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Bundestagwahl 2021: Die nächste Bundesregierung braucht viel Mut


Tagesanbruch
Durch Deutschland muss wieder ein Ruck gehen

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 31.08.2021Lesedauer: 8 Min.
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Bundespräsident Roman Herzog bei seiner Ruckrede im April 1997.Vergrößern des Bildes
Bundespräsident Roman Herzog bei seiner Ruckrede im April 1997. (Quelle: dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

"die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind gewaltig. Die Menschen fühlen sich durch die Fülle der gleichzeitig notwendigen Veränderungen überlastet. Das ist verständlich, denn der Nachholbedarf an Reformen hat sich bei uns geradezu aufgestaut. Es wird Kraft und Anstrengung kosten, die Erneuerung voranzutreiben, und es ist bereits viel Zeit verloren gegangen. Niemand darf aber vergessen: In hochtechnisierten Gesellschaften ist permanente Innovation eine Daueraufgabe! Die Welt ist im Aufbruch, sie wartet nicht auf Deutschland."

Einfache Worte, klare Worte. Sätze, die wie ein Donnerhall durch die Republik dröhnten. Hotel Adlon neben dem Brandenburger Tor in Berlin, 26. April 1997: Bundespräsident Roman Herzog liest der politischen Elite die Leviten. Stillstand und Zaudern lähmen Deutschland und haben es im wirtschaftlichen Wettbewerb mit anderen Ländern zurückgeworfen. Der Wohlstand von Millionen Bürgern steht auf dem Spiel. So kann es nicht weitergehen.

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Das Staatsoberhaupt spricht Tacheles – und stellt klar, was das Land dringend braucht: "Es ist noch nicht zu spät. Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen." Und weiter: "Die Bürger erwarten, dass jetzt gehandelt wird. Wenn alle die vor uns liegenden Aufgaben als große, gemeinschaftliche Herausforderung begreifen, werden wir es schaffen. Am Ende profitieren wir alle davon." Mehr Klartext als in dieser legendären Ruckrede, die sich auch heute noch wie eine politische Offenbarung liest, geht nicht.

Das saß. Das wirkte. Der "Ruck durch Deutschland" beendete die Ära des ermüdeten Helmut Kohl und wurde zur Initialzündung für den Aufbruch der rot-grünen Koalition ab 1998. Ohne die Ermutigung des Bundespräsidenten wären die späteren Arbeitsmarktreformen kaum möglich gewesen. Nicht alles gelang, nicht alles war fair, heute hat sich die SPD längst von den Hartz-Gesetzen distanziert. Aber damals, zu Beginn des neuen Jahrtausends, bewirkten sie eine Entfesselung der Wirtschaft. Eigeninitiative und Leistungsdenken feierten ihre Wiederauferstehung, viele Menschen fühlten sich an die Aufbaujahre nach dem Krieg erinnert, und im Ausland schaute man staunend auf das neue deutsche Wirtschaftswunder.

Noch einmal: Nicht alles, was damals beschlossen wurde, war segensreich und gerecht, viele Menschen litten unter den Reformen, die Linken spalteten sich von der SPD ab, wovon die sich bis heute nicht vollständig erholt hat. Doch es waren genau diese Jahre, in denen der Keim für die neue wirtschaftliche Blüte des Landes gepflanzt wurde. Nur weil die Bundesrepublik ihren Arbeitsmarkt und ihr Sozialsystem reformiert hatte, konnte sie die Finanzkrise und die Euro-Schuldenkrise glimpflich überstehen und sogar gestärkt daraus hervorgehen, ganz anders als der Nachbar Frankreich. Weil der deutsche Export in den folgenden Jahren schnurrte und von einem Rekord zum nächsten jagte, besaß der Staat in der Corona-Pandemie genügend Geld, um die Schäden großzügig abzufedern. Deutschland konnte sogar klammen EU-Partnern helfen, indem es für gemeinsame Schulden haftete. Ohne die exzellente Bonität der Bundesrepublik an den Finanzmärkten wäre der europäische Rettungsplan niemals geglückt. Und all das hatte mit einer Rede in einem Berliner Hotel begonnen. So kann man das sehen.

Und so gilt es auch heute wieder, 24 Jahre nach Roman Herzogs Rede: Durch Deutschland muss wieder ein Ruck gehen. Mit dem Unterschied, dass die Herausforderungen noch gewaltiger sind als damals. Der Reformstau ist riesig – und wieder haben viele Bürger den Eindruck, dass die politischen Parteien bislang nicht in der Lage sind, ihn beherzt aufzulösen. "Was sollen wir bloß tun?", schreibt mir zum Beispiel Tagesanbruch-Leser Frank Lutomski aus Herne, und was er schreibt, höre ich auch von vielen anderen Leserinnen und Lesern: "Bald stehen Wahlen an. Es geht nicht weniger als um die Zukunft Deutschlands. Und es zeichnet sich ab, dass keine Partei und kein Kandidat Kompetenz erkennen lässt oder Ideen für die Herausforderungen der Zukunft hat. Was die Schwarzen und die Roten so alles überrascht hat! Wirecard. Corona und seine Folgen. Die Flutkatastrophe. Und nun Afghanistan. Sowohl Laschet als auch Scholz haben das als Spitzen ihrer Partei mitzuverantworten. Die Grünen haben für einen kurzen Moment über das Kanzleramt nachdenken dürfen. Aber wer so dilettantisch in den Wahlkampf zieht, wäre im Kanzleramt überfordert. Die Gelben sind und bleiben eine Fahne im Wind und eine Klientelpartei. Die Dunkelroten haben Weltpolitik nicht verstanden und halten Sozialismus immer noch für erstrebenswert. Und die Braunen, sorry, Blauen? Dazu bedarf es keines Kommentars. Also nicht wählen gehen? Auch keine gute Idee." Was also tun?

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen, hat Helmut Schmidt gesagt, der alte Pragmatiker. Doch die Herausforderungen unserer Zeit erfordern mehr als Pragmatismus. Wer heute keine Visionen für eine erfolgreiche Zukunft des Landes entwirft, steckt mit dem Kopf im Sand. Ein Weiter-so, das Fahren auf Sicht, das Abwarten reicht nicht mehr. Wer die nächste Bundesregierung führen will, braucht Tatkraft und Mut. Und muss sie jetzt glaubhaft zeigen.

Der Corona-Schuldenberg ist erdrückend. Die gesamten Verbindlichkeiten von Bund, Ländern, Gemeinden, Gemeindeverbänden und der Sozialversicherung bei privaten Banken und Unternehmen im In- und Ausland betragen mehr als zwei Billionen Euroder höchste jemals erfasste Wert. Nun gibt es die einen, die sagen: Sobald die Wirtschaft wieder richtig angesprungen ist, werden ja wieder Steuereinnahmen sprudeln, dann erledigt sich das Problem von selbst. Und es gibt die anderen, die warnen: Die Schulden sind längst so hoch, dass sie selbst in guten Zeiten die Regierungen auf Jahre hinaus in ein Sparkorsett zwingen werden. All die Versprechungen der Parteien für die Zeit nach der Bundestagswahl – Windparks, Solardächer, Stromtrassen, Mietzuschüsse, Rüstungsvorhaben, Bildungsprojekte, Rentenerhöhungen oder gar weniger Steuern – könnten sich angesichts dessen schnell als Luftschlösser entpuppen.

In der Außenpolitik fehlt Deutschland eine klare Strategie. Wie soll man mit Dauerkrisenherden wie in Afghanistan, Syrien, Irak, Libyen, Mali, der Ukraine umgehen? Die Bundesregierungen unter Angela Merkel sind in viele dieser Krisen mehr oder weniger hineingestolpert und haben dann versucht, sie irgendwie zu entschärfen. Das wird nicht mehr reichen. Es braucht einen langfristigen Plan, welche Rolle Europa in der Welt spielen will. Dazu gehört auch eine Antwort auf die Frage, wann es die vielbeschworene europäische Armee geben und welche Kompetenzen sie bekommen soll: Auch das Recht zu Kampfeinsätzen, um europäische Interessen im Ausland zu schützen – völkerrechtliche, politische, womöglich auch wirtschaftliche? Solange diese Fragen offenbleiben, werden die EU-Staaten außenpolitische Zwerge bleiben, werden immer häufiger zum Spielball von Amerikanern, Chinesen, Russen – und müssen am Ende die Folgen ausbaden. Siehe Kabul.

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Mit der außenpolitischen Positionierung hängen Migrationsfragen zusammen. Hier sind die EU-Staaten heillos zerstritten, wodurch sie sich im Ringen der Weltmächte selbst schwächen. Die Hartherzigkeit, mit der Länder wie Österreich, Polen und Ungarn jegliche Aufnahme von Flüchtlingen verwehren, wird auch die künftige Bundesregierung vor große Probleme stellen. In der globalisierten Welt kann sich kein Land komplett abschotten und der Verantwortung zur Nothilfe entziehen. Es geht ja nicht mehr darum, wie 2015 Zigtausende Menschen ungezügelt ins Land zu lassen, sondern darum, in prekären Situationen, wie jetzt in Afghanistan, Notleidenden und Gefährdeten Schutz zu gewähren. Und dabei ist noch kein Wort über die qualifizierten Einwanderer verloren, die dringend gebraucht werden, um all die offenen Stellen in der Altenpflege, in Krankenhäusern und Fabriken zu besetzen.

Eine noch größere Aufgabe ist der Umbau des Wirtschaftssystems zu einer emissionsfreien Produktion, um noch schwerere Klimaschäden zu verhindern: Auch diese Aufgabe erfordert tiefe Eingriffe in die Lebenswelt von Millionen Menschen. Die Energiewende wird aber nur gelingen, wenn zwei Prozent der deutschen Landesfläche mit Windrädern zugestellt werden – auch im idyllischen Schwarzwald, auch im malerischen Harz, auch im pittoresken Allgäu. Schön ist das mitnichten, aber andere Wege, binnen kurzer Zeit genug Strom für die deutsche Industrie zu produzieren, auch für den privaten Verbrauch und für all die E-Autos, die den Verbrennungsmotor ersetzen sollen, gibt es gegenwärtig nicht – jedenfalls nicht, wenn Deutschland wirklich vollständig aus der Atomkraft aussteigen will. Außerdem wird jedes neue Gebäude ein Solardach brauchen, und viele bestehende Häuser müssten nachgerüstet werden. Auch das erfordert einen immensen Aufwand, auch das wird Widerstand provozieren. So ist der Forschungsstand heute – wenn nicht noch ganz neue Ideen zu alternativen Lösungen führen.

Im Vergleich dazu scheint die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, der Schulen und des Verkehrs fast wie ein Klacks – was sie natürlich nicht ist, im Gegenteil. Auch das wird eine riesige Aufgabe, und sie wird dadurch erschwert, dass es hierzulande immer noch erschreckend wenig digitales Know-how gibt, auch in Regierungskreisen. Die Folgen machen sich nicht nur in der Software, sondern auch in der Hardware bemerkbar, etwa beim stockenden Ausbau des Glasfasernetzes.

Und der Wohnungsmangel in vielen Städten? Auch der wird sich nicht durch übereilten Aktionismus, sondern nur durch eine langfristige Strategie lindern lassen. Mietpreisdeckel eignen sich toll für Wahlplakate, aber was wirklich hilft, sind Kommunen, die viel, viel mehr Wohnungen bauen. Nicht nach Schema F, sondern mit intelligenten Konzepten, die die Bedürfnisse von Kindern, Familien, Singles und Senioren gleichermaßen berücksichtigen. Auch das kostet Zeit, Geld und Nerven.

So viele große Aufgaben – zu denen noch viele weitere hinzukommen werden, aber ein Morgen-Newsletter ist ja kein Foliant. Klar ist: Die Aufgaben sind riesig, und es wird nicht genügen, wie bisher ein bisschen hier und ein bisschen da herumzuwerkeln. Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Da hat er schon Recht gehabt, der Roman Herzog. Als ich ihn lange nach seiner berühmten Rede mal auf einem Schiff traf, fragte ich ihn, ob er eigentlich den Eindruck habe, dass seine Rede etwas bewirkt habe. "Natürlich", antwortete er und schaute mich lange an, "das Land hat sich doch bewegt. Wir sind doch wieder erfolgreich!" Einfache Worte, klare Worte. Wir sollten sie beherzigen.


Ende mit Schrecken

Die letzten amerikanischen Soldaten haben den Flughafen Kabul verlassen. Damit endet der fast 20-jährige Militäreinsatz in Afghanistan, in dem die USA nach offizieller Zählung 2.448 Soldaten verloren haben – wobei der vergangene Donnerstag mit 13 bei einem Sprengstoffanschlag getöteten GIs für die US-Streitkräfte zu den verlustreichsten Tagen des gesamten Krieges gehört. Ebenfalls beendet sind damit die militärischen Evakuierungsflüge, durch die seit Mitte August rund 115.000 Menschen außer Landes gebracht worden sind. Und beendet ist auch die Illusion des Westens, dass sich ferne Völker durch ein moralisch aufgeladenes "Nation Building" befrieden lassen.

Außenminister Heiko Maas setzt seine Afghanistan-Mission derweil in Pakistan fort. Dabei geht es um die Bereitschaft des Nachbarlandes, Flüchtlinge aufzunehmen, die sich auf dem Landweg vor den Taliban in Sicherheit bringen wollen. Usbekistan habe ihm bereits Unterstützung bei der Ausreise von Deutschen, Ortskräften und Schutzbedürftigen zugesichert, erklärte Herr Maas gestern in Taschkent. Allerdings hieß es aus dem dortigen Außenministerium, die Grenze zu Afghanistan sei "vollständig geschlossen". Die Kollegen der "Welt" bringen es auf den Punkt: "Die Verhandlungsmasse ist nun finanzieller Natur." Wo die Moral am Ende ist, helfen eben nur noch Dollars.


Strafe muss sein

Soeben klang die polnische Regierung noch kompromissbereit: Da hatte sie im Streit mit der EU die Abschaffung der umstrittenen Disziplinarkammer für Richter angekündigt. Doch heute droht die nächste Eskalation zwischen Warschau und Brüssel: Auf Antrag von Regierungschef Mateusz Morawiecki entscheidet Polens Verfassungsgericht darüber, ob mehrere wichtige Paragrafen in den EU-Verträgen mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Sollten die Richter Letzteres verneinen, wäre das ein Kinnhaken für das EU-System, das darauf angewiesen ist, dass sich alle Mitglieder an die gemeinsamen Regeln halten. Dann bliebe der Kommission nichts anderes übrig, als endlich den neuen Rechtsstaatsmechanismus zu nutzen und Polen das Geld zu kürzen.


Was lesen?

Er wäre gern selbst Parteichef geworden – stattdessen muss er nun zuschauen, wie die CDU in den Umfragekeller rasselt: Was Friedrich Merz von der prekären Lage in der Union hält, hat er meinen Kollegen Lisa Becke und Tim Kummert erzählt.


Die Corona-Beschränkungen sind gelockert, schon mindestens 65 Prozent der Erwachsenen sind mindestens einmal geimpft – trotzdem gibt es nun höhere Inzidenzen, höhere Patientenzahlen und sogar höhere Covid-Todeszahlen als vor einem Jahr. Wie kann das sein? Meine Kollegin Sandra Simonsen erklärt es Ihnen.


Was amüsiert mich?

Der Armin Laschet ist echt zu bedauern. Der wird überall veralbert. Sogar in den öffentlich-rechtlichen Medien.

Ich wünsche Ihnen einen sorgenfreien Tag. Und uns allen einen baldigen Ruck. Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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