sind.


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht heute mit mehreren Bürgern, deren Leben von der Pandemie gezeichnet ist. Und Sie können per Livestream zusehen und auch selbst Fragen stellen.


Einer der sympathischsten Künstler, denen ich je begegnet bin, ist Thomas Anders. Genau, der von Modern Talking. Höflich, humorvoll, gebildet. Was er im Interview mit meiner Kollegin Jennifer Doemkes über die deutsche Bürokratie sagt, finde ich daher bemerkenswert.


Was amüsiert mich?

Viele nette Zuschriften von Leserinnen und Lesern des Tagesanbruchs haben mich in den vergangenen Tagen erreicht, dafür bedanke ich mich herzlich! Eine stammt von Herrn Peter Eulenstädt, ich möchte sie hier zitieren:

Der "Tagesanbruch" gehört für mich seit längerer Zeit zur morgendlichen Pflichtlektüre, erst danach bricht für mich der Tag an. Ich gehöre zu den Glücklichen, die bereits zweimal geimpft sind. Trotzdem macht mir das Virus und mehr noch seine Mutanten Sorge. Ich möchte mich aber nicht unterkriegen lassen, möchte zuversichtlich bleiben. Aus dieser Stimmung heraus ist ein kleines Gedicht entstanden:

Frühlingserwachen 2021

Frühling zieht ein Flatterband rot-weiß durch die Lüfte,
drängt auf Abstand, zeigt es auf, Leben hier, dort Grüfte.
Mund-Nasen-Schutz verbirgt brutal, wo Lächeln wird erwartet,
Frühling hin und Ostern her: Wie holprig es doch startet.
Die Hoffnung gebe ich nicht auf, es wird ein Ende geben,
an Covid gehe ich nicht drauf, ich häng zu sehr am Leben.
Ich freu mich drauf, wenn's wieder Zeit, die Düfte zu genießen,
umarm ich Euch. Dann ist es Zeit, den Frühling zu begrüßen.

In diesem Sinne wünsche Ihnen einen schönen Frühlingstag.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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