Neue Entwicklung im Ukraine-Krieg Das ist eine Blamage für Putin
Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der russische Präsident sieht eine erhöhte Gefahr eines Atomkrieges. Putins Drohung ist kein Zufall: Russland muss erneut eine Blamage wegstecken.
Es ist erneut eine Drohung auf offener Bühne: Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte in einer Rede am Mittwoch, dass sich die Gefahr eines Atomkrieges erhöht habe. Russland sehe sein Atomwaffenarsenal zwar "nur" als Abschreckung, werde aber das eigene Territorium "mit allen Mitteln" verteidigen, so Putin auf einer Sitzung des Menschenrechtsrats des Kremls.
Ähnliche Äußerungen gab er schon seit Kriegsbeginn von sich, auch wenn er sie nun etwas abschwächt. Sein erneuter Hinweis darauf, dass Moskau aus seiner Sicht die tonangebende Macht im Ukraine-Krieg ist, kommt nicht von ungefähr.
Zuletzt musste der Kremlchef immer wieder militärische Niederlagen hinnehmen. Die Ukraine greift etwa mit Drohnen wichtige militärische Infrastruktur in Russland an. Auch am Donnerstag waren wieder Brände und Rauchwolken in Belgorod nahe der ukrainischen Grenze zu sehen, wie Fotos belegen. Das kann Putin gefährlich werden.
Denn das Bild der eigenen Unverwundbarkeit, das der Kreml seit Kriegsbeginn von sich zeichnet, wird immer brüchiger. Das dürften auch viele russische Soldaten mitbekommen, die sich seit Monaten die Zähne an gut verteidigten Frontabschnitten ausbeißen, ohne voranzukommen. Darunter leidet nicht nur ihre Kampfmoral. Am Ende sind Putins Atomwaffendrohungen womöglich vor allem eines: ein innenpolitisches Signal an die russische Bevölkerung, die immer kriegsmüder wird.
Ukrainische Angriffe auf Russland
Nach neun Monaten Invasion ist Russland militärisch fast überall in der Defensive. Nur im Donbass kommt die russische Armee etwas voran – allerdings unter hohen Verlusten. Die ukrainischen Nadelstiche verstärken diesen Eindruck: Die Angriffe auf das Staatsgebiet Russlands sollen vor allem Kräfte der russischen Armee im eigenen Land binden. Im Gegensatz zum russischen Raketenterror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung beschränkt sich die Ukraine bei ihren Angriffen auf militärische Ziele.
Dabei gibt es nicht nur in den an die Ukraine grenzenden russischen Regionen Kursk, Brjansk und Belgorod oder auf der von Moskau annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim immer wieder Explosionen und Einschläge. Die Angriffe reichen inzwischen Hunderte Kilometer weit in russisches Gebiet und bedrohen Luftplätze und strategische Bomber, die Teil der nuklearen Abschreckung Russlands sind.
Die Ukraine räumt diese Angriffe wie so oft nicht ein, sondern deutet allenfalls durch hämische Kommentare eine Beteiligung an. "Lass es brennen", schrieb etwa der Chef des ukrainischen Präsidentenamtes, Andrij Jermak. Für Putin sind sie eine Blamage, die eine doppelte Verwundbarkeit Russlands offenbart:
Sie zeigen einerseits, dass die russische Luftverteidigung – wie schon bei den Drohnenangriffen auf die Krim – Schwachstellen hat, sie sich ausbeuten lassen. Andererseits sind die Angriffe ein Signal an die Bevölkerung: Auch die Menschen in Russland sind in diesem Krieg nicht sicher.
Putin: "Wir sind nicht verrückt geworden"
In der Vergangenheit nutzte der Kreml Nukleardrohungen, um die westlichen Verbündeten zu erpressen, damit diese der Ukraine weniger Waffen lieferten. Nun könnte die russische Führung es anders gemeint haben: als Erinnerung an die Menschen in Russland, dass sie sich unter dem atomaren Schutzschirm des Kremls befinden.
Denn Putins Äußerungen zum Trotz ist der Einsatz von Nuklearwaffen durch Russland in den vergangenen Monaten eher unwahrscheinlicher geworden. Der G20-Gipfel in Indonesien oder auch der Staatsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in Peking haben gezeigt, dass ein Großteil der Welt schon die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen scharf verurteilt. Selbst China und Indien stellten sich in der Frage deutlich gegen den Kreml.
Die indirekten Atomdrohungen waren für Putin ein Schuss in den Ofen. Mittlerweile ist Russland international noch stärker isoliert als zu Kriegsbeginn. Das weiß auch der russische Präsident. Seine Äußerungen vom Mittwoch sind daher nicht mehr ganz so scharf wie zuvor. Putin bekräftigt die Rolle der russischen Massenvernichtungswaffen als "Mittel der Verteidigung", nicht als Angriffswerkzeuge.
"Wir sind nicht verrückt geworden, uns ist bewusst, was Atomwaffen sind", so der Kremlchef weiter. Putin möchte mit dieser Relativierung auch die Ängste seiner letzten Verbündeten zerstreuen. China etwa würde mit dem Kreml brechen, setzte die russische Armee tatsächlich Massenvernichtungswaffen ein.
Internationale Isolation Russlands
Für Putin war es riskant, überhaupt die Gefahr eines Atomkrieges in einer Rede zu beschwören. Ihm droht damit erneut eine Ohrfeige der internationalen Gemeinschaft, wie etwa bei der G20-Abschlusserklärung auf Bali. Dass er dieses Risiko trotzdem eingeht, zeigt seine Schwäche angesichts der anhaltenden schlechten Nachrichten für die russische Bevölkerung. Die militärischen Misserfolge kosten Substanz.
Und die Ukraine und der Westen? Natürlich werden Putins Drohungen ernst genommen, schließlich hat Russland in der Tat ein großes Atomwaffenarsenal. Aber die westliche Politik scheint allgemein nicht in Panik zu verfallen, nur weil er schon wieder von der Atombombe spricht. Bei Kriegsbeginn war das noch anders. Mittlerweile kann der Westen die Drohgebärden aus Moskau besser einschätzen.
Das gilt auch für Kanzler Scholz. Der SPD-Politiker erklärte am Donnerstag der Funke Mediengruppe, dass die internationale Gemeinschaft eine "rote Linie" in Bezug auf den russischen Einsatz von Atomwaffen gezogen hat. Auf die Nachfrage, ob die Gefahr einer atomaren Eskalation abgewendet ist, sagte Scholz: "Für den Augenblick haben wir einen Pflock dagegen eingeschlagen."
Putin braucht Erfolge
Der Westen und die Ukraine lassen sich demnach von Putin nicht mürbe machen – und gehen ihren eingeschlagenen Pfad im Ukraine-Konflikt weiter. Auch Putin scheint nicht zu erwarten, dass seine Drohungen noch einen relevanten politischen Nährboden im Westen finden. Im Gegenteil: Das Momentum in diesem Krieg ist momentan aufseiten der Ukraine – und die ukrainische Armee wird versuchen, das auch weiterhin zu nutzen.
Kremlsprecher Dmitri Peskow räumte ein, es bestehe das Risiko ukrainischer Angriffe auf die Krim. "Es gibt sicherlich Risiken, weil die ukrainische Seite ihre Politik der Organisation von Terroranschlägen fortsetzt", so Peskow am Donnerstag.
Russland reagierte auf die ukrainischen Angriffe bereits mit weiteren Raketenangriffen gegen die Zivilbevölkerung. Putin kündigte an, die Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine fortzusetzen. "Ja, das machen wir. Aber wer hat angefangen?", sagte er am Donnerstag bei einer Veranstaltung im Kreml. Nach seinen Worten ist dies die Antwort Russlands auf eine Explosion an der Brücke zur annektierten Halbinsel Krim und andere Attacken, für die Russland die Ukraine verantwortlich macht.
Wie schon zuvor inszeniert sich der Kreml als Opfer und legitimiert den Beschuss ukrainischer Städte mit militärischen Misserfolgen.
Am Freitag ist in Russland der "Tag des Helden des Vaterlands". Putin feierte schon am Vortag mit Sekt im Kreml und lobte sein Land, weil es trotz des "Lärms im Westen" um den Krieg seinen Kampf fortsetze. Ob dieses Narrativ in der russischen Bevölkerung noch lange zieht, ist ungewiss. Eines ist jedoch klar: Putin braucht dringend ein Ende der militärischen Blamagen.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und rtr