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Nach Putins Angriffskrieg auf die Ukraine: Deutschland zieht in den kalten Krieg


Tagesanbruch
Deutschland zieht in den kalten Krieg

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.02.2022Lesedauer: 5 Min.
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Kanzler Scholz will Deutschland massiv aufrüsten.Vergrößern des Bildes
Kanzler Scholz will Deutschland massiv aufrüsten. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wir erleben grausame, aber auch historische Tage. Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine fordert hohe Opfer auf beiden Seiten. Auf Telegram, Twitter, YouTube sind Tausende von verwackelten Videos zu sehen, selten ist ein Krieg so akribisch dokumentiert worden: Russische Kampfjets und Hubschrauber feuern auf Flughäfen, Treibstofftanks und Wohnhäuser. In der Nacht sind Truppen auf Kiew vorgerückt, darunter kampferprobte Tschetschenen.

Mehr als 200 ukrainische Zivilisten sollen schon getötet worden sein. Frauen und Kinder kauern verängstigt in Metrostationen. Viele ihrer Männer und Söhne greifen zu den Waffen, Präsident Wolodymyr Selenskyj und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko haben eilig Freiwilligenverbände aufgestellt.

Was die Bilder auch zeigen: Putins Generäle scheinen den Widerstand der Ukrainer unterschätzt zu haben. Schon in den ersten vier Tagen des Feldzugs haben sie unbestätigten Berichten zufolge Dutzende Panzer und Hunderte Transporter verloren; schon mehr als 4.300 russische Soldaten sollen gefallen sein. Leichen liegen auf den Straßen und in Helikopterwracks. Blutjunge russische Gefangene stammeln verwirrt in ukrainische Smartphone-Kameras – angeblich haben sie von ihren Kommandeuren gesagt bekommen, sie sollten in eine "Militärübung" ziehen.

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In mehreren Städten tobt der Häuserkampf, in der Millionenmetropole Charkiw im Osten des Landes konnten ukrainische Verbände die Russen zurückschlagen. Präsident Selenskyj meldet sich immer wieder in kurzen Videos zu Wort und macht den Bürgern Mut; schon jetzt gilt er vielen als Kriegsheld. Offenkundig hat auch Putin selbst den Widerstand unterschätzt, nun lässt er seine Leute an der belarussischen Grenze mit ukrainischen Gesandten verhandeln – hat jedoch zugleich seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt (hier finden Sie den aktuellen Nachrichtenstand).

Das zweitgrößte Land Europas ist ein Schlachtfeld, der Verbrecher im Kreml droht mit einem Atomschlag – und der Westen starrt entgeistert auf die Tragödie.

Tagelang hat die deutsche Regierung gebraucht, um eine klare Haltung zu finden. Tagelang sperrte sie sich dagegen, Putins Regime mit wirklich harten Sanktionen zu bestrafen und der Ukraine Waffen zu liefern. Am Ende war Deutschland in der gesamten EU isoliert: Es stand 1 gegen 26. Während die Regierungschefs der baltischen Staaten und der Niederlande händeringend darum baten, endlich Kriegsgerät aus deutscher Produktion nach Kiew liefern zu dürfen, während Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki persönlich nach Berlin eilte, um Scholz ins Gewissen zu reden, warf die Bundesregierung rhetorische Nebelkerzen. Offenbar reicht der Einfluss von SPD-Chefin Saskia Esken und SPD-Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich, die in der Partei als "Russlandversteher" gelten, bis in den siebten Stock des Kanzleramts.

Deutschland isoliert von seinen Verbündeten in Europa: Diesen Eiertanz konnten Olaf Scholz und Annalena Baerbock nicht lange durchhalten. Am Wochenende fielen sie um. Am Samstagabend kündigte Scholz an, der Ukraine nun doch Panzerabwehrwaffen und Raketen zu liefern. Große russische Banken werden nun doch vom Swift-System ausgeschlossen, was die Kriegswirtschaft trotz Milliardenrücklagen hart treffen kann. Auch Teile dieser Rücklagen bei europäischen Zentralbanken werden blockiert.

Das bürokratische Hickhack um den Bau von zwei Terminals für amerikanisches und arabisches Flüssiggas wird endlich beendet, nun sollen die Anlagen in Brunsbüttel und Wilhelmshaven entstehen. Die russischen Propagandasender RT und Sputnik werden in der EU verboten. Und natürlich ist nicht mehr damit zu rechnen, dass die letzten drei deutschen Atomkraftwerke wie geplant zum Jahresende abgeschaltet werden.

Es ist ein ganzes Arsenal an Strafen und es sind gleich mehrere politische Kehrtwenden, mit denen Deutschland und die anderen EU-Staaten in den kalten Krieg gegen den Kreml ziehen. Die gröbste Waffe zückte der Kanzler selbst: Am Sonntag hielt er im Bundestag eine Regierungserklärung, die mit Fug und Recht als historisch bezeichnet werden kann. Olaf Scholz beantwortet die Zeitenwende des russischen Angriffskriegs, indem er zentrale Prinzipien deutscher Regierungspolitik umwirft.

Statt die Bundeswehr weiter kleinzusparen, will er nun massiv ins Militär investieren: Zusätzlich zum Verteidigungshaushalt in Höhe von 50 Milliarden Euro leiht er sich noch dieses Jahr weitere 100 Milliarden Euro aus dem Staatssäckel. Deutschland will endlich leisten, was seine Partner in Osteuropa und Amerika seit Jahren verlangen: Jährlich sollen mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung fließen.

"Wir werden eintreten für ein freies und gerechtes Europa. Wir werden es verteidigen", versprach der Kanzler im Bundestag und bekam von allen Fraktionen stehenden Applaus, nur die Verfassungsfeinde von der AfD schwiegen. "Es war die beste Rede in Scholz' gesamter Karriere", schreiben unsere Reporter Johannes Bebermeier und Sven Böll. "Sie verändert alles."

Nach tagelangem Lavieren hat die Bundesregierung endlich die Kurve gekriegt. Damit kann sie vom Außenseiter in der EU wieder in eine Führungsrolle zurückfinden – und möglicherweise auch Länder außerhalb der Union mitziehen. Etwa die Schweiz, deren Regierung sich bisher geweigert hat, die Milliardenvermögen russischer Oligarchen einzufrieren. Der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis kündigte noch am Sonntag überraschend an, es sei "sehr wahrscheinlich", dass der Bundesrat die Maßnahme schon am Montag auf einer außerordentlichen Sitzung beschließen werde. Rund 80 Prozent des russischen Rohstoffhandels laufen über Schweizer Finanzdienstleister.

Gleichzeitig ist Deutschland jetzt gefordert, eine drohende Hungerkrise zu verhindern: Bisher kommen Russland und die Ukraine für ein Drittel der weltweiten Weizenlieferungen auf, doch durch die Kämpfe sind die Exporte gefährdet. Millionen Menschen in Afrika, Asien und dem Nahen Osten dürften die Folgen zu spüren bekommen. Auch dort wird es bald Nothilfe brauchen.

Der Kriegsverbrecher im Kreml hat Europa in eine historische Krise gestürzt. Tausende Menschen bezahlen diesen Wahnsinn mit ihrem Leben, Tausende werden verletzt, Orte zerstört, Unsummen für Kriegsgerät verpulvert, die an anderer Stelle dringend benötigt würden – das ist die dunkle Seite dieser Tage. Es gibt aber auch eine helle: Putin schweißt ungewollt die demokratischen Länder Europas zusammen. Endlich begreifen sie, dass sie ihre Freiheit entschlossener als bisher verteidigen müssen.

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Frieden und Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Darüber hinaus hat Putin womöglich selbst den ersten Nagel in den Sarg für sein Regime geschlagen. "Der Putinismus ist dem Untergang geweiht, denn er ist der Feind der Freiheit, der Feind der Demokratie", glaubt Wladimir Sorokin, Russlands bedeutendster lebender Schriftsteller. "Das haben nun alle Menschen begriffen." Bleibt zu hoffen, dass es wirklich so kommt.


Szene des Tages

Wie sieht es aus, wenn ukrainische Zivilisten einen russischen Panzer stoppen? So sieht es aus.


Was geschieht noch?

Die Benzin-, Öl- und Gaspreise steigen seit Wochen, nun explodieren sie erst recht. Am Nachmittag treffen sich die Energieminister der EU, um gegenzusteuern. Für Deutschland ist Robert Habeck dabei, der bereits umrissen hat, worum es künftig geht: Reserven bilden, den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen und unabhängig von Russland werden.

Köln hat den Karnevalsumzug wegen Corona abgesagt, wegen des Ukraine-Krieges fällt auch das Rosenmontagsfest aus. Stattdessen soll es eine Friedensdemo durch die Innenstadt geben.

In Genf legt der Weltklimarat seinen neuen Bericht vor. Hunderte Wissenschaftler haben dafür mehr als 34.000 Studien ausgewertet. So wissen wir noch genauer, was wir ohnehin wissen: Die Klimakrise für Mensch und Natur muss schnell eingedämmt werden.


Was lesen?

Die Lage an der ukrainisch-polnischen Grenze ist dramatisch: Zigtausende Menschen fliehen vor dem Krieg. Unsere Reporter Frederike Holewik und Michael Körner haben vor Ort bewegende Szenen erlebt.


"Ich schäme mich": Auch in Russland protestieren mutige Menschen gegen Putins Angriffskrieg. Viele werden verhaftet.


Deutschland trägt eine Mitverantwortung an der Eskalation in der Ukraine: Die Bundesregierung habe jahrelang bei der europäischen Sicherheit versagt, schreiben unsere Gastautoren Nils Wörmer und Philipp Dienstbier.


Das Atomkraftwerk Brokdorf ist Geschichte, doch 1981 ging es dort hoch her. Was damals geschah, lesen Sie auf unserem Historischen Bild.


Was amüsiert mich?

Deutschland rüstet auf.

Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag. Morgen schreibt Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Mittwoch wieder.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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