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Katarina Barley über Brexit: "Würde zweites Referendum nicht ausschließen"


Barley über Brexit
"Würde zweites Referendum gar nicht ausschließen"

InterviewVon Peter Riesbeck

Aktualisiert am 16.10.2019Lesedauer: 5 Min.
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Katarina Barley: Die SPD-Politikerin wechselte aus dem Bundesjustizministerium ins Europaparlament. (Archivbild)Vergrößern des Bildes
Katarina Barley: Die SPD-Politikerin wechselte aus dem Bundesjustizministerium ins Europaparlament. (Archivbild) (Quelle: Janine Schmitz/imago-images-bilder)

Der EU-Gipel ist vielleicht die letzte Chance, um einen ungeregelten Brexit zu verhindern. Die deutsch-britische Europaabgeordnete Katarina Barley hofft noch auf eine Lösung – und auf Boris Johnson.

Katarina Barley wuchs in Köln als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter auf. Nach ihrem Studium machte die Spitzenjuristin rasch in der SPD Karriere. Inzwischen sitzt die ehemalige Bundesjustizministerin als Vizepräsidentin im Europaparlament.

Im Interview spricht Barley über britische Eigenheiten, den Brexit – und darüber, wie sich die EU nach Großbritanniens Ausstieg neu aufstellen kann.

Frau Barley, rund um den EU-Gipfel laufen emsige Brexit-Verhandlungen. Es geht darum, einen Modus zu finden, um die Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und der Republik Irland offen zu halten und damit einen No-Deal-Brexit doch noch zu verhindern. Warum wächst der Optimismus?

Katarina Barley: Das entscheidende Zeichen ist, dass der britische Premierminister Boris Johnson und der irische Regierungschef Leo Varadkar in der Vorwoche bei einem Treffen über Grundzüge einer möglichen Lösung geredet haben. Dabei geht es um eine Zollpartnerschaft der britischen Region Nordirland mit der EU, wie sie mit Johnsons Vorgängerin Theresa May schon einmal angedacht worden war. Dass über Details wenig nach draußen dringt, ist normal. Insofern bin ich verhalten optimistisch.

Seit drei Jahren wird über die Ausstiegsmodalitäten zwischen der EU und Großbritannien verhandelt. Sonst droht am 31. Oktober ein ungeregelter Austritt ohne Vertrag. Ist eine komplizierte juristische Regelung in dieser kurzen Zeit überhaupt zu schaffen?

Ob das nun ein juristisch fertiger Vertragstext ist, lasse ich dahingestellt. Die Chancen stehen aber nicht so schlecht, eine grundsätzliche politische Lösung in der Nordirland-Frage zu erzielen. Mit zwei unabdingbaren Punkten: einer offenen Grenze zwischen Irland und Nordirland und der Integrität des europäischen Binnenmarkts. Wenn es dazu noch ein wenig mehr Zeit benötigt, wird die EU diese Frist gewähren.

Auf dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag beraten die Staats- und Regierungschefs über die Modalitäten des britischen Austritts. Ohne Vertrag droht ein ungeregelter Austritt des Vereinigten Königreichs zum 31. Oktober. Die jüngsten Gespräche zwischen der EU und Großbritannien fokussieren sich auf eine Zollpartnerschaft, um eine harte Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland zu verhindern. Für Waren, die nach Nordirland eingeführt werden, würden demnach die gleichen Zollsätze gelten wie in der EU. Nordirische Zolleinnahmen für Waren, die nach Irland weitertransportiert werden, würden an die EU abgeführt. Das Problem: Erstmals würde die EU mit Großbritannien ein Nicht-Mitglied mit dem Einnehmen eigener Zölle betrauen. Auch für den britischen Premierminister Boris Johnson birgt die Lösung eine Gefahr. Zwischen Nordirland und dem britischen Festland würde eine imaginäre Zollgrenze entstehen. Kritiker fürchten eine schleichende Abtrennung der Provinz vom Vereinigten Königreich.

Nach vielen Wendungen im Brexit-Streit, zwei Wechseln im Amt des britischen Premierministers und der kurzen Hoffnung auf ein zweites Referendum steht für Sie aber fest, dass Großbritannien die EU verlässt?

Der Abschied scheint wohl zu kommen. Aber ich würde ein zweites Referendum gar nicht ausschließen. Boris Johnson hat einen Vorteil: Er ist der Einzige, der die Brexit-Befürworter davon überzeugen kann, dass ein gefundener Deal der einzig gangbare Weg ist. Das gilt für das britische Unterhaus, aber eventuell auch für eine zweite Volksabstimmung.

Ein neues Referendum könnte eine friedensstiftende Wirkung haben. Vielleicht verknüpft Johnson die Abstimmung aber auch mit einer vorgezogenen Parlamentswahl. Bei all seinen Schwächen und seinem unberechenbaren Politikstil ist er vielleicht derjenige, der eine mit der EU erzielte Brexit-Vereinbarung innenpolitisch auch durchbringen kann.

Ihr Vater kommt aus Großbritannien, Ihre Mutter aus Deutschland. Sie kennen beide Welten. Was verliert die EU, wenn die Briten gehen?

Trotz der ganzen innenpolitischen Wirren, die wir in den vergangenen Monaten in Großbritannien erlebt haben: Großbritannien bleibt das Mutterland der modernen Demokratie und des Parlamentarismus. Das jüngste Urteil des britischen Supreme Court gegen die Aussetzung des Parlaments ist ein Beleg für die britische Tradition des Rechtsstaats. Das alles werden wir vermissen.

Es geht aber auch um britischen Humor und Gelassenheit sowie den sprichwörtlichen Pragmatismus. Das erlebe ich hier im Europäischen Parlament immer wieder und auf diesen Pragmatismus hoffe ich auch in der finalen Phase der Brexit-Verhandlungen.

Was bedeutet der britische Abschied für Deutschland, gerade auch mit Blick auf den außenpolitisch-militärischen Beitrag, den Großbritannien in der Vergangenheit in der EU geleistet hat?

Die Briten verfügen über eine enorme Weltläufigkeit, über diplomatisches Geschick und militärische Schlagkraft. Im Gegensatz zu Deutschland stehen sie wie Frankreich auch in der Tradition, auf das Militär zu setzen. Militärische Stärke bedeutet in der Außenpolitik noch immer viel Einfluss. Allgemein wären die Mitgliedsstaaten gut beraten, der EU mehr Kompetenzen im Bereich Außenpolitik und Verteidigung zu übertragen und vor allem das Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik abzuschaffen. Ein aktuelles Beispiel für die Notwendigkeit ist die Situation in Nordsyrien.

Die EU-Staaten mühen sich um eine gemeinsame Linie mit Blick auf Erdogans Vorgehen in Syrien. Welche Erwartungen haben Sie an den Gipfel?

Bisher konnten sich die EU-Minister nicht auf ein gesamteuropäisches Waffenembargo einigen. Manche EU-Staaten, darunter Deutschland, haben jedoch bereits Waffenexportverbote verhängt. Meine Erwartung ist eine Einigung der Mitgliedstaaten, dass wir jetzt eine gemeinsame, entschiedene Antwort auf die türkische Militäroffensive brauchen. Eine solche Antwort wären ein EU-weiter Stopp von Waffenlieferungen und zielgerichtete europäische Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei. Beide Punkte müssen Thema auf dem Gipfel sein.

Die Verhandlungen mit Großbritannien haben viel politische Schlagkraft gebunden. Welche Aufgaben sind liegen geblieben, an die sich die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen jetzt machen muss?

Auch wenn das Team um Chefunterhändler Michel Barnier in Sachen Brexit unendlich viel verhandelt hat, bleibt festzustellen: Die EU war und ist trotz Brexits handlungsfähig.

Der Brexit ist eine Zäsur in der Geschichte der EU. Erstmals verlässt ein EU-Mitglied die Gemeinschaft. Was folgt daraus für die EU27?

Dass es erst einmal schwieriger werden wird, der Stimme Europas global Gehör zu verschaffen. Trotz der Annäherung zwischen China und den Vereinigten Staaten droht weiter ein Handelskrieg. Die EU muss in einer sich polarisierenden Welt mehr denn je für ihr Modell des Zusammenlebens einstehen. Dazu gehört der europäische Wohlfahrtsstaat und das umfasst den Grundsatz: Diplomatie und Stärke des Rechts statt Einschüchterungen und Recht des Stärkeren.

Ein weiteres Stichwort ist die Digitalisierung und Datensouveränität. Die EU hat mit der Datenschutz-Grundverordnung klargemacht, dass es dabei nicht allein um Technik, sondern auch um den Menschen geht. Wir haben mit dieser Regelung ein echtes Exportmodell entwickelt. Und schließlich geht es um unsere europäischen Kernwerte. Demokratie, Rechtsstaat und Zusammenarbeit auf der Basis des Vertrauens. Da kann die EU ein absolutes Vorbild für andere Regionen der Welt sein.

Sie haben den Rechtsstaat mehrfach angesprochen. Eine Frage an die ehemalige Justizministerin: Befürworten Sie, dass die EU-Kommission Polen wegen der Justizreform vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg verklagt?

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Mitgliedstaaten wie Polen, die versuchen den Rechtsstaat zu unterminieren, das schärfste Schwert sind. Das Artikel-7-Verfahren – also der Entzug von Stimmrechten bei EU-Beschlüssen – ist weitgehend wirkungslos, weil schon ein einziges Land den ganzen Prozess per Veto stoppen kann. Deshalb ist die Klage der EU-Kommission vor dem Gerichtshof konsequent.

Wir müssen aber auch neue Wege beschreiten. Die neue EU-Kommission will ein jährliches Monitoring zur Unabhängigkeit der Justiz in allen Mitgliedstaaten voranbringen. Das halte ich für richtig. Zudem bin ich der Meinung, wir sollten im Rahmen der Debatte über den nächsten Finanzrahmen der EU stärker darauf dringen, europäische Fördergelder an die Einhaltung von Rechtsstandards zu binden. Wer von der EU finanziell profitiert, sollte auch ihre Werte achten.

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Ihre Einschätzung für den Gipfel: Kann eine Einigung gelingen?

Mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Monate habe ich es mir abgewöhnt, Prognosen zum Brexit abzugeben. Mein Eindruck ist: Wir werden vor dem 31. Oktober in den Verhandlungen noch einen großen Schritt nach vorne gehen. Die politischen Konturen für eine Einigung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich werden bis dahin sichtbar. Und das wird auch Zeit.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Katarina Barley
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