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Asylreform der EU: Wie Brüssel die Migration begrenzen will


Lehren aus 2015
So will die EU auf eine neue Flüchtlingskrise reagieren


28.09.2023Lesedauer: 5 Min.
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Ein Boot der italienischen Küstenwache mit geretteten Geflüchteten zwischen Touristenschiffen (Symbolbild): Einigt sich die EU auf einen Asylkompromiss? (Quelle: Yara Nardi/reuters)

Die Asylreform der EU könnte jahrelange Streitereien in Brüssel beenden. Doch ein Punkt wird weiterhin besonders kontrovers diskutiert. Was plant die EU eigentlich?

2015 und 2016 stand ein Thema in der Europäischen Union ganz oben auf der Agenda: die Flüchtlingskrise. In den Folgejahren wollte man in Brüssel daraus Lehren ziehen, Reformen anschieben, Asylverfahren vereinfachen. Doch die Verhandlungen zogen sich in die Länge, denn immer wieder blockieren Mitgliedsstaaten wichtige Reformen. Nun kommen erneut viele Flüchtlinge über das Mittelmeer und die Ostgrenze in die EU. Und allein aus der Ukraine haben bislang vier Millionen Menschen Schutz vor dem russischen Angriffskrieg gesucht.

An diesem Donnerstag wollen die EU-Staaten bei einem Treffen der Innenminister einen wichtigen Schritt für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gehen. Bislang blockierte Deutschland eine Einigung, über den geplanten Krisenmechanismus stritt die Ampel wochenlang. Die Grünen sperrten sich gegen eine Zustimmung – bis Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am vergangenen Mittwoch ein Machtwort sprach. Mehr dazu lesen Sie hier.

"Obwohl wir noch weiteren Änderungsbedarf hätten und auch darüber hinaus, werden wir heute unserer Verantwortung gerecht", begründete Innenministerin Nancy Faeser am Rande des Treffens in Brüssel ihre Zustimmung zum Asylkompromiss. Was genau plant die EU mit ihrer Reform des Asylsystems? Und warum gestalten sich die Verhandlungen so schwierig? t-online gibt einen Überblick.

Worum geht es bei der Reform des Asylsystems?

Ziel ist es, die Zahl der Zuwanderer zu reduzieren und die Behandlung von Asylsuchenden europaweit anzugleichen. Zudem will die EU Sogfaktoren, also besondere Anreize für Zuwanderer, und sogenannte Sekundärmigration unterbinden. Letzteres bezieht sich auf Flüchtlinge, die in einem Staat registriert werden, aber in einen anderen weiterreisen und dort Asyl beantragen.

Ein Kernstück der Reform sind die Neuregelungen an den Außengrenzen. Dort sollen künftig alle irregulär eingereisten Migranten systematisch registriert werden. Neben diesem sogenannten Screening sollen Migranten mit wenig Chancen auf Asyl in beschleunigte Asylverfahren kommen – um die Person im Zweifelsfall schnell wieder abschieben zu können. Dafür sind zwölf Wochen vorgesehen, in denen die Personen an der Grenze unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden könnten.

Die EU-Staaten haben sich auf diesen Rahmen bereits im Juni geeinigt. Nun geht es noch um weitere Punkte, vor allem um die umstrittene Krisenverordnung. Das Parlament hatte die Verhandlungen über die Reform ausgesetzt, bis die Staaten sich dort auf eine gemeinsame Position einigen können.

Was hat es mit der umstrittenen Krisenverordnung auf sich?

In Krisenfällen ist ein schärferes Vorgehen an der Grenze vorgesehen. So sollen deutlich mehr Migranten direkt an den Außengrenzen Verfahren durchlaufen und auch direkt dort abgewiesen werden können. Dazu könnten Menschen nach bisherigen Plänen bis zu 20 Wochen in Lagern an den EU-Außengrenzen festgehalten werden – selbst wenn sie gute Chancen auf Asyl haben. Zudem wären Mitgliedsstaaten nicht mehr verpflichtet, Asylbewerber wieder aufzunehmen, wenn diese in einen anderen EU-Staat weiterreisen.

Die Verordnung soll für "Situationen höherer Gewalt" gelten: Ein Beispiel dafür wäre die Corona-Pandemie, die in Deutschland eine Rückkehr zu massiven Grenzkontrollen auslöste.

Einmal in der EU angekommen, könnten sich zudem die Lebensbedingungen der Geflüchteten insgesamt verschlechtern. Die Standards für ihre Unterbringung und Versorgung würden nach derzeitigen Plänen im Krisenfall – und nur, wenn die EU-Kommission diesen offiziell ausruft – herabgesetzt werden.

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Wer ist gegen die Krisenverordnung?

Bisher blockieren mehrere Staaten die Einigung: Polen, Ungarn, Tschechien und Österreich stimmten im Juli dagegen, weil ihnen die Pläne nicht weit genug gingen. Deutschland, die Niederlande und die Slowakei enthielten sich. Für die Regelung braucht es allerdings keine Einstimmigkeit, es reicht eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat.

Das heißt, es müssen mindestens 15 EU-Staaten zustimmen, die 65 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentieren. Als EU-Land mit der größten Bevölkerung kommt der deutschen Stimme besonderes Gewicht zu.

Warum ist die Krisenverordnung in Deutschland so umstritten?

Besonders die Grünen, aber auch Dutzende Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften haben sich zuletzt vehement gegen den Beschluss der Krisenverordnung ausgesprochen. Befürchtet wird, dass die Menschenrechte an der EU-Außengrenze erheblich darunter leiden. Wegen des Streits in der Bundesregierung hat sich Deutschland bislang im Ministerrat enthalten. Das Machtwort von Kanzler Scholz am Mittwoch hebt die Blockade auf.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hatte ihre Kritik an der Krisenverordnung in den vergangenen Tagen nochmals erneuert – und eine neue Begründung dafür geliefert. So schrieb die Grünen-Politikerin am Wochenende ohne Erklärungen im Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter): "Statt geordneter Verfahren würde insbesondere das große Ermessen, das die aktuelle Krisenverordnung für den Krisenfall einräumt, de facto wieder Anreize für eine Weiterleitung großer Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach Deutschland setzen."

Zudem kritisierte sie, eine zusätzliche Krisenverordnung "nachzuschieben", drohe neue geordnete Verfahren "durch die Hintertür" kaputtzumachen – obwohl der grundlegende Vorschlag der EU-Kommission dazu bereits seit September 2020 auf dem Tisch liegt. Scholz' Machtwort nahm man im Auswärtigen Amt dennoch nicht als Niederlage auf: "Jetzt wird in Brüssel endlich richtig verhandelt", hieß es am Mittwoch aus Baerbocks Ministerium.

Was ist dran an Baerbocks Kritik?

Baerbocks Aussagen zur Krisenverordnung zielen darauf ab, dass bestimmte Regeln im Krisenfall nicht mehr gelten werden. Normalerweise gilt in der EU das sogenannte Dublin-Verfahren: Für Asylbewerber ist demnach immer der Staat verantwortlich, in dem sich die Menschen zuerst registrieren. Beantragen sie nach ihrer Registrierung in einem anderen Staat Asyl, müssten sie eigentlich zurückgeschickt werden. In der Praxis funktioniert das allerdings derzeit kaum. Beispiel Italien: Viele Migranten werden nicht registriert und reisen unerkannt weiter nach Norden. Die angestrebte Reform soll das eigentlich verbessern.

Die Grünen befürchten nun, dass die Krisenverordnung das wieder außer Kraft setzt und die Staaten mit Außengrenze "die Leute einfach durchlotsen nach Deutschland", wie es Parteichef Omid Nouripour am Mittwoch im Fernsehsender Welt ausdrückte. "Das ist gerade für Deutschland eine Chaos-Verordnung, und das können wir doch nicht wollen."

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Der Chef der EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber, widerspricht: "Das ist keine reale Gefahr", sagte er dem Deutschlandfunk am Donnerstag. Bei der Reform des Asylrechts handle es sich um ein "Gesamtpaket", so der CSU-Politiker. "Das wird auch nur gelingen, wenn alle Bestandteile der Migrationsfrage miteinander gelöst werden."

Warum will die EU jetzt schnell Nägel mit Köpfen machen?

Dafür gibt es gleich zwei Gründe. Einerseits steigt die Zahl der Asylanträge aktuell stark an. Dass die EU bis jetzt noch keine zufriedenstellende Lösung für einen Asylkompromiss beschlossen hat, könnte also – bei weiter steigenden Zahlen – erneut zu einer Überlastung des Systems wie in den Jahren 2015 und 2016 führen.

Im ersten Halbjahr 2023 kletterte ihre Zahl in der EU auf 519.000, ein Anstieg von 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Darüber hinaus genießen nach Angaben der EU-Asylagentur aktuell rund vier Millionen Ukrainer vorübergehenden Schutz, wegen einer Sonderregel müssen sie kein Asyl beantragen. Im Gesamtjahr 2022 beantragten rund 966.000 Menschen Asyl in der EU, der höchste Wert seit 2016. Zur Einordnung ist aber genauso wichtig: Nach Angaben der EU-Kommission lag 2022 der Anteil der Flüchtlinge an der Gesamtbevölkerung bei 1,5 Prozent.

Zudem steht im kommenden Juni die Europawahl an. Angesichts des derzeitigen Rechtsrucks in Europa nach nationalen Wahlen etwa in Italien ist die Befürchtung groß, dass radikale Kräfte innerhalb der EU an Macht gewinnen. Eine Einigung auf Kompromisse im Asylsystem könnte dann in weite Ferne rücken.

Verwendete Quellen
  • consilium.europa.eu: "Asyl- und Migrationsvorschriften der EU"
  • deutschlandfunk.de: "Manfred Weber (CSU), Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament, im Gespräch mit Friedbert Meurer"
  • welt.de: "'Das ist gerade für Deutschland eine Chaos-Verordnung. Das können wir doch nicht wollen'"
  • tagesschau.de: "Warum die Asylreform nun möglich ist"
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und AFP
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